Читать книгу Warnung vor Büchern. Erzählungen und Berichte - Ханс Фаллада - Страница 10

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[27]Tscheka-Impressionen

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Ich komme wieder einmal heim aus den Verhandlungen des Staatsgerichtshofs gegen die Tschekaleute, angewidert, halb krank, aus dem seelischen Gleichgewicht gebracht: erledigt. Ist etwas Besonderes geschehen? Gar nicht. Zwar: es hat Ordnungsrufe ohne Zahl gegeben; zwar: Wortentziehungen sind nicht eben selten erfolgt; zwar: Zeuge und Angeklagter haben sich gegenseitig »Lump, Lügner, Meineidiger« geschimpft; zwar: Zeugen und Angeklagte, am Ende ihrer Nervenkraft, haben Geschlechtskrankheiten, Weiberbekanntschaften, Betrunkenheiten mit allen (körperlich schmierigen) Folgen einander ins Gesicht geschrien – aber ist das etwas Besonderes? Das hören, das sehen wir seit vier Wochen alle Tage.

Ein Verteidiger beginnt zu reden. Vorsitzender: »Herr Rechtsanwalt, ich entziehe Ihnen das Wort.« – »Ich erbitte das Wort zu einem Antrag.« – »Sie können den Antrag später stellen. Ich entziehe Ihnen das Wort.« – »Ich verlange Protokollierung dieser Verweigerung.« – »Ich lehne diese Protokollierung ab.« – »Nach § X der Strafprozessordnung …« – »Herr Rechtsanwalt, ich entziehe Ihnen das Wort!«

Auf der Anklagebank sitzen rund ein Dutzend Männer, seit über einem Jahre in Untersuchungshaft, durch die endlose Voruntersuchung zermürbt, seit vier Wochen auf der Marterbank dieses Prozesses, sie werden von Tag zu Tag blasser, gereizter, kränker. Immer wieder meldet sich einer: [28]»Mir wird schlecht.« – »Ich kann nicht mehr folgen!« – »Ich habe Hunger. Ich muss erst was zu essen haben.« Ist es ihnen zu glauben. Man sehe sie an. Doch, es ist ihnen zu glauben.

Dieser Gerichtshof ist – wie jeder Gerichtshof – dazu eingesetzt, die Wahrheit zu finden. Es geht bei den meisten Beteiligten um Strafen, die ihr ganzes Leben vernichten werden. Menschlichstes wird verhandelt? Ich höre immer: Nach § … Wortentziehung … Gerichtsbeschluss … Protokollierung …

Wer noch einen Beweis braucht, dass dieser Staatsgerichtshof nicht in der Lage ist, seine Aufgabe – sie besteht nicht in Verurteilung, sondern in Wahrheitsfindung – zu lösen, der höre diese Verhandlungen an. Hier vernimmt man – am Richtertisch – eine sinnlose, überreizte Schärfe des Tons, eine fast persönlich zu nennende Feindschaft wird sichtbar, eine überpäpstliche Unfehlbarkeitspose verhindert jede weichere Tönung –: all dies war bei dem Reichsgericht, das der Stamm war, aus dem auf höheren Befehl die Frucht Staatsgerichtshof reifte (nein, nicht reifte), – all dies, sage ich, war vor wenigen Jahren hier noch nicht möglich. Solche Verhandlungen müssen das Ansehen des obersten deutschen Gerichtshofes in nie wieder gutzumachender Weise erschüttern.

Die Wahrheit finden? O nein. Zwischen Vorsitz und Verteidigung wird ein Beutestück hin und her gezerrt (der Reichsanwalt sitzt in seinem Winkel und schweigt), und es gehört keine Prophetengabe dazu zu sagen, wer in diesem Prozess Sieger sein wird: der Vorsitz.

Und die Zerrupften zahlen die Zeche.

[29]2

Von einer Reihe von Angeklagten wird behauptet, in der Voruntersuchung seien Erpressungen an ihnen versucht oder verübt, Geständnisse seien belohnt, größere Belohnungen seien in Aussicht gestellt.

Margies, ein herzlich unsympathischer Typ, sehr wenig Mensch und sehr viel Tier, aber was tut das zur Sache? Er gibt an, dass er, als er auch beim zweiten Verhör während der polizeilichen Voruntersuchung die Aussage verweigert habe, nicht in seine frühere Zelle, sondern in eine Dunkelzelle zurückgeführt sei, in der er acht Wochen habe zubringen müssen. Während acht Wochen habe er keine frische Wäsche erhalten, der Zukauf von Lebensmitteln aus eigenem Gelde, der den anderen Gefangenen erlaubt gewesen sei, sei ihm trotz Erlaubnis des Untersuchungsrichters nicht gestattet worden, die Freistunde-Bewegung in frischer Luft – sei ihm verweigert.

Die Wahrheit dieser Angaben wird nicht bestritten. Der Kriminalbeamte, der seinerzeit die Vernehmungen vornahm, erklärt unter seinem Eid, er habe diese Strafmaßnahmen nicht veranlasst. Dies ist ihm zu glauben, ist damit aber die Sache erledigt? Wer hat dies denn veranlasst? Weiß man so wenig vom Innenbetrieb der Gefängnisse, dass es noch der ausdrücklichen Versicherung bedarf, ein Kriminaloberinspektor habe diese Maßnahmen nicht veranlasst? Er wird sich hüten! Es ist ja auch gar nicht nötig, man weiß doch, wie rasch in einem Gefängnis das Ergebnis solcher Vernehmung durchsickert. Er hat nicht gestanden! Wir werden es dem Bruder schon zeigen!

[30]Das Gegenstück: Poege. O welcher Glanz! Er hat den wahren Bekenntniseifer gezeigt, sogar dem Oberinspektor ist er mit seinen ewigen Vorführungswünschen, seinem Enthüllungsfieber ein wenig auf die Nerven gefallen. Aber immerhin hat ihm dieser Oberinspektor doch als Gegenleistung einige Versprechungen gemacht, über deren Tragweite natürlich die Aussagen des Verhörführers und des Beschuldigten ein wenig auseinandergehen.

Immerhin leugnet dieser Beamte nicht, dass er dem Poege, in Anbetracht seiner Verdienste um Rettung des Staates, eine weitgehende Strafermäßigung, vielleicht gar Strafaussetzung in Aussicht gestellt hat. Sogar von der Verhandlung dieses Prozesses in Stuttgart statt in Leipzig soll die Rede gewesen sein, damit Held Poege nicht den Blicken seiner Leipziger Genossen im Gerichtssaal ausgesetzt wird. Und natürlich hat Poege in keiner Dunkel-, in keiner Einzelzelle gelegen, man hat ihn in Gemeinschaftszelle gelegt, wo er andere Untersuchungsgefangene ausgehorcht und ihre Geständnisse brühwarm hinterbracht hat, man hat ihm diese »häufigen Spaziergänge in frischer Luft zum Polizeipräsidium gerne gegönnt«, er hat gutes Essen und Zigaretten bekommen, mit späterer Anstellung im Polizeidienst hat man gewinkt, am Horizont erscheinen undeutlich die Umrisse eines Auslandspasses.

All dies lebt, all dies kommt täglich vor, und wir wundern uns nicht einmal darüber. Es ist eben so, wer soll es ändern? Der Untersuchungshäftling, der sich seiner Haut wehrt, im Dunkelarrest, der Untersuchungshäftling, der sein eigen Nest beschmutzt, beim Spazierengehen.

Wir zahlen Prämien für die schuftigste Gesinnung.

[31]3

In diesem Prozess kann man melancholische Betrachtungen über »die Macht der Presse« anstellen. Über ihre Macht, die Wahrheit zu verbergen. Einige wenige Blümlein aus einem vollen Strauß.

Eines Tages erschienen in einer Reihe der größesten Tageszeitungen Berichte und Bilder, die die Abführung des Rechtsanwalts Samter aus dem Gerichtssaal durch Schupoleute zeigten. Auf diesen Bildern sah man einen Herrn in Robe mit von Schreien verzerrtem Gesicht und gekrallten Fingern, den rechts wie links je ein kerniger Schupomann gepackt hatte. Am anderen Tage erklärte der Vertreter der Verteidigung, dass Samter keineswegs abgeführt sei, sondern von selbst den Gerichtssaal verlassen habe. – Welche von all diesen Zeitungen hat eine Berichtigung gebracht?

Bei seiner Vernehmung hat der Angeklagte Skoblewsky erklärt: »Ich habe mich nie Hellmut, Gorew, Wolf genannt, sondern nur Skoblewsky.« Eine Reihe von Blättern berichtet getreulich: »Ich habe mich nie Skoblewsky, Gorew, Wolf genannt«, wodurch ein Skoblewsky zu einem geheimnisvollen Niemand umfrisiert wurde.

Als der Angeklagte Poege in der Hauptverhandlung einen Teil seiner Geständnisse aus der Voruntersuchung mit der Begründung widerrief, er habe sie nur wegen der ihm von der Polizei in Aussicht gestellten Belohnungen gemacht, und diese Belohnungen des Genaueren angab, dachte ich: »Nun, dies wird wie eine Bombe einschlagen.« Ein Teil der Rechtspresse meldete lakonisch: »Der [32]Angeklagte Poege widerruft seine Geständnisse.« Punktum. Streusand.

Diese drei Beispiele zeigen die drei Wege der Macht: vollkommen Neues erfinden, Geschehenes verfälschen, Gehörtes unterdrücken. Alle drei Wege werden eifrig benutzt.

Dies wären Kleinigkeiten? Bitte schön, im Zuhörerraum des Staatsgerichtshofs haben rund hundert Personen Platz, die ausschließlich Rechtsblätter lesen – nun, wie viele Personen?

4

Heute sind die Sachverständigen vernommen worden. Welche Änderung! Welche Sanftmut! Milde wie ein Vater gestattete der Vorsitzende den Anwälten, ihrem Fragedrang Genüge zu tun, und, als es doch einmal bei einer Frage des Rechtsanwalts Samter zu einem Zusammenstoße zu kommen drohte, war alles im Handumdrehen in den verbindlichsten Formen erledigt. Wo sind die rauen Töne von gestern? Des Winters scharfe Winde wehen nicht mehr, ist der Frühling im großen Sitzungssaale eingezogen? Ach, es ist, als ob in einer arg neurasthenischen Familie ein hoher Besuch angekommen ist, alles benimmt sich, niemand zankt sich mehr, morgen, o morgen werden wir wieder unter uns sein!

Das Publikum zerfällt in zwei Parteien. Die eine seufzt: Der arme Vorsitzende hat es so schwer! Die andere: Die unseligen Anwälte sind zu bedauern. Der unparteiische Beobachter schwankt zwischen einem einerseits, andererseits, [33]zwischen sowohl, als auch, und ihm fällt bei näherem Zuhören auf, dass in diesem Prozess die Verteidigung eine besondere Taktik anwendet.

Gewiss, da ist noch ein junger Anwalt, der mit unendlichem Eifer dicke Bücher wälzt, Reichsgerichtsentscheidung auf Reichsgerichtsentscheidung zitiert und immer wieder erleben muss, dass all dies für die Leitung der Verhandlungen gar keine Verbindlichkeit besitzt. Der Reichsjustizminister hat ihr ja eben erst bestätigt, dass sie völlig nach eigenem Ermessen zu entscheiden hat.

Doch andere Verteidiger haben längst eingesehen, dass auf dem formalen Wege nicht zum Ziel zu kommen ist. Es handelt sich ja nicht so sehr um die Straftat der Angeklagten, die ziemlich klar zutage liegen, da alle nach ihren ersten Verbrechen zusammengeklappt sind und wissentlich oder unwissentlich Komödie gespielt haben, es handelt sich hier darum, wie diese einzelnen Taten zu einer allgemeinen Gefahr ausgerufen worden sind, wie dieser ganze Prozess inszeniert worden ist, seine Aufbauschung, seine einseitig parteipolitische Frisierung, um den ganzen Fragenkomplex: Wie ist dieser Prozess »gemacht« worden? (Und: wer hat ihn gemacht?)

Von Zeit zu Zeit gelangt der Verteidigung in dieser Hinsicht ein Vorstoß. Da taucht plötzlich eine seltsame Broschüre auf. Ist sie Poege von der Polizei zugesteckt worden und hat er aus ihr seine Aussagen abgeschrieben? Er behauptet es. Ist sie erst aufgrund der Aussagen von Poege verfasst worden? Ein Polizeibeamter behauptet es. Wie aber sind dann die Aussagen Poeges in die Hände des Broschürenverfassers gekommen?

[34]Das taucht auf aus dem Wust, entschwindet ferner, versinkt.

Da wird die Abschrift einer Krankengeschichte des Rausch aus dem Lazarus-Krankenhause vorgelesen. Und plötzlich stellt die Verteidigung fest, dass in dieser Abschrift an entscheidender Stelle Abschwächungen und Streichungen dem Urtext gegenüber vorgenommen sind. Der Kriminalinspektor Koppenhöfer hat eines Tages Rausch die Lichtbilder seiner Mörder vorgelegt, er hat ein mindestens dreiviertelstündiges Verhör mit ihm angestellt. Von diesem Tage an ist eine entschiedene Wendung zum Schlechten eingetreten, vier oder fünf Tage danach starb Rausch, selbst den Ärzten überraschend. Und gerade in dem Text der Krankengeschichte von diesem Tage finden sich redaktionelle Änderungen. Seltsam. Sehr seltsam!

Es wäre von Interesse, einmal das Buch zu schreiben: Wie inszeniert man politische Prozesse, A. gegen rechts, B. gegen links. Es würde ein sehr phantastisches Buch abgeben, völlig romanhaft.

5

Richten die Angeklagten ihre Blicke auf das ihnen gegenüberliegende Fenster, so lesen sie in einem Wappen die Inschrift »Fidelitas«. Sie werden dies als eine wenig angebrachte Aufforderung zum Frohsinn ansehen. Und gibt es einmal wirklich Gelegenheit zum Lächeln, achtet niemand ihrer. Der Vorsitzende sagte: »Der Gedanke liegt allerdings [35]nahe, dass der Getötete, als ihm die Bilder der Täter vorgelegt wurden, diesen Ausspruch aus Rache getan hat.« Unbemerkt vorübergegangen.

Warnung vor Büchern. Erzählungen und Berichte

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