Читать книгу Der Bauernknecht und andere Geschichten - Hans Ernst - Страница 8
ОглавлениеEin Schulaufsatz
Während des Ersten Weltkrieges wurde unsere Schule an der Guldeinstraße zum Lazarett bestimmt, und wir mussten dafür nach Laim hinaus in die Fürstenrieder Schule gehen.
Der Weg dorthin war entschieden weiter. Neben dem Trambahngleis führte ein schwarzer Weg. Heute ist dort alles verbaut, aber damals dehnten sich noch weite Felder und Wiesen bis zu den Höfen an der Landsberger Straße hinüber.
Wenn man Glück hatte, konnte man sich, wenn die Linie 29 bei der Elsenheimer Straße die große Kurve etwas langsamer fahren musste, hinten auf die Puffer schwingen und bis Laim mitfahren, weil auf der ganzen Strecke sonst keine Haltestelle mehr war.
Im Laufe der Zeit brachte ich es beim Puffersitzen zu einer gewissen Fertigkeit und beherrschte es so perfekt wie die Ausreden, wenn ich die Schule schwänzte. Auf diese Puffer sich hinaufzuschwingen, das habe ich auch der Marille gelernt. Aber nicht umsonst. Ihre Mutter hatte eine Kramerei in der Elsenheimer Straße, und die Marille hatte immer etwas dabei: Bonbons, eine Wurstsemmel oder sonst was.
Mein erster Lehrer war ein junger, sehr feiner Mensch. Mein zweiter Lehrer hieß Wolf und war seiner ganzen Anlage nach auch ein halber. Er fraß die Kinder zwar nicht auf, aber er schlug uns wegen jeder Kleinigkeit erbärmlich. Auf mich hatte er es ganz besonders abgesehen. Erstens wegen der Pufferfahrten auf der Linie 29, zweitens wegen des Schulschwänzens und drittens, weil ich arm war. Sicherlich habe ich manche Prügel auch verdient. Er zwickte einem den Kopf zwischen die Beine und drosch drauflos. Einmal biss ich ihn beim dritten Schlag ganz herzhaft in den Oberschenkel. Da schrie er auf und vergaß, dass er noch drei Schläge zu geben gehabt hätte.
Daheim durfte man nie sagen, dass man in der Schule Schläge bekommen hatte. Da hieß es dann höchstens: »Der Lehrer wird schon gewusst haben, warum.« Der Lehrer hatte eben immer recht. Ich sagte also nichts. Aber der Lehrer ließ meinen Vater kommen und sagte ihm, dass ich ihn in den Oberschenkel gebissen hätte und dass er sich eine Tetanusspritze geben hat lassen müssen. Daraufhin bekam ich dann daheim auch noch Prügel.
In späteren Jahren habe ich mir oft gewünscht, diesem »Wolf« nochmal zu begegnen, vielleicht an einem Stammtisch oder sonst wo. Aber dieses Glück hatte ich nie, und so blieb alles im Konzept hängen, was ich ihm ganz friedsam hätte sagen sollen über Pädagogik und über die Jugenderziehung im Allgemeinen.
Nach ihm bekamen wir ein Fräulein. Der Wolf hatte auch einrücken müssen und verteidigte das Vaterland in einer Schreibstube, zum Glück für die armen Rekruten. Unser Fräulein hieß Elfriede Fuchs, und sie wusste wohl schon um den Opfergang, den ihre Versetzung in eine vierte Bubenklasse bedeuten mochte. Sie war ein wunderbarer, feiner Mensch mit einem Käthe-KrusePuppengesicht und einem runden Schopf im Nacken, über den immer ein feines Netz gespannt war. Sie schlug nicht, und wenn es wirklich einmal nicht anders ging, verabreichte sie zwei Tatzen, aber nicht mit dem spanischen Rohr, sondern mit dem Federhalter. Sie versuchte alles mit Güte und Geduld.
Ich weiß selber nicht warum, aber mich mochte sie besonders gern. Ich durfte die Aufsatz- und Rechenhefte in ihre Wohnung tragen, durfte ihr Holz und Kohlen aus dem Keller holen, und sie schenkte mir immer etwas. Meistens etwas zu essen, weil sie vielleicht schon bemerkt hatte, dass ich in der Pause nie etwas dabei hatte.
Doch einmal schenkte sie mir fünfzig Pfennige, damit ich mir die Haare schneiden lasse, die sich hinten im Nacken bereits ringelten. Sogar während der Schulzeit schickte sie mich hin. Dass ich dann hernach nicht mehr zum Unterricht kam, schluckte sie stillschweigend, obwohl sie vom Schulfenster aus hätte sehen müssen, dass ich in der gegenüberliegenden Kiesgrube spielte. Sie schluckte überhaupt viel, die Elfriede. Zweimal im Jahr kam der Herr Schulrat. Er hieß Landgraf und hatte einen weißen Spitzbart. Er sagte zu Fräulein Fuchs, wenn sie einen renitenten Schüler in der Klasse habe, dann solle sie es ihm sagen. Er werde dann schon ein Exempel statuieren.
Einmal schenkte mir das Fräulein Fuchs zwanzig Pfennige und schickte mich in die Apotheke. Dort sollte ich mir Borwasser kaufen, weil ich immer so entzündete Augen hatte. Ich kam aber bloß bis zum Kiosk an der Ecke. Dort gab es zwar kein Borwasser, dafür aber Minzkugeln und einen »Bärndreck« (Lakritzstangerln).
Damals geriet sie zum ersten Mal meinetwegen aus der Fassung. Ich sehe sie heute noch, wie sie droben stand neben dem Katheder und mit den Füßen stampfte, dass ihr die Strümpfe herunterrutschten, und wie sie mit weinerlicher Stimme schrie: »Ernst, du bringst mich noch ins Grab! Ich war immer gut zu dir, und alles ist vergebens. Bei dir ist Hopfen und Malz verloren. Aus dir wird nie was Gescheites im Leben.«
Das ging mir sehr nahe, und ich gelobte mir feierlich, sie nie mehr zu ärgern. Sie vergaß es dann auch bald wieder, sagte wieder Hansl zu mir oder Ernstl. Aber dann sollten wir einen Aufsatz schreiben. Jeder sollte etwas schreiben, das er selber erlebt oder beobachtet hatte. Im Aufsatz war ich gut, und es hätte gar nicht der Aufmunterung des Fräuleins bedurft, die mir sagte:
»Streng dich nur ein bisserl an, Hansi, du hast das Zeug in dir.«
Und ob ich's hatte. Ich fragte nur:
»Darf es auch was Lustiges sein?«
»Gerade lustig soll es sein.«
Ich dachte zuerst ein wenig nach. Dann schrieb ich:
Schulaufsatz
Jetzt haben wir eine Lehrerin, die wo Elfriede heißt, aber wir sagen ›Mopserl‹ zu ihr, weil sie so rundlich gebaut ist. Wir haben eine große Freude mit ihr, weil sie nicht so fest zuhaut wie ihr Vorgänger, weil sie ein weibliches Wesen ist und keine so große Kraft nicht hat wie der Lehrer Wolf. Sie hat himmelblaue Augen und einen runden Mund und einen Haarschopf im Nacken. Vor allem hatte sie auch eine feine Nase, denn wie sie einmal an meiner Bank vorbeigegangen ist, hat sie erschrocken den Kopf zurückgeworfen und hat zu mir ›Du Aas‹ gesagt. Ich sagte ihr gleich, dass wir mittags eine Bohnensuppe gehabt hätten, aber sie ließ mich trotzdem vor die Türe hinausstehen und sagte, dass ich so lange draußen stehenbleiben müsse, bis die Bohnensuppe draußen wäre.
Vor der Tür war es ganz schön. Ich stand natürlich dort nicht unbeweglich, sondern ging im Gang auf und ab und las die Namen der Lehrer an den Türen. Am Ende des Ganges war der Turnsaal, und ich überlegte gerade, ob ich nicht ein bisschen Barrenturnen üben sollte, aber dann hörte ich vom oberen Stockwerk her Getrampel. Es kam eine Mädchenklasse die Treppe herunter, die zum Turnsaal ging. Siedend heiß fiel mir ein, dass die Marille dabei sein könnte, und ich rannte in den Abort hinein, weil ich mich nicht schämen wollte. Im Abort habe ich lange geschussert. Wie ich mich dann einmal hinausschleichen wollte, ging gerade der Lehrer Stockerl aus seinem Klassenzimmer heraus und hustete zweimal hintereinander laut. Daraufhin kam auch das Mopserl heraus, und dann hat sie der Stockerl gleich in den Mund gebissen, was aber nicht weh getan hat, weil die Elfriede furchtbar kichern musste und zu ihm ›Xaverl‹ sagte, worauf er zu ihr ›Spatzerl‹ sagte. Dann hat sie ihn gebissen, und das hätte ihn beinahe umgeworfen, denn er hebte sich ganz fest an ihren Hüften ein.
Wie die Pausenglocke geläutet hat, sind sie schnell wieder auseinandergelaufen. Im Schulhof draußen, wo sie im Kreis der andern Lehrkräfte stand, gab es ihr plötzlich einen Riss, als sie mich sah. Sie kam auf mich zu und sah mich ängstlich an, bis sie mich fragte: »Hab' ich dich nicht vor die Türe stellen lassen? Ich hab' dich aber nicht gesehn.«
»Ich schon«, grinste ich.
Flammend rot ist sie geworden, das gute Fräulein, und sie hat mir schnell ihr Pausebrot geschenkt, wo eine Wurst drinnen war.
Hernach dann, als Fräulein Elfriede die Aufsätze durchlas und an den meinen kam, wechselte sie die Farbe. Bald wurde sie rot und dann wieder blass. Dann rannte sie schnell hinaus. Ich glaube, sie hat geweint. Und mir tat das so leid. Ich hätte mich am liebsten geohrfeigt. Aber ich hatte doch nur geschrieben, was ich beobachtet hatte.
In der Folgezeit war ich dann ehrlich bemüht, sie nicht mehr zu ärgern. Nach den Ferien kam sie nicht mehr zu uns. Sie war an eine andere Schule versetzt worden, und ich hörte nie mehr etwas von ihr.
Zu meinem fünfzigsten Geburtstag aber, über den der Rundfunk und auch die Presse berichteten, bekam ich einen Brief von Elfriede Fuchs. Sie schrieb mir, dass sie es wage, an mich zu schreiben. Sie hätte schon einige Bücher von mir gelesen und habe dabei immer an einen Schüler gleichen Namens denken müssen, den sie vor vierzig Jahren einmal in der vierten Klasse gehabt habe. Ob ich vielleicht mit dem identisch sei. Wenn nicht, so erlaube sie sich, mir trotzdem alles Gute zu meinem fünfzigsten Geburtstag zu wünschen und verbleibe mit freundlichen Grüßen, Elfriede Fuchs.
Die Fuchsin, dachte ich, mein Gott, die Fuchsin. Und mir fielen all meine Streiche wieder ein. Ich antwortete ihr, dass ich schon derjenige sei, den sie meine und dass ich mir gestatten würde, sie einmal zu besuchen, wenn es ihr recht sei.
Es wäre ihr sehr recht, schrieb sie zurück. Und so nahm ich eines meiner Bücher aus dem Regal und zwar den Roman »Der Lehrer von Tschamm« und schrieb als Widmung hinein:
»Meiner hochverehrten Lehrerin aus der vierten Volksschulklasse in der Fürstenrieder Schule, in Dankbarkeit von Ihrem Hans Ernst.«
Ich kaufte sieben Nelken und fuhr an einem sonnigen Märztag bei ihr vor. Sie wohnte noch in demselben Haus und in derselben Wohnung. Als ich läutete, klopfte tatsächlich mein Herz ein wenig schneller.
Es öffnete mir eine alte Frau mit schneeweißem Haar. Aber ich erkannte sie sofort. Aus ihren Augen strahlte immer noch diese wunderbare Güte. Nur ihre Hände waren welk geworden und zitterten ein wenig, als sie in meinen Händen lagen.
Dann saßen wir in ihrem Wohnzimmer. Nichts hatte sich verändert seit damals. Der große Ventilator hing noch an der Wand, der hohe, braune Kachelofen war noch da, unter den ich immer die Holzscheit' geschichtet hatte. Nur der Papagei war nicht mehr da. Wir sprachen von damals und nannten es die »goldene Zeit« womit wir wohl unsere entschwundene Jugend meinten, denn gar so golden war die Zeit damals auch nicht. Plötzlich fragte sie, ob ich mich noch manchmal an sie erinnert hätte.
»Ja«, sagte ich, »besonders an ihre Güte.«
»Nein, ich habe gemeint, ob du dich auch an meine Prophezeiung erinnert hast, dass doch niemals etwas Gescheites aus dir würde.« Plötzlich hielt sie sich die Hand vor den Mund, als sei sie über etwas erschrocken.
»Verzeihung, ich sag' da ganz einfach Du zu Ihnen.«