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F.G.S.

Private Aufzeichnungen

London

Frühjahr 1937

21. Mai 37

So klein und eng zu schreiben, widerstrebt mir. Eigentlich bin ich darauf ausgelegt, die Dinge im Raum – oder doch wenigstens mit Raum – wirken zu lassen. Und natürlich kann keine Rede davon sein, Papier zu sparen. Vor einiger Zeit zeigte mir ein ergrauter Musikerfreund die Ablichtung einer Bachschen Notenhandschrift: jeder Zipfel Papier genutzt. Wie immens teuer muss Papier gewesen sein. Nein, obwohl es natürlich lächerlich ist, möchte ich mit der Illusion in diese schmale Kladde schreiben, im Falle irgendwelcher Mitleser durch die gewollte Verzahnung der Wortkörper ein bisschen geschützter zu sein. Quatsch. Immerhin aber wird sich so der Umfang meiner Aufzeichnungen buchstäblich verdichten und mir als Lastenträger meiner eigenen Gedanken das Gefühl vermitteln, mich einigermaßen auf das Wesentliche zu beschränken.

Ich bin seit drei, vier Jahren in einer Weise ratlos, die mich, sollte das noch möglich sein, in stetig zunehmendem Maße quält. Vielleicht hilft es mir ja weiter, mich meiner inneren Anschauung vorübergehend zu entfremden, indem ich die unaufhörlichen argumentativen Schiebereien nach außen dränge. Was immer sich am Ende entscheidet, ich werde mich gegenlesen und mir selbst auf den Fersen sein können.

Es grenzt an ein Wunder, dass ich diese Möglichkeit erhielt, ohne mich im Mindesten moralisch verrenkt zu haben. Allein der Umstand, dass wegen einer krankheitsbedingten Absage ein Platz in der Gruppe frei geworden war, reichte offenbar dazu aus, mich als Ersatzmann zu benennen. Keine Fragen, weder Erklärungen noch Offenbarungen, keine persönliche Versicherung zu, keine Unterschrift unter irgendetwas, nichts. Es ist mir auch jetzt noch ein Rätsel, denn ich gehöre ja keiner Institution und keiner staatlichen Gliederung an, die mich ihrerseits hätten begünstigen können. Und auf der geheimen Liste des gern zitierten Schicksals stand ich bislang noch nie, ebenso wenig wie ich mir vorstellen möchte oder vorstellen kann, eine mir nicht bekannte einflussreiche Person habe ihre Hand über mich gehalten. Andersherum, Glück zu haben und nur dem Glück allein verpflichtet zu sein, bewirkt ein völlig unbekanntes Gefühl von plötzlichem Luxus in mir.

Und dieser Luxus kulminierte erst hier vor Ort, als ich – rechtzeitig vor ihrem Ende – so gut wie problemlos der vierzehntägigen Studienreise sechs Wochen individueller Vertiefung anhängen konnte. Zum Abschied schüttelte ich den neun Kollegen die Hand (alle waren freundlich und zeigten keinerlei Verdacht), sah sie dann gemeinsam verschwinden und kurz darauf den Zug nach Southampton abfahren. Ich selbst blieb am Perron von Waterloo Station allein zurück und kam mir – nur für den Bruchteil eines Augenblicks – wie ein undankbarer Verschwörer vor.

Doch schon im Umdrehen griff mir ein Maiwind unter Mantel und Seele, und es kreuzte ein herrlich leichtsinniges Gefühl von Freiheit in mir auf. Ich machte mir bedenkenlos den Spaß, mehr als nur einige Schritte neben zwei gut gelaunten Mädchen herzugehen, die unentwegt lachten. In meiner Vorstellung hakte ich sie links und rechts unter. Doch sie entdeckten mich nicht, und so ließ ich mich bald in eine dieser Londoner Autodroschken fallen, – wie große Tiere kommen sie mir vor, in deren Mitte man Platz nimmt. Ich schickte es zur Strand, wo ich an der belebtesten Stelle ausstieg. Menschen, Menschen, – ich wollte so viele wie möglich um mich haben und so vollständig wie nur möglich unter ihnen verschwinden. Mit allen Fasern meiner fünfunddreißig Jahre leben, je unbekannter, umso lieber. Ein Rausch. Mein Rausch, den ich in einem Pub nahe Covent Garden, inzwischen ruhiger in meiner Freude eingerichtet, mit Ale und einer schwarzen Zigarre feierte.

Ich zog weiter, wühlte, ohne die nötige Ruhe, in zwei Antiquariaten (Cecil Court), fischte ein hübsches Bändchen Milton aus dem Regal und stellte es, als ich den Preis erfuhr, diskret wieder zurück, dennoch: ›you’re welcome‹, keine Blessur meiner Eitelkeit. Und nur um die Strecke zu strecken und mein Hochgefühl ganz in die Zeit hineinzutreten, trank ich in einer Bar noch einen – ziemlich schlechten – Kaffee und genehmigte mir ein Zigarillo aus meiner nicht mehr ganz so eisern verwalteten Reserve.

Eine meiner kleinen Naturbegabungen besteht darin, mich in großen Städten gleich orientieren zu können. Das und mein fast photographisches Gedächtnis für Landkarten und Stadtpläne vermindern die Chance, mich zu verlaufen (und wie gern hätte ich es in dieser Situation getan, immer im Magnetfeld des Verheißungsvollen), – jedenfalls befand ich mich vorgestern gradlinig und rasch in meiner kleinen möblierten Wohnung in der Bernard Street, Bloomsbury, die mir durch einen hiesigen Kollegen von einem Tag auf den andern vermittelt worden war.

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