Читать книгу ORGANE - Hannes Wildecker - Страница 5
Prolog
ОглавлениеDer lauwarme Maiwind wehte durch die Wipfel der stämmigen und knorrigen Eichen am Fuße des Hunsrücker Hochwalds und ließ die Wipfel der hohen Bäume wie in leichtem Tanze wiegen. Es schien, als wäre ihnen bewusst, dass in den nächsten Stunden einige unter ihnen aus ihrer Mitte gerissen würden und ihr Totentanz, gleich einem Winken mit ausgestrecktem Arm, sei der leise Abschied von ihren Artgenossen.
„Also, Leute, gebt mir ja acht, dass der Baum keinen Schaden erleidet. Er darf auf keinen Fall gegen den Steinhügel schlagen!“
Steinhügel war etwas untertrieben. Immerhin war der Felsen, den Forstwirt Herbert Keller während seiner Arbeitsausführung als Hindernis empfand, über zwanzig Meter hoch und bestand, zumindest dem Anschein nach, aus zahlreichen einzelnen Steinhügeln mit dunklen ausgewaschenen Stellen und wiederum darin enthaltenen weißen Flächen mit milchweißen Kristallen.
Keller schaute mit gesenktem Kopf aus den Augenwinkeln in Richtung des steinernen Ungetüms, als wolle er es mit einem bösen Blick verbannen. Dass dieser Felsen einen Namen trug und dass er zu einem der beeindruckendsten Naturdenkmäler der Region zählte, das wusste Keller zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Dass Ausflügler hierherkamen, um den Felsen zu erklettern, war ihm schon bekannt. Er hatte es sogar während der Arbeitszeiten hier im Wald selbst miterleben können. Während er und seine Leute sich abrackerten, schickten sich Freizeitsportler an, den Felsen zu erklimmen und manche waren dabei so leichtsinnig, ohne irgendeine Sicherung nach oben zu steigen und so hatte es Keller oftmals den Atem geraubt, wenn er ein solches Unterfangen mit ansehen musste und sich dabei kaum auf seine Arbeit konzentrieren konnte.
Keller, der als kräftiger Mittfünfziger immer noch selbst mit anpackte, sah wieder zu seinen Arbeitern und der Buche hin und sein breites von Sorgenfalten durchzogenes Gesicht schaute nachdenklich drein. Seit einer Woche durchforstete er mit seinen Waldarbeitern den Buchenbestand auf dieser Anhöhe zwischen Hentern und Schillingen, ein Unterfangen, das sich schwieriger gestaltete, als es sich zu Beginn darstellte. Heute am Freitag, dem letzten Arbeitstag der Woche, wollten sie die Arbeit beenden. Dieser Baum noch - und gerade den hatten sie sich aus gutem Grund bis zum Schluss aufgehoben.
Keller sah auf seine Armbanduhr. Nahezu siebzehn Uhr, stellte er fest. Eine Stunde noch, wenn alles so liefe, wie man sich das vorgestellt hatte. Doch da hatte Keller so seine Bedenken.
Da war zum einen das abschüssige Waldgelände, das die angekeilten Bäume nach dem finalen Schnitt nicht immer auf die Stelle fallen ließ, die man sich dafür ausgesucht hatte und zum anderen erwies sich das Gefahrenpotenzial erheblich höher als auf ebenem Gelände.
Die vorgeschriebene Schutzkleidung trug jeder seiner Mitarbeiter und er selbst natürlich auch, angefangen bei der Schutzlatzhose und der dazugehörigen Jacke, wasserdicht und rutschhemmend, Schutzwirkungsklasse zwei, geeignet für eine Kettensägengeschwindigkeit von 24 Metern pro Sekunde, dazu die schnittsicheren Stiefel, die Handschuhe und natürlich der Helm mit bruchfestem Visier. Doch was nützte das alles bei einem unkontrollierten Verspringen des Baumes. Höchste Vorsicht war in jedem Fall geboten.
Kellers Männer taten alles, um die Präzision zu erreichen, die man von ihnen gewohnt war, die sie schon hunderte Male unter Beweis gestellt hatten, doch heute waren sie schier der Verzweiflung nahe. Sie waren erfahrene Leute und sie setzten mit traumwandlerischer Sicherheit die metallenen Keile an den richtigen Stellen an und justierten diese ständig nach, während ein Kollege mit der Motorsäge den Sägeschnitt mehr und mehr vergrößerte, bis das Geräusch der reißenden Bruchkante, die wie das Scharnier einer sich öffnenden Tür den Baum in die Fallrichtung lenkte, erst leise, dann immer lauter werdend mit dem Fall des Baumes in einem berstenden Krachen endete.
Doch bei dieser Buche war das alles irgendwie anders. Sie Er war ein sehr schönes Exemplar, das hatte Keller oft genug betont, doch dann zeigte sich ein Nachteil. Er war im unteren Bereich schief, ja verdreht gewachsen und gerade das machte Keller Sorgen.
Er fasste mit der Linken seinen Sicherheitshelm und nahm ihn vom Kopf. Die schwarzen Haare waren schweißnass und lagen glänzend eng am Kopf an. Keller wischte sich mit dem Jackenärmel über das Gesicht und sah nach oben zum Wipfel der starken Buche. Eine gleichmäßig gewachsene Krone, stellte er zufrieden fest. Sie würde keine Schwierigkeiten bereiten, würde den Baum nicht in eine andere Richtung als die vorgegebene drehen. Auch der Wind verhielt sich ruhig, eigentlich kein Grund zur Sorge, wäre da nicht dieser schiefe Teil im unteren Bereich des Stammes und der Steilhang gewesen.
Keller war Forstmann durch und durch und er liebte seine Arbeit. Über dreißig Jahre arbeitete er im Forst. Mit siebzehn hatte er, der er aus einer traditionellen Holzfällerfamilie stammte, seine Lehre begonnen und war seit dieser Zeit im Wald wie zuhause.
„Wenn der Baum auf den Felsen fällt, ist er hin.“ Keller wiederholte sich und sah seinen Vorarbeiter, Walter Reinig, fragend an. Reinig war etwa in seinem Alter, etwas schwerfällig und seine Einstellung zur Arbeit ließ zu wünschen übrig, darüber hatte sich Keller schon des Öfteren geärgert.
So fiel auch seine Antwort aus. „Es gibt Schlimmeres“, antwortete er und Keller zuckte zusammen.
„Was ist das denn für eine Einstellung“, dachte er bei sich und laut sagte er: „Aber den Baum werden wir als Möbelholz dann wohl kaum noch verkaufen können.“
Keller sah sich den Felsenhügel an. Gute fünfzehn Meter, vielleicht sogar zwanzig mochte er hoch sein und, obwohl er tiefer im Abhang begann, konnte er die Beschaffenheit seines Plateaus nicht einsehen.
Eigentlich bestand der riesige Fels aus einem Stück des harten Gesteins, doch an den Seiten wölbten sich vom Regen rund gewaschene Vorsprünge und gegensätzlich dazu kantige und scharf geschliffene Grate, die einem mit ihnen kollidierenden Baum schon sehr zusetzen konnten.
Die Fäller hatten den Baum inzwischen so weit, dass es nur noch einiger Schläge und eines letzten Schnitts bedurfte, den Waldriesen zu Fall zu bringen. Die Männer schauten erwartungsvoll zu Keller, der schließlich mit dem Kopf nickte.
„Denkt an die Sicherheit!“, rief er ihnen zu, um dann in den Wald hinein zu rufen: „Baum fällt!“
Und dann kam es, wie es kommen musste.
„Verdammte Schei…!“ Der Rest des laut gerufenen Fluches von Keller ging im Krachen und Bersten des fallenden Baumes unter, der sich unter den ungläubig dreinschauenden Augen der ihn zu Fall bringenden Holzhauer leicht aus dem „Scharnier“ drehte und im Fall vehement seine Richtung änderte, geradezu auf den riesigen Felsbrocken zu, um ihn, begleitet von einem knochenbrecherischen Geräusch, mit seiner vollen Länge zu treffen. Der Schlag war so stark, dass der elastische Wipfel, der über den Felsen ragte, durch die Hebelwirkung abbrach und auf der gegenüberliegenden Seite des Massivs in die Tiefe stürzte.
Dann herrschte plötzlich absolute Ruhe. Für ein paar Sekunden schien die Welt still zu stehen. Alle Beteiligten schauten zu dem Baum, der keine Anstalten machte, von dem Felsen abzurutschen und den Hang hinunter zu stürzen. Wie in Zeitlupe wippten seine gewaltigen Äste noch ein paar Mal auf und nieder, dann lag er still, der Koloss, so, als habe er soeben nach kurzem Todeskampf sein Leben ausgehaucht.
Nun kam auch wieder Leben in die Männer.
„Wir müssen retten, was zu retten ist“, rief Keller seinen Männern zu. „Wir müssen den Baum in den Hang legen.“
„Dazu müsste einer von uns auf den Felsen klettern, um die Baumspitze mit einem Strick zu versehen.“ Walter Reinig kam auf Keller zu und betrachtete mit diesem gemeinsam die Situation. „Wir könnten an der Krone, ich meine, an dem Teil unterhalb der abgebrochenen Krone einen Strick befestigen, ihn mit vereinten Kräften an der Spitze nach unten auf den Boden ziehen.“
Keller nickte gedankenverloren. So etwas war ihm schon lange nicht mehr passiert, ihm, der er sich selbst für einen alten Hasen hielt, der jeden Trick in der Holzfällerei kannte. Er schüttelte den Kopf.
„Du bist anderer Meinung?“ Reinig sah seinen Kollegen von der Seite an.
„Nein, nein, das ist schon richtig so. Ich war in Gedanken. Du hast ja Recht. Kümmere dich bitte darum. Ein Mann soll da hochklettern!“
Dann besah sich Keller den Felsen, den er bis dahin mehr oder weniger ignoriert hatte, an, wobei er ihn mit seinen Augen von oben bis unten abtastete.
„Der sieht aus wie eine Anhäufung von Felsen“, dachte Keller. „Der scheint nicht aus einem Stück zu sein und dennoch hat die Wucht des Baumes es nicht geschafft, Teile davon abzusprengen. Muss schon ein hartes Mineral sein.“
Sein Blick folgte der Unregelmäßigkeit des Gebildes bis zu dessen Spitze, die aussah, als hätte man eine Figur bilden wollen und als Abschluss einen Kopf obenauf gesetzt. Dennoch musste dort oben noch ein kleines Plateau sein, denn die Wanderer, die er beobachtet hatten, machten es sich gerade neben diesem „Kopf“ gemütlich, hielten eine Brotzeit und ließen die Beine nach unten baumeln.
Inzwischen hatte Walter Reinig kurz mit der Gruppe Männern gesprochen. Schließlich nickte ein junger Arbeiter kurz mit dem Kopf und trat vor. Er war Mitte zwanzig, klein sportlich und drahtig, mit dunklen gewellten Haaren, einem schmalen Oberlippenbart und … er hatte ausgeprägte O-Beine.
Für ihn würde der Aufstieg kein Problem darstellen. Er legte seine Schutzkleidung, die nur hinderlich gewesen wäre, ab, warf sich die Rolle mit dem gut 30 Meter langen Seil über die Schulter und begann den Aufstieg, den ihm die fest an dem Felsen anliegende Buche leichtmachte. Seine gebogenen Beine erinnerten an Steigeisen, wie sie Arbeiter der Post beim Besteigen von Telefonmasten verwendeten.
Innerhalb kurzer Zeit kam der Mann auf dem Plateau an. Doch er machte keine Anstalten, mit seiner Arbeit dort oben zu beginnen. Er stand wie angewurzelt und Keller hatte schon Bedenken, dass der Mann nicht schwindelfrei sei.
„Das hätte man ihn doch zumindest fragen können“, dachte Keller und sah Reinig, der, den Helm in der linken sich mit der freien Hand durch das schüttere Haar fuhr, von der Seite her vorwurfsvoll an.
Doch plötzlich kam Bewegung in den Mann auf dem Felsen. In Windeseile band er das Seil um den abgebrochenen Kronenstumpf, zurrte kurz an dem Seil und ließ sich, mit den Füßen am Felsen abstoßend, an dem Seil nach unten gleiten, die ihm ins Gesicht schlagenden Astenden ignorierend.
Dann stand er schwer atmend vor Keller und Reinig und in seinen Augen war etwas, was die beiden erschrecken ließ.
„Was ist los?“ Keller sah den Mann verständnislos an. „Sie sehen aus, als hätten Sie ein Gespenst gesehen.“
Der Mann, dem tatsächlich alles Blut aus dem Gesicht gewichen war, versuchte seine Atmung in den Griff zu bekommen und zeigte mit seinem rechten Arm nach oben, den Blick nicht von Keller wendend.
„Da oben…!“
„Was ist da oben?“
„Da liegt einer!“
„Wo?“
„Na da oben…da oben liegt einer!“
„Wie, da oben liegt einer?“
„Da…da liegt einer. Ich glaube…der ist tot.“
„Was reden Sie da? Ein Toter? Wie soll ein Toter da oben hinkommen?“
Dann dachte er an die zahlreichen Wanderer, die diesen Felsen an vielen Tagen des Sommers bestiegen. Vielleicht war einer alleine dort hinaufgestiegen und einem Herzinfarkt oder sonst etwas erlegen.
Er wandte sich an Reinig. „Sieh bitte nach da oben, Klaus! Nein, besser, du bleibst hier unten, wegen der Spuren. Ich verständige Polizei und Notarzt. Vielleicht lebt er ja noch.“
„Er lebt nicht mehr“, meldete sich der Arbeiter, der sich mit zitternden Händen eine Zigarette anzündete, obwohl er genau wissen musste, dass dies im Wald ausdrücklich verboten war. Keller, der so etwas unter normalen Umständen mit aller Strenge geahndet hätte, ließ es geschehen.
„Wieso sind Sie sich da so sicher? Sie haben sich doch kaum dort oben aufgehalten.“
Der Mann blickte nach oben zur Felsspitze. „Es hat gereicht, um das festzustellen“, sagte er und sog gierig an seiner Zigarette. „Wenn man kein Herz mehr im Leib hat, dann muss man tot sein.“