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Meine ersten Ferien

Dazu kam ich wie die Jungfrau zu einem Kind. Ich wusste nicht, dass mein Klassenlehrer dabei die Hand im Spiel hatte. Er hatte nämlich dem Wohlfahrtsamt der Stadt ein paar Kinder seiner Klasse melden müssen, die zu den Ärmsten der Armen gehörten. Das traf bei mir zu. Meine Mutter war gestorben, und mein Vater brachte mich und meinen Bruder gerade so recht und schlecht durch. Wir litten Hunger und von Ordnung war überhaupt keine Rede. Ich durfte also in den Ferien in ein Heim nach Schondorf am Ammersee. Das war im Jahre 1916, während des Ersten Weltkrieges. Mir war, als würde ich ins Paradies geschickt. Nur der Abschied von der Wurzi fiel mir ein bisschen schwer. Die Wurzi war so etwas wie meine Kinderliebe, ein Jahr älter als ich, schwarzhaarig, mit Grübchen in den Wangen. Sie half mir, den Pappkarton mit meinem bisschen Wäsche verschnüren, und begleitete mich auch zum Bahnhof.

»Dass du mir ganz g'wiss schreibst«, sagte sie und nahm meine Hand, die ich aus dem Abteilfenster hielt.

»Ja, ich schreib' dir. Vorausgesetzt, dass du mir treu bleibst.«


»Bis in alle Ewigkeit, Hansi.«

»Na ja. Aber wenn ich an den Bäcker-Rudi denk' vom vorigen Jahr. Mit drei Tafeln Schokolad hat er dich mir ausgespannt.«

»Weil ich damals noch ned g'wusst hab', dass er Bettnässer ist.«

Dann fuhr der Zug aus der Halle, und die Wurzi winkte mir nach, bis ich sie nur noch ganz klein und dünn wie ein Streichholz auf dem Bahnsteig stehen sah. Kaum hatte der Zug die grauen Mauern der Stadt hinter sich gelassen, tat sich eine andere Welt für mich auf. Ich war noch nie so richtig aus der Stadt herausgekommen, und nun sah ich auf einmal das gewaltige, fruchtbare Bauernland an den Fenstern vorüberfliegen. Wogende Roggenfelder, weite, grüne Wiesen und dazwischen verstreute Bauernhöfe. In der Ferne stille Dörfer mit weißen Kirchtürmen, die sich wie erhobene Zeigefinger in den glasklaren Himmel streckten.

Schlagartig wurde mir bewusst, dass meine Ahnen väterlicherseits auch vom Bauernstand kamen. Der Vater meines Vaters hatte in Friedberg noch ein Bauerngütl mit sechs Kühen sein eigen genannt. Das hatte er dann verkauft und war in die Stadt gezogen.

Warum? fragte ich mich. Um Gottes Willen, warum nur? Ist mir durch die Verpflanzung meiner Großeltern in die Stadt nicht ein Paradies verloren gegangen? Hätten sie nicht bedenken müssen, dass vielleicht einmal einer ihrer Enkel wieder die Liebe zum Boden haben könnte, die Hände für den Pflug oder die Sense.

Dieser Gedanke hatte mich wie ein Sturmwind erfasst und ließ mich nicht mehr los. Auch im Ferienheim nicht, das auf einem Hügel lag, mit weitem Blick über den See bis zu den fernen Bergen hin.

Insgesamt waren es vierzig Buben, über die ein Lehrer namens Rottier, ein noch junger, auf geschlossener Mensch, die Aufsicht führte. Er hatte im Krieg seinen linken Arm verloren und trug eine Prothese.

»Für Kaiser und Vaterland«, pflegte er zu sagen und lächelte dabei immer so eigentümlich, als ob er seinen Arm nicht gern für den Kaiser verloren hätte.

Ich konnte nicht verstehen, dass es unter den vierzig Buben einige gab, die schrecklich an Heimweh litten, die nachts in die Kissen weinten und im Traum nach ihrer Mutter schrien. Oberhaupt schienen da ein paar irrtümlich unter die Armen geraten zu sein, wie zum Beispiel dieser Bacher-Karli, der uns erzählte, dass hier die Ordnung zu streng sei und das Essen zu schlecht. Voriges Jahr sei er mit seinen Eltern in den Ferien in Meran gewesen. Das sei schon was anderes. Hier gäbe es ja nicht einmal Servietten und die Schuhe müsse man sich auch selber putzen und die Betten machen.

Am Ende dieser Woche, genau zum Sonntag hin, bekam er von seiner Mutter bereits ein Paket geschickt, mit einem Gesundheitskuchen, Schokolade und einer Kochsalami. Und da war dieser Kerl der irrigen Meinung, dass er das alles allein aufessen müsse.

Spät am Abend, als schon Bettruhe war, fragte ich über die andern Betten hinweg in die Dunkelheit hinein, ob seine Mutter nicht dazugeschrieben habe, dass er mit uns teilen solle. Der Karli sagte nein. Daraufhin fragte ich ihn, ob er das Gebot der Nächstenliebe kenne, das da lautet, du sollst deinen Nächsten sättigen wie dich selbst. Der Karli zweifelte zwar ein bisschen, ob das wirklich sättigen und nicht lieben heiße. Aber am nächsten Morgen verteilte er wenigstens die Salami.

Nach dem Frühstück machten wir jeden Tag einen Spaziergang in den nahen Wald. Dort mussten wir Kniebeugen machen und ganz tief einatmen. Der Herr Lehrer Rottler sagte, dass dies Ozon wäre und dass wir davon gar nicht genug in unsere jungen Lungen einatmen könnten. Dazwischen erzählte er uns kleine Geschichten, entweder vom Krieg oder vom Bauernleben, das wir ja nun ringsum selber erlebten, wenn wir die Augen offen hielten. Der Bauer, sagte er einmal, sei der unmittelbare Handlanger Gottes. Dazwischen stellte er auch Fragen, die dann oft falsch oder gar nicht beantwortet wurden.

Einmal deutete er mit seiner Prothese auf ein wogendes Kornfeld hinaus und fragte: »Was empfindet ihr Buben zum Beispiel beim Anblick so eines reifenden Kornfeldes?«

Niemand antwortete und niemand empfand etwas. Der Lehrer blickte fast traurig umher. Ich scheuchte eine Fliege von meinem Gesicht, da hat er gemeint, ich hebe die Hand und melde mich.

»Also du! Was empfindest du?«

Ich stotterte zuerst ein wenig umeinander. Dann hatte ich plötzlich eine Eingebung und antwortete laut und deutlich: »Ich hab' das Gefühl, dass in den Ähren bereits das Brot ist, das wir im nächsten Jahr essen.«

Von diesem Tag an hatte ich bei dem Lehrer einen Stein im Brett, wie man so sagt. Ich genoss gewisse Freiheiten, durfte zum Beispiel zu dem benachbarten Bauern 'nübergehn und einen Krug Apfelmost für ihn holen. Auf dem Hof erlebte ich ungeahnte Seligkeiten. Ich durfte die Kühe streicheln und die Pferde, und es tat mir bloß bis in die Seele hinein weh, dass dies alles nicht auch die Wurzi erleben durfte.

Ich erwachte immer ganz früh am Morgen. Die andern schliefen noch tief, wenn ich auf den Balkon hinaustrat. Damals begriff ich noch nicht, dass die Frühe eines solchen Sommermorgens heilig sein kann. Ich atmete nur ganz tief durch und dachte, dass ich noch nie eine solche Luft geatmet hatte. Mit weiten Augen sah ich auf die Wiesen hinunter, auf denen der Tau funkelte. Von einem der Bauernhöfe her hörte ich das feine Läuten des Sensendengelns und wusste noch nicht, was das war. Dann kam ein Mann aus dem Hof mit einer Sense auf der Schulter. Mit weiten Schritten ging er den Hof hinunter, stellte die Sense auf den Boden und wetzte sie. Dann holte er aus zum Schwung und mit einem leisen Rauschen fiel die grüne Mauer vor ihm zusammen.

Von fernen Kirchen läuteten Glocken. Mir war, als träfen sich alle Klänge mitten auf dem See zu einem gewaltigen Melodienreigen und die Wellen spülten sie im Echo an die Ufer.

Allmählich erwachte dann das Tagleben. Bauernfuhrwerke polterten auf rauen Feldwegen dahin. Buntscheckige Kühe trotteten durch weitgeöffnete Stalltüren auf die eingezäunte Weide hinaus. Auf dem See ruderte ein Mann. Er holte die Netze ein, und eine Weile später erschien er vor dem Ferienheim, läutete am Tor und gab ein Netz voller Fische für die Küche ab.

Ein Bäckerbub kam mit dem Fahrrad, stellte einen Korb voller Semmeln vor die Türe und strampelte wieder davon.

Jawohl, solche Herrlichkeiten gab es dort noch, während in der Stadt der Hunger mit immer engeren Schritten um die Häuser zu gehen begann. Ach, das alles lag so fern. Mir war, als stürze das Licht einer viel schöneren Welt in mich hinein und erfülle mir Herz und Seele bis an den Rand. Alles war einfach anders, ohne dass ich es beim Namen hätte nennen können. Vielleicht war es ein Märchen oder gar das Paradies, aus dem ich wieder heraus musste, in die Stadt hinein. Und das würde mich wahrscheinlich mit Schmerzen erfüllen. Dessen war ich mir gewiss.

Nach 14 Tagen fiel mir siedend heiß ein, dass ich ja der Wurzi versprochen hatte, ihr zu schreiben. An einem Nachmittag, als es nach einem Gewitter heftig nachregnete, setzte ich mich ein wenig abseits des Heimes in den Geräteschupfen und schrieb meinen ersten Liebesbrief.

»Meine innigstgeliebte Wurzi«, schrieb ich, strich es aber dann wieder aus und ersetzte es durch »Meine Teuerste Wurzi«, weil ich meinte, das klinge vornehmer. Ich steigerte mich in Empfindungen hinein, die gar nicht zutrafen. Umfangreich schilderte ich ihr das Landleben, als wäre ich darin groß geworden. Von den Kühen schrieb ich ihr und von den Rössern, von denen ich demnächst eines reiten müsse. Die schönste Kuh im Stall heiße Laura und die habe ein Kälbchen geboren.

Das Kälbchen saufe immer an den vier Strichen, welche die Kuh zischen den Hinterbeinen habe.

»Dieses Kälbchen, liebe Wurzi«, schrieb ich weiter, »erinnert mich sehr an Dich. Es hat so sanfte Augen wie Du und schaut manchmal recht dumm dreich.« »Dumm« strich ich wieder durch und setzte »sanft« darüber.

Ich meinte, was für einen schönen Brief ich geschrieben hätte und wunderte mich sehr, dass mir die Wurzi darauf nicht antwortete. Als ich dann nach vier Wochen wieder zurückkam, um fünf Pfund schwerer und braungebrannt, fuchtelte mir die Wurzi mit dem Brief vor der Nase herum und zischte mich an:

»Dass du mich mit einem Kaiberl vergleichst, das ist schon allerhand. Aber dass du auch noch teuerste Wurzi schreibst, das werd' ich dir nie vergessen, denn ich kann mich nicht erinnern, dass du je einmal für mich einen Pfennig ausgegeben hättest.«

Dann zerriss sie den Brief vor meinen Augen und warf ihn auf die Straße in eine Wasserlache.

Ich aber habe 14 Tage lang für den Bacher-Karli die Schuhe geputzt und sein Bett gemacht, damit ich mir ein Briefpapier kaufen hab' können und eine Briefmarke für zwölf Pfennig.

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