Читать книгу Warnung vor Büchern. Erzählungen und Berichte - Ханс Фаллада - Страница 18
[71]Wer kann da Richter sein?
ОглавлениеNun wird sich ja wohl über kurz oder lang in Berlin jener Prozess abspielen, in dem eine Tochter gegen ihren Vater wegen Körperverletzung, denke ich, klagen wird. Man erinnert sich gut: Zwei Töchter des Kommunalbeamten Weber gingen mit einer Freundin ins Wasser, ersäuften sich, weil ihnen das Leben untragbar, schmutzig hässlich geworden schien. Die dritte der Schwestern, unsäglich erschüttert, will gegen den Vater vortreten, der die Schuld an diesen vertanenen Leben tragen soll.
Manchmal, wenn ich nicht einschlafen kann, spiele ich mir diesen Prozess vor, mit fingierten Personen, ohne Detailkenntnis, einen Dutzendprozess, mir durch die Schwere des Opfers von unzähligen gleichgearteten unterschieden. Leicht, nicht wahr, scheint es zu erraten, welche Beweggründe die Schwester zu ihrem Schritt getrieben: Die tausendmal Gedemütigte, die Stille, die dem Kampf auswich, die von dem Vater, der neuen Mutter wegzog, ein neues Leben für sich zu beginnen, sie musste schrecklich aufhorchen, als die Nachricht von jenem dreifachen Tod sie erreichte. Hatte sie nicht eine Pflicht versäumt? Sie hatte gemeint, nur für sich stille zu sein, nur für sich auszuweichen, nun erwies es sich, dass sie für die Schwestern mit geschwiegen hatte. Nun, wenn sie für sich klagt, klagt sie für die schweigenden Toten, klagt sie gegen den Vater, entsühnt die Schwestern, entschuldet sie.
Mehr im Hintergrunde, eine halbdunkle Gestalt, dieser Vater. Man weiß so wenig von ihm, es liegt so nahe, gegen ihn Partei zu sein. Die Jugend gegen das Alter, drei tote Mädchen gegen einen lebenden Beamten. Was hat er denen [72]getan? Er hat erwachsenen Mädchen eine neue Mutter gegeben, seine Tochter ›liederlich‹ und ›verseucht‹ geschimpft, sie geschlagen.
Nein, hier weiß man nichts, alles dunkel. Alles Vorhergegangene müsste aufgerollt werden und man würde kaum anderes finden als dieses: Scheltworte, Schläge. Irgendeinmal war es dann zu viel. Wer soll da Richter sein? Wer entscheiden, ob gerade aus des Vaters Hand der Tropfen kam, der über den Rand des Gefäßes lief?
Zwar: ein Kriminalbeamter … Kaum wird dieser Mann ein Verehrer der Frauen, ein Freund der Menschen gewesen sein. Dies war sein Schicksal, dass sein Beruf auf ihn abfärben musste. Wer tagaus, tagein sein Leben hindurch, sein ganzes Leben hindurch, Dirnen und Zuhältern, Diebinnen und Einbrechern Fallen stellen, sie einschüchtern, überlisten, erraten muss, wer sein Lebtag im Elend und Verbrechen zu wühlen hat, er wird zu sehr geneigt sein, leichte, auch leichtsinnige, tänzerische Schritte junger Menschen für das zu nehmen, was sie nicht sind, doch sein könnten: Vergehen, Verbrechen, Vorboten dieser beiden.
Auch er hatte gemeint, das Rechte zu tun, einem alle Verachtenden war es nicht gegeben, Halt zu machen in seiner Verachtung vor dem eigenen Kinde.
Doch nun schiebt sich in meinem nächtlichen Schattentheater – man erinnert sich doch, in einer fingierten Welt, mit Durchschnittsfiguren, spiele ich mir eine Dutzendgeschichte ab, man erinnert sich doch? –, nun schiebt sich zwischen die Parteien eine dritte Figur, wächst, wird riesengroß, von ihr wird die Lösung erwartet, muss sie kommen: der Richter.
[73]Alles ist ja so einfach. Da ist ein Amtsgericht mit so und so viel Richtern für so und so viel Bezirke, und der und der Richter ist von Scheines wegen zuständig in dieser Sache, er hat zu entscheiden.
Wenn es auch Nacht ist, der Schlaf noch immer nicht kommt, ins Ungemessene wollen wir darum doch nicht phantasieren.
Keine Furcht! Wir wissen zu gut, derartig unwägbare Dinge sind erst recht in keinem Prozess zu wägen, es ist auch gar nicht Sache eines Prozesses, sie zu wägen. Der Richter hat festzustellen, ob eine Körperverletzung stattgefunden hat oder nicht, das ist alles.
Nein, die Klägerin wird wohl doch nur für sich handeln, nie für die toten beiden Schwestern. Nein.
Aber etwas anderes ereignet sich nun, ein grotesker Gedanke kommt mir, nach so viel Schwulst etwas sehr Triviales: ein Bedenken. Ja, sage ich in mir, wird man denn, kann ich denn dieser Tochter völlig glauben? Der Vater hat ihr Liederlichkeit vorgeworfen, sie wird also einen Liebhaber haben, sie ist nicht verheiratet, davon ist nichts bekannt, also –? Sie ist mündig, zweifelsohne, den Vater ging das eigentlich nichts mehr an, sicher, aber schließlich ist er doch der Vater. Das kann man am Ende verstehen, so ein Mädchen, gestern war sie unmündig, da durfte ich sie noch schlagen, heute ist sie mündig, wenn da die Hand noch einmal ausrutscht …
Sie ist unsittlich, und wer unsittlich ist, der lügt auch. Ihre Glaubhaftigkeit ist vermindert, ihre Angaben sind mit Vorsicht aufzunehmen, sie will sich entlasten.
Nun spricht wieder etwas anderes: Manches Jahr ist es schon her, dass Alfons Kerr sagte, die Zeiten des [74]geschlechtlichen Alleinbesitzes gingen vorüber, seien beinahe schon vorbei, es mehrten sich die Anzeichen … Mancher ist seiner Ansicht geworden. Aber hundert Jahre dauert das noch, bis es anerkannt wird, in den Kreis offizieller Betrachtungen einbezogen.
Wir, wir sind noch hundert Jahre zurück. Wir halten immer noch bei der Virginität des jungen Mädchens. Ein Mädchen, das keinen Liebhaber gehabt hat, ist anständig (und glaubwürdig), aber ein Mädel, das einen Liebhaber gehabt hat, ist unanständig (und vermindert glaubwürdig). Wer illegitim besessen worden ist, ist im Wert herabgesetzt.
Alte Geschichten? Uralte! Und doch sehen wir immer wieder und werden es auch diesmal wieder sehen, unsere ganze Umwelt steht auf und schreit: Unsittlich! Recht ist ihr geschehen!
Wer kann da richten –? Einer jener, die auf Moral schwören, täte der Tochter Unrecht, und einer von denen – muss ich der Probabilität halber sagen, die auf Unmoral schwören –? – dem Vater!
Eine Sackgasse, nicht wahr, hier geht es nicht weiter, wenn der Urfall dieses Falls entschieden werden soll, so kann er eben nicht entschieden werden.
Dieser Dutzendfall für alle Fälle. Richter, die wie Kaufleute waren, entrüsten sich über einen, der einen Wechsel unterschreibt, für den noch keine Deckung da ist, der erst aus späteren, immerhin nicht mathematisch sicheren Einnahmen gedeckt werden soll, Richter, die politisch entschieden Partei sind, entscheiden politische Prozesse, Richter, deren künstlerische Bedürfnisse sich nicht über das Ullsteinbuch erheben, urteilen über Kunst. Wie kann das [75]sein? Sind sie keine Menschen? Werden sie nicht ihre Töchter zu verteidigen meinen gegen jene Tochter?
Und: es ist nun einmal nicht anders, für den Richter gibt es eine rein fiktive Welt, eine Welt der festgesetzten Normen, dort ist die Jungfräulichkeit des Mädchens festgesetzt, das normale Schamgefühl urteilt über Kunst und Kredit beansprucht nur, wer Deckung bereits hat. Eine irreale Welt, eine Welt, die nichts, nichts mit dem Leben gemein hat.
Wenn dem aber so ist, warum erregen wir uns so, warum haben wir noch immer nicht gelernt, diese irreale Welt als etwas Gegebenes hinzunehmen? Warum schreien wir nach Gerechtigkeit?
Es sitzt in uns – mit anderen Lügen – von der Kindheit, von der Schule her, dass Recht und Gerechtigkeit sich decken, sich wenigstens decken sollen. Ach, sie decken sich nicht, sie haben nicht einmal etwas miteinander gemein. Wir müssen von unsren ungerechten Ansprüchen ablassen.
Kein Urteil, das gefällt wird, wird endgiltig gefällt. Es kommt eine andere Generation, mit ihr ein anderes Denken. Und jede Generation hat ihre Hexenprozesse gehabt und jede kommende wird sie haben. Doch bleibt zu wünschen, dass der Richter nicht gar zu hartnäckig seine Welt gegen das Leben verteidige. Urteilen, verwerfen ist nichts, verstehen alles.
Doch auch dann noch kann kein Richter gerecht sein und kein Urteil irgend etwas entscheiden.