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2. Kapitel
ОглавлениеDer alte Opel Astra fauchte und spuckte, als ich ihm auf dem mit Schotter übersäten Waldweg hinter Hentern den steilen Hang hinauf die Sporen gab. Ich nahm meist meinen Privatwagen zum Tatort mit, wenn ich beispielsweise am Wochenende Bereitschaft hatte und zuhause in Forstenau darauf hoffte, dass es ein ruhiges Wochenende werden würde.
Ich hing an meinem Gefährt, das mir nun schon 17 Jahre lang treue Dienste erwiesen hatte und mir wie ein Freund geworden war. Und genauso behandelte ich das Fahrzeug auch. Bei Extremsituationen wie dieser heute redete ich meinem Gefährt zu wie ein Reiter seinem Pferd, wenn es vor einem Oxer stand und den Dienst zu verweigern beabsichtigte.
„Auf, alter Junge, wir schaffen das schon!“, rief ich und klammerte meine Hände mit aller Kraft um das Lenkrad, als sollte sich meine Kraft auf die des arg strapazierten Motors übertragen.
„Es geht doch!“, rief ich erleichtert, als ich das Plateau erreicht hatte, hielt den Wagen an, kurbelte das Fenster der Fahrerseite herunter und sog die frische Waldluft, die den Innenraum des Autos zu überfluten gedachte, mit tiefen Atemzügen ein.
Ich war immer wieder von Neuem von der Natur des Hunsrücks begeistert, von seiner Frische, der Vielfalt der Pflanzen, den herrlichen Farben und der Ruhe, die ich in meiner Freizeit nicht selten mitten in den Bäumen des Waldes suchte. Diese Leidenschaft teilte auch meine Lebensgefährtin Lisa mit mir, die sich von mir gerne mal hierher mal dorthin in die Regionen des Hunsrücks entführen ließ.
Ich nestelte mein Handy hervor, das ich wieder einmal in meiner Hosentasche verstaut hatte, wozu ich erst einmal den Sicherheitsgurt lösen und mich zur Seite wälzen musste, um überhaupt in die Tasche zu gelangen und wählte die von Wittenstein angegebene Nummer. Es dauerte eine Weile, dann meldete sich Helmut Leuck von der Polizeiinspektion Saarburg. Er gab mir eine kurze Wegbeschreibung und zehn Minuten später traf ich am Tatort ein.
Tatort war eigentlich zu viel gesagt, denn der lag nach Aussagen der Holzfäller rund zwanzig Meter über dem Standort der Anwesenden.
Ich schaute mich suchend um und sah Leuck, der sich aus einer Gruppe Männer löste, auf mich zukommen.
„Der Tote liegt da oben“, sagte er und zeigte mit dem Finger nach oben, zur Spitze des riesigen Felsens. „Die Leute hier nennen ihn ‚Fleschfelsen’, weiß der Geier warum. Da drüben stehen die Holzfäller, die ihn gefunden haben.“ Leuck drehte seinen Kopf mit dem dichten grauen Haar zu der Gruppe von Männern, die zum Teil noch in ihren Schutzanzügen steckte.
„Was heißt: gefunden? Dort oben kann man doch nicht so einfach jemanden finden. Wer hatte denn dort oben etwas verloren?“
Leuck runzelte die wettergebräunte Stirn, an deren Anzahl der Falten man wohl erkennen konnte, dass die Pensionierung dieses Beamten nicht mehr fern war.
„Einer von ihnen ist da hochgeklettert. Ein Baum hatte sich in dem Felsen verkeilt und als dort oben ein Seil an der Baumspitze anband, um den Baum zu Fall zu bringen, entdeckte er den Toten.“
„Ist die Feuerwehr verständigt?“
„Nein, wozu?“
„Die Dienststelle soll die Feuerwehr zur Bergung des Toten herbestellen“, sagte ich, ohne mich auf weitere Erklärungen einzulassen. „Ach ja, und dann noch das Übliche: Notarztwagen, Arzt, Leichenbestatter und so weiter. Ist der Tote identifiziert?“
„Ja wie denn. Es war doch noch niemand dort oben.“
„Also her mit der Feuerwehr! Sie soll das Leiterfahrzeug mitbringen, in Saarburg ist doch eines stationiert, soviel ich weiß. Wenn das nicht verfügbar ist, verständigen Sie bitte die Berufsfeuerwehr in Trier!“
Leuck strebte von dannen und ich begab mich zu der Gruppe, in der auch die Holzfäller standen.
„Wer von Ihnen hat den Toten, wenn es denn einen gibt, gefunden?“, fragte ich in die Runde.
„Das war er hier, Theodor Heinen“, meldete sich ein älterer Waldarbeiter und schob den Genannten etwas nach vorne, in meine Richtung. „Er hat…“
„Lassen Sie ihn doch selbst reden“, fuhr ich dem Mann ins Wort. Und zu dem jungen Arbeiter gewandt: „Erzählen Sie mal. Was haben Sie gesehen?“
„Ja, das war so: Wir haben einen Baum gefällt…eine Buche … ein richtig dickes Ding. Doch der Baum fiel nicht so, wie er sollte und hat sich in dem Felsen verkeilt.“
„Der Baum ist fast wertlos geworden dadurch, jedenfalls ist er kein Möbelholz mehr“, warf der ältere, der Heinen nach vorne geschoben hatte, ein.
„Also weiter!“ Ich sah Heinen auffordernd an.
„Ich bin dann hochgeklettert, um ein Seil an die Baumspitze zu binden. Damit wollten wir den Stamm in den Hang legen.“
„Und dann haben sie einen…Toten gesehen?“
Heinen sah zu dem Felsen hinüber und nickte.
„Der Mann da oben liegt so da, als habe man ihn aufgebahrt. Er ist unbekleidet, nackt.“
„Keine Kleidungsstücke da oben?“
„Nur so etwas wie eine schwarze Decke. Liegt allerdings neben dem Mann.“
„Haben Sie etwas Besonderes feststellen können? Verletzungen oder so?“
„Ob ich etwas Besonderes festgestellt habe? Und ob ich das habe! Der Mann hat kein Herz mehr im Leib!“
„Was heißt das: Kein Herz mehr im Leib?“
„Ich war ja nicht so lange da oben, aber das habe ich genau gesehen. Sein Brustkasten ist offen, da ist nichts drin!“
Ich schaute den Mann an, der vor Aufregung und offensichtlich darüber, dass er im Mittelpunkt stand, zitterte, und machte mir meine Gedanken. Wahrscheinlich hatten Raubvögel den Toten, der, auf welche Art auch immer, dort oben hingelangt war angefressen. Aber warum lag der Mann dann da oben?
Ein grauer Pkw näherte sich und als er anhielt, stiegen Heinz Peters und drei weitere Kollegen von der Kriminaltechnik aus.
Peters war so etwas wie ein Urgestein der Spurensicherung beim Polizeipräsidium Trier. Kollegen kamen, Kollegen gingen, doch Peters war immer da und im Geiste rechnete ich schon nach, ob man seine Pensionierung etwa vergessen hatte. Peters war noch einer aus altem Schrot und Korn. Auf ihn hatte ich mich immer verlassen können, an zahlreichen Tatorten hatten wir gemeinsam ermittelt und die fachlichen Kenntnisse auf dem Gebiet der Spurensicherung von Peters hatten nicht selten zur Klärung der Fälle beigetragen.
Ich verließ die Gruppe, ging Peters entgegen und begrüßte ihn freundschaftlich.
„Man sagte mir, ein Toter soll auf irgendeinem Berg liegen.“ Peters sah mich fragend an.
„Ja, das ist eine seltsame Angelegenheit hier. Ich weiß auch noch nicht, was ich davon halten soll.“ Ich zeigte mit dem Arm in Richtung Felsenhügel. „Wir können nichts unternehmen, ehe die Feuerwehr hier ist. Ich habe sie mit der Drehleiter angefordert. Ein Gutes hat das Ganze: Außer uns und dem Arzt wird niemand dort oben sein und Spuren verwischen.“
„Dann bin ich mal gespannt, was uns dort erwartet.“ Peters stellte seinen Spurensicherungskoffer vor sich zwischen seinen Beinen auf der Erde ab und sah sich suchend um.
„Fehlt da nicht jemand? Ist Leni nicht dabei?“
Leni…ja…natürlich! Ich hatte bisher nicht einen Gedanken an Leni Schiffmann verschwendet und mich deshalb auch nicht gewundert, dass sie nicht am Tatort war.
„Man wird sie wohl nicht verständigt haben. Offensichtlich konnte man sie nicht zu Hause erreichen. Vielleicht kommt noch jemand vom Dauerdienst zur Unterstützung.“
„Das hättest Ihr wohl gerne?“, tönte eine Stimme hinter uns und Peters und ich sahen uns an und konnten ein Lachen gerade noch unterdrücken.
Die Stimme gehörte Leni, die in einem eng anliegenden Jeansanzug mit hellen Sportschuhen darunter, auf uns beide zukam. Das brünette Haar, das sie normalerweise locker bis auf die Schultern fallen ließ, hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengefasst. Dazu trug sie eine eher unpassende lederne Umhängetasche, in der sie offensichtlich die dienstlichen Utensilien wie Pistole, Handschellen und Pfefferspray mitführte, abgesehen von den zahlreichen wichtigen Kleinigkeiten, wie sie eine Frau ständig zur Hand haben musste.
„So untätig, wie Ihr hier herumsteht, habt ihr doch sicherlich auf mich gewartet“, flötete Leni. „Aber im Ernst: Wo ist der Tote? Oder gibt`s gar keinen?“
„Doch Leni, es gibt einen.“ Ich zeigte hinauf zu dem Felsenplateau und Lenis Blick folgte meinem gestreckten Arm.
„Da oben? Wie kommt ein Toter da hinauf?“
„Wir werden es hoffentlich bald wissen Die Feuerwehr muss jeden Moment hier eintreffen, dann werden wir nachsehen.“
Ich sah Leni prüfend an. „Du kommst doch mit nach oben?“
„Und ob! Warum sollte ich nicht? Glaubst du, ich habe Höhenangst?“
Ich verkniff mir eine weitere Bemerkung. Höhenangst! Wenn einer die hier hatte, dann war ich das.
„Es fährt aber sonst niemand mit da hoch, ist das klar, Heiner. Nur wir drei! Wegen der Spuren, versteht Ihr? Seht euch mal hier unten um!“, rief Peters seinen Kollegen zu und sah mich und Leni an. „Ich habe das dumpfe Gefühl, dass wir dort oben die Stecknadel im Heuhaufen suchen müssen. Ich meine, es kann ja sein, dass die Leiche schön länger dort oben liegt, das wird uns zu schaffen machen.“
Es dauerte noch rund eine Viertelstunde, bis das rote Feuerwehrauto mit knirschenden Reifen über den geschotterten Weg anrollte. Aus dem Fahrzeug sprangen fast gleichzeitig fünf Feuerwehrleute, die sich sogleich zu den Waldarbeitern gesellten, nur der Fahrer verharrte noch kurz hinter seinem Lenkrad und prüfte die Umgebung, indem er wie ein witterndes Tier nach allen Seiten sah und offensichtlich den besten Ausgangspunkt für den Betrieb der ausfahrbaren Leiter suchte. Doch er schien nicht zufrieden und stieg ebenfalls aus. Ohne die anderen Anwesenden zu beachten, machte er ein paar Schritte in Richtung des Felsens, blieb stehen, nahm seine Arbeitsmütze ab und kratzte sich am Hinterkopf in seinen dichten schwarzen Haaren.
Dann drehte er sich um und begutachtete einen kleinen Waldweg, der in der Nähe des Fahrzeugstandortes in den Wald führte. Offensichtlich behagte ihm die Breite des Weges nicht so richtig, denn er schaute mehrfach zurück zu seinem Fahrzeug, als ob er dessen Breite mit der des Weges vergleichen wollte. Dann schien er einigermaßen zufrieden und ging auf die Gruppe der Wartenden zu, die sein Tun die ganze Zeit über beobachtet hatten.
„Da oben soll ein Toter liegen?“, fragte er und sah wieder den Felsen hinauf.
„Auch angenehm. Mein Name ist Spürmann. Heiner Spürmann und das sind meine Kollegen.“
Ich sah den Feuerwehrmann abwartend an.
„Entschuldigen Sie, ich war ganz in Gedanken mit meiner Einsatzplanung. Bresser mein Name. Martin Bresser von der Freiwilligen Feuerwehr Saarburg. Ich bin heute der Gruppenführer. Ich glaube, wir sollten beginnen, ehe es dunkel wird.“
Es dauerte ungefähr 10 Minuten, dann hatte Bresser sein Gefährt mithilfe seiner Kollegen, die ihn von allen Seiten einwiesen und dirigierten, so platziert, wie es ihm am besten erschien. Während er die Stützen am Ende des Wagens ausfuhr und für einen festen Stand sorgte, warteten Leni, Peters und ich auf das Zeichen, endlich in den Korb einsteigen zu können. Dann war es so weit.
„Dreißig Meter hoch kann er“, sagte Bresser. „Aber die brauchen wir nicht. Ich schätze mal so an die zwanzig Meter. Ich fahre den Korb bis an den Rand des Plateaus. Aber Achtung, dass mir niemand ausrutscht. Da oben ist nicht sehr viel Platz, das kann ich von hier aus sehen.“
Bresser bestieg als letzter den Korb und betätigte den Hebel, der den Mechanismus zur Fahrt nach oben in Gang setzte.
„Ist dir nicht gut?“ Leni sah mich mit zur Seite geneigtem Kopf an und ich glaubte, eine leichte Ironie in ihren Worten zu erkennen. Aber dass ich unter Höhenangst litt, eigentlich schon immer, solange ich zurückdenken konnte, wollte ich ihr nicht unbedingt auf die Nase binden.
„Alles okay“, sagte ich und hielt mich mit Blicken an dem Felsen fest, der unter mir immer unstabiler und über mir so schmal wurde, dass ich glaubte, da gleich nicht hinauszugehen, nicht auf das Plateau des Felsens steigen zu können. Ich würde hinunterfallen, dieses Gefühl überkam mich immer dann, wenn ich mich höher als ein Stockwerk über der Erde befand und der Untergrund, auf dem ich stand, überflüssigerweise auch noch einen Blick durch irgendwelche Ritzen in die Tiefe zuließ.
Bresser drehte den Korb leicht nach links, um an einem kleinen Vorsprung vorbei zu manövrieren und Leni musste mit ansehen, wie ich mich krampfhaft an der Reling des Korbes festhielt und meinen Blick krampfhaft auf den Felsen richtete, um ja nicht nach unten sehen zu müssen.
Leni verkniff sich eine Bemerkung, was ihr schwerfiel, das konnte man erkennen. Doch ihre Gedanken erfuhren eine Ablenkung, denn über das Handsprechfunkgerät des Feuerwehrmannes kam die Meldung, dass der Arzt eingetroffen sei.
„Ich lasse Sie jetzt da oben raus und bringe anschließend den Doktor nach oben“, sagte Bresser und lenkte den Korb an das Ende des Steinwalls und dirigierte ihn noch einen halben Meter weiter auf das Plateau, soweit es eben ging, ohne dass der Ausleger Kontakt bekam.
Und bereits jetzt, noch vor dem Verlassen des Korbes, bot sich uns der von Heinen so dramatisch beschriebene Anblick.
„Da hat einer ganze Arbeit geleistet“, bemerkte Bresser trocken, während er die Sicherung der Korbtür löste und diese öffnete. „Dann mal viel Spaß, ich hole jetzt den Doktor nach oben.“
Langsam bewegte sich der Korb mit Bresser nach unten und wir drei fanden uns alleine auf einem Felsplateau, das gerade einmal die Ausmaße eines kleinen Vorgartens hatte, wieder.
„Lasst mich das mal alleine machen“ bat Peters. „Wir brauchen hier jeden Zentimeter als möglichen Spurenträger.“
Ich nickte, und ließ mich auf einem Stein nieder, während Leni neben mir stehenblieb. Jetzt noch einige Schritte zu machen, würde die Arbeit von Peters gefährden.
„Ich wusste gar nicht, dass du Höhenangst hat“, sagte Leni, während ihre Augen das kleine Plateau bestreiften.
Es war ein Plateau, wie man sich eben ein Plateau vorstellte. Flach eben und geeignet, etwas abzulegen, das nicht wieder nach unten rollte oder fiel. Die Leiche, die dort lag und momentan von Peters verdeckt wurde, rollte weder, noch fiel sie. Das bedeutete, dass diejenigen, die sie dort abgelegt hatten, wissen mussten, dass es hier oben flach war. Von unten konnte man es nur vermuten, na ja, mit einigem Vorstellungsvermögen.
„Ich habe auch Platzangst.“ Ich kratzte mich am Hinterkopf.
„Was meinst du?“ Leni war in Gedanken schon bei der Leiche und hatte ihre Frage bereits vergessen.
„Ich sagte, ich habe nicht nur Höhenangst, ich habe auch Platzangst und ich mache mir jetzt bereits schon Gedanken, wie ich wieder in den verdammten Korb hineinkomme, ohne daran vorbei in die Tiefe zu fallen.“
Peters hatte sich einen ersten Eindruck von der Leiche verschafft und begann, die Umgebung abzusuchen.
„Der Arzt kann sich Zeit lassen“, bemerkte er trocken, während er in kurzen Schritten langsam Zentimeter für Zentimeter des Plateaubodens absuchte.
„Und? Was ist?“ Ich versuchte, mich aufzurichten, setzte mich jedoch gleich wieder hin.
„Es ist ein Mann“, sagte er, während er weitersuchte. „Schätzungsweise zwischen dreißig und vierzig. Dunkle Haut und die Gesichtszüge deuten auf einen Nichtdeutschen hin. Vorderer Orient vielleicht, Türke, Araber, Israeli, wer weiß? Vielleicht aber auch Deutscher mit Migranten – Hintergrund.“
Peters bückte sich und nahm etwas vom Boden auf. Er drehte einen kleinen Gegenstand zwischen seinen Fingern und betrachtete ihn intensiv, um ihn anschließend in einem kleinen Plastikbeutel verschwinden zu lassen.
„So, ich glaube, Ihr könnt jetzt herkommen, Ihr beiden. Ich bin mir sicher, da kommt eine Menge Arbeit auf euch zu.
Es war ein äußerst makabrer Anblick, der mich und Leni dort erwartete. Er war schockierend und Gänsehaut vermittelnd zugleich.
Vor uns lag auf dem blanken Felsen eine nackte männliche Person in einer Art, als habe man sie dort aufgebahrt. Der Mann war zwischen dreißig und vierzig Jahre alt, das sahen Leni und ich ebenso wie Peters. Der Mann lag auf dem Rücken, die Arme lagen an den Körperseiten, die Augen waren geschlossen, aber das, wonach wir suchten, war nicht vorhanden. Blut! Es war kein Blut vorhanden, trotz einer riesigen klaffenden Wunde, die sich über den gesamten Brustbereich ausbreitete. Es war eigentlich keine Wunde, da war vielmehr ein riesiges Loch, genau an der Stelle, wo sich das Herz normalerweise befindet. Befand, war der richtige Ausdruck. Da war kein Herz. Da war nur ein Loch, ein großes Loch.
„Das Herz fehlt!“ Leni schluckte und sah mich an. „Heiner, dem hat jemand das Herz aus der Brust gerissen.“
„Das sehe ich anders“, ließ sich Peters, der hinter uns stand, vernehmen. „Die Rippen sind aufgeschnitten und auch sonst sieht die Sache für mich nach fachlicher Arbeit aus.“
Am Rande des Felsenplateaus schepperte es. Bresser und der Arzt waren mit dem Korb der Drehleiter angekommen und kurz darauf stand Dr. Nikolaus Grothe vor uns.
„Das mit dem Notarzt wird heute nichts“, sagte Grothe. „Ist noch anderweitig unterwegs. Der Krankenwagen steht unten.“ Er machte eine Kopfbewegung in Richtung der Feuerwehrleiter.
„Glaube kaum, dass der Wagen noch hier gebraucht wird.“ Ich zeigte auf den Toten und Grothe begann mit der Untersuchung.
„Das Herz ist fachmännisch herausgetrennt worden.“ Grothe, der sich ein Paar Einweg-Gummihandschuhe übergestreift hatte, griff vorsichtig in die Wunde und schien etwas zu suchen. Dann sah er über die Schulter nach hinten.
„Sehen Sie her! Arterien und Venen sind alle mit einem scharfen Gegenstand durchtrennt.
Leni und ich traten näher und mussten uns bücken, um das zu erkennen, was Grothe aus seiner Erfahrung heraus sofort gesehen hatte.
„Die Lunge ist eingefallen, deshalb kaum zu sehen“, fuhr Grothe fort. „Andere Verletzungen kann ich nicht feststellen, jedenfalls nicht hier. Bin gespannt auf die Obduktion.“
„Hm“, brummte er. „Leichenflecken auf der Bauchdecke, wenn auch nicht viele.“ Grothe drehte die Leiche etwas zur Seite und besah sich deren Rückseite, die mit dem Boden Kontakt hatte.
„Das bisschen Blut, das der Mann noch im Körper hatte, hat sich hier hinten angesammelt“. Er wies auf die dunkelroten Bereiche auf dem Rücken und dem Gesäß. „Schätze, der Mann liegt etwa zwei bis vier Tage hier. Und getötet wurde er hier auf keinen Fall. Man hat ihn später hier abgelegt“.
„Sind Sie sicher?“ Die Frage hätte ich mir schenken können. Natürlich war er nicht hier oben getötet und ausgenommen worden.
Grothe presste die gestreckten Finger der rechten Hand in die Rückenpartie, als wolle er sie durchbohren.
„Wie ich es mir gedacht habe. Die Leichenflecke lassen sich nicht mehr wegdrücken. Ein Wunder eigentlich, dass die Tiere kein Interesse an ihm hatten.“
Seiner Stimme war ein leichter Stolz zu entnehmen. „Der Mann hat auf der Bauchseite Leichenflecken und auf der Rückseite. Das heißt: Er wurde umgelagert, eindeutig. Nach Eintritt des Todes hat er auf dem Bauch gelegen. Später hat man ihn hierher transportiert und auf dem Rücken abgelegt. Daher die Blutablagerungen auf beiden Körperseiten.“
„Das bedeutet dann ja auch, dass er kurz nach seinem Tod hierher transportiert worden sein muss. Sonst hätten sich die Totenflecken auf dem Rücken nicht mehr ausbilden können.“
„Das sehen Sie genau richtig“, sagte Grothe und verstaute seine Utensilien wieder in seiner Arzttasche. „Diese Totenflecken entstehen meist 20 bis 60 Minuten nach dem Todeseintritt.
Sie entstehen durch Absinken des Blutes in tiefer gelegene Teile einer Leiche. Logisch, das Blut folgt der Gravitation.“
Grothe hatte sich nun in einen Fachvortrag hineingeredet und ich ließ ihn gewähren. Wir konnten hier sowieso nicht ohne die Drehleiter wieder hinunter.
„Bis zu sechs Stunden nach dem Todeseintritt lassen sich die Totenflecke umlagern, so wie es im vorliegenden Fall geschehen ist. Durch die Veränderung der Position der Leiche verlagerten sich auch die Totenflecken. Bis zu zwölf Stunden nach Todeseintritt sind die Flecken zumindest teilweise noch wegdrückbar, da ein Teil des Blutes innerhalb der Adern noch beweglich ist.“
Dr. Grothe hatte nun seinen Vortrag beendet und sah uns, Anerkennung suchend, aus seiner hockenden Position an.
„Da liegt ein Tuch neben der Leiche“, ließ sich Peters vernehmen, der sich bis jetzt zurückgehalten hatte. „Ich vermute, die Leiche war damit zugedeckt. Vorsicht, ist vielleicht ein Spurenträger. Ich werde sie mit ins Labor nehmen.“
Es war ein schwarzes Tuch oder besser gesagt eine schwarze Decke, einfarbig, ohne jegliches Motiv oder Ornament, die vom Hals abwärts bis zu den Zehen neben dem Toten lag, so, als habe dieser sie zur Seite geschlagen, wie ein Lebender das tut, wenn es ihm zu warm wird.
„Nicht anfassen bitte!“ Die Stimme Peters hatte sich erhoben, als er den ausgestreckten Arm von Dr. Grothe sah. „Doktor, Sie haben Ihre Arbeit sicherlich getan. Ich glaube, es wird Zeit für die polizeilichen Ermittlungen.“
„Schon gut, schon gut.“ Grothe erhob sich und klemmte den Arztkoffer unter seinen rechten Arm.
„Dann machen Sie mal Ihre Arbeit. Ich wünsche Ihnen viel Glück dabei. Den Totenschein können Sie in meiner Praxis abholen lassen.“
Grothe begab sich zum Rand des Felsens und sah hinunter. Es kam ihm vor, als stünde er in einer Höhe von 100 Metern über dem Erdboden. Unten unterhielten sich die Feuerwehrleute, doch niemand sah hinauf, dem er hätte ein Zeichen geben können.
„Sie müssen schon warten, bis wir mit nach unten fahren“, rief ich Grothe zu, der wohl der Meinung war, man würde den Korb wegen ihm alleine nach oben schicken.
„Was meinst du, Heiner? Das Tuch dort, oder die Decke, wie auch immer, die hat doch eine Bewandtnis? Glaubst du, sie diente dazu, den Toten zuzudecken?“
„Warum sollte man hier oben einen Toten zudecken, den niemand sehen kann? Aus Pietät? Pah! Kannst du vergessen. Vielleicht hat man die Decke benutzt um den Toten hier heraufzuschaffen. Und dann hat man sie einfach hier liegenlassen.“
„Auf die Gefahr hin, dass sie für uns ein Spurenträger sein könne?“
„Das Labor wird sich darum kümmern. Mutmaßungen bringen uns jetzt nicht weiter.“
„So ihr beiden. Wenn ihr jetzt fertig seid mit euren Spekulationen, möchte ich gerne noch einige Fotos schießen. Von der Leiche, nicht von Euch.“
„Wir haben verstanden“, grinste ich. „Komm, Leni, lass diesen Ignoranten vorbei. Versuchen Sie mal, da unten jemanden anzusprechen der uns wieder auf festen Boden zurückholt“, rief ich Grothe zu, ohne mich einen Schritt weiter an den Felsenrand zu begeben.
„Ist es so schlimm?“ Leni sah mich von der Seite her an. „Warum musstest du dann überhaupt mit hier rauf? Du glaubst, es geht nichts ohne dich? Ist das so?“
Lenis Stimme erhob sich um einen Ton. „Der Herr Kollege glaubt, seine kleine Mitarbeiterin sei nur da, um ihm den Koffer zu tragen! Glaube mir Heiner, das was wir beide hier oben geleistet haben, das hätte die kleine Mitarbeiterin auch ganz alleine hinbekommen.“
„Aber Leni…“
„Doch, doch, ich muss es dir einmal sagen und jetzt ist doch ein guter Zeitpunkt, das musst du einsehen. Jede Ehefrau würde mich um diese Situation hier beneiden. Kein Weglaufen ist möglich, nur Zuhören. Lasst euch nur Zeit mit dem Korb da unten“, rief sie in Richtung des Felsabhangs und wusste genau, dass man ihr Anliegen kaum würde hören können, zumal sie so laut nicht gerufen hatte.
„Du siehst das falsch, Leni“, nahm ich einen neuen Anlauf und schielte hinüber zu Peters, der sich offensichtlich ein Lachen kaum verkneifen konnte. Grothe hatte sich einfach nur in Richtung des Abgrunds gedreht und schien von alledem nichts mitzubekommen.
„Du bist ein gleichwertiger Partner, das weiß ich. Und du sollst wissen, dass ich das genau so sehe. Aber Erkenntnisse aus zweiter Hand, das bin ich nun mal nicht gewohnt. Ich möchte selbst sehen, woran ich bin, möchte mir mit eigenen Augen ein Bild davon machen, was meine künftigen Ermittlungen bestimmt. Das hat doch mit dir nichts zu tun.“
„Ich werde dich zu gegebener Zeit daran erinnern“, antwortete Leni und warf den Kopf in den Nacken und insgeheim bedauerte ich, dass sie ihre Haare heute nicht offen trug.
Schließlich kam der Korb doch noch und es bedurfte einiger Anstrengungen, bis ich mich unter Zuhilfenahme aller freien Hände endlich in dem nach rechts und links schwankenden Korb wiederfand. Und gleichzeitig setzte er ein. Er kam immer dann, wenn es stressig zu werden begann: Mein Tinnitus. Es pfiff und rauschte um die Wette, als gäben Grillen und Vögel ein gemeinsames Konzert.
Bresser sorgte zwar für einen ruckfreien Rückweg, aber irgendwie glaubte ich dennoch einen Hauch von Ironie auf seinem Gesicht festzustellen.
Die beiden Leichenbestatter standen bereits parat, jeder einzelne die Schlaufen der mit einem Reißverschluss versehenen Kunststofftrage in der Hand haltend, so, als müssten sie den Toten jeden Moment darin liegend abtransportieren.
„Ihr könnt jetzt nach oben.“ Ich zeigte mit dem Daumen über meine Schulter in die Höhe. „Den Toten bringt ihr bitte sofort nach Trier in den Sezierraum des Brüder-Krankenhauses. Wir kommen später nach, meine Kollegin und ich.“ Ich sah Leni, die zufrieden nickte, von der Seite an.
„Wo sollen wir bloß mit den Ermittlungen beginnen?“
Die Holzfäller-Mannschaft um Herbert Keller stand immer noch betreten an der Stelle, wo wir sie vorhin verlassen hatten. Die Kollegen der Spurensicherung hatten das Terrain großflächig mit einem Kunststoffband, auf dem die Aufschrift „Kriminalpolizei Trier“ zu lesen war, gesichert und waren dabei, jeden Zentimeter im Bereich des Felsensockels zu untersuchen.
Theodor Heinen, der den Toten nach seiner Klettertour auf dem Plateau vorgefunden hatte, war offensichtlich mit der Berichterstattung an seine Kollegen fertig und wartete darauf, seine offizielle Aussage zu machen.
„Wir sehen uns morgen. Auf der Dienststelle in Trier. 10 Uhr, okay?“ Heinen nickte und ich drückte ihm eine dienstliche Visitenkarte in die Hand.
„Wenn Ihnen irgendetwas einfällt, was für unsere Ermittlungen relevant sein kann, lassen Sie es uns wissen“, wandte sich Leni an die restlichen Personen in der Gruppe.
„Ach ja, noch etwas.“ Ich hielt im Weggehen inne. „Ist Ihnen in den vergangenen Tagen irgendjemand aufgefallen, ich meine, hier im Wald. Jemand, der sich verdächtig verhielt, zu Fuß oder mit einem Fahrzeug.“
Als Antwort ernteten die beiden nur Kopfschütteln.
Der Leichenwagen fuhr an uns vorbei, auf dem unbefestigten Weg in Richtung Zerf, um von dort die Bundesstraße 268 nach Trier zu nehmen.
Ich sah auf die Uhr, dann zu Leni hinüber. Was hältst du von einer Roulade mit Kartoffelpüree und Rotkohl?“
„Hört sich nicht schlecht an.“
„Dann auf nach Forstenau. Lisa wird uns etwas aufwärmen.“