Читать книгу Dies Herz, das dir gehört - Ханс Фаллада - Страница 8
4
Reisebilder
ОглавлениеWenn Johannes Wiebe noch viele Jahre später an seine Ausreise nach den Staaten und an seine erste Zeit dort dachte, so schien ihm das alles wie ein endloser, wirrer Traum, grau in grau, allmählich immer tiefer grau werdend. Einzelne Bilder hoben sich mit stärkerer Leuchtkraft aus der allgemeinen Düsternis, aber der Grundton, der sich in allem Erleben wiederfand, war doch der einer tiefen Verzweiflung, die immer stärker wurde, bis sie schließlich seine ganze Seele erfaßt hatte.
Zu Anfang hatte er noch manchmal lachen, sich an Neuem freuen, sich für Absonderliches interessieren können. Schließlich aber wohnte nur noch eine dunkle Verzweiflung in ihm, die nichts mehr lichten konnte, ein Gefühl, daß alles umsonst war, daß er nur noch vegetierte, weil er keine Wurzeln mehr hatte, die in einen Heimatboden faßten – er war nirgends mehr zu Hause.
Er war ja nicht gerne aus der Heimat fortgegangen, sosehr er sich das auch einreden wollte. Im Zorn hatte er gesagt, daß er von ihnen allen fortwollte – und da schienen sie plötzlich alle sein Gehen so selbstverständlich zu finden, daß er nicht mehr zurückkonnte. Er war ja noch sehr jung, und er war dazu noch ein sehr weicher, recht verwöhnter Junge, es war eigentlich unverständlich, daß sie ihn so gehen ließen. Er hatte etwas aufzugeben, seine geliebten Bilder und Bücher, ein wohlgeordnetes Heim, die Liebe einer sehr guten, wenn auch in den letzten Jahren ein wenig fremd gewordenen Mutter – aber das merkte er erst später, wieviel es war, was er aufgegeben hatte.
Aus dem Wust der trüben Erinnerungen hebt sich jene Nacht heraus, da er gehen mußte, die Mutter hatte ja »auf Wiedersehen« gesagt. Er hat wieder lange im dunklen Zimmer am Fenster gestanden, aus dem dunklen, entlaubten Garten stieg ein trüber Dunst, ihn schauerte. Keiner kam zu ihm, keiner gab ihm ein gutes Wort …
Er tritt vom Fenster zurück, schließt es, macht Licht, ordnet seine Papiere. Es ist alles schon da, der Paß mit seinem Visum, die Dampferkarte – natürlich erster Klasse, wie es sich für einen Sohn aus reichem Hause gehört –, auch Geld. Reichlich viel Geld für den Anfang eines Mannes, der sich sein Geld selbst verdienen will.
Einen Augenblick hält er sein Scheckbuch zögernd in der Hand, dann überkommt ihn der Haß auf den Bruder. Durch des Bruders Hände würde jeder Scheck gehen, den er drüben ausgibt, der Bruder würde befriedigt und höhnisch grinsen: ›Siehst du, solch Bürschchen bist du! Habe ich doch recht gehabt!‹
Er legt das Scheckbuch offen auf seinen Tisch, jeder Schritt, den er tut, trennt ihn schon von der Heimat, wirft ihn der Fremde in die Arme. Aber dieses Haßgefühl ist doch so stark, daß es ihn den Koffer aufnehmen und aus dem Zimmer gehen läßt.
Langsam geht er durch das Haus, den Koffer in der Hand, lange bleibt er vor dem Zimmer seiner Mutter stehen. Wenn sie doch käme, wenn sie ihn so sähe – den Sohn, der sein Vaterhaus verläßt!
Aber sie kommt nicht. Das Haus ist totenstill.
Wie er nun die Treppe zur Diele hinabsteigt, beseelt ihn von neuem die Hoffnung, die Mutter könnte unten sitzen, ihn abfangen wollen.
Aber wiederum nichts. Die Diele ist leer und dunkel. Er stößt gegen den eingeschmuggelten Ritter, der Ritter klappert blechern – aber nichts rührt sich. Er öffnet die Haustür. Drei Minuten steht er in der Haustür und wartet noch einmal, eine letzte Chance – für die andern.
Dann fällt die Tür seines Vaterhauses hinter ihm zu, es hallt dumpf wider. Er steht und lauscht dem Schall nach – hundertmal, zehntausendmal ist diese Tür hinter dem Kind, dem Knaben, dem Jüngling Johannes Wiebe zugeschlagen: diesmal scheint der Ton anders zu sein. Es hallt nicht nur im Haus, es hallt auch in seinem Herzen wider.
›Nun komme ich nie wieder zurück‹, denkt er und versucht dann, es sich halblaut vorzusprechen. Aber das begreift sich noch nicht. Noch nicht!
Auf dem Fabrikhof springt Bella, die Wachhündin, ihn an. Er streichelt sie eine Weile, bis der alte Wächter Lobrian heran ist. Er muß noch mit einem Menschen hier sprechen, ehe er ganz fortgeht.
»Guten Abend, junger Herr«, mümmelt der Alte. »Soll ich Ihnen den Koffer tragen?«
»Nein, danke, Lobrian. Wenn Sie mir nur die Pforte aufschließen wollten?«
»Sie gehen wohl wieder auf Reisen, junger Herr?«
»Ja, Lobrian, und diesmal weit fort, bis nach Amerika!«
»Nach Amerika! Sie haben es aber gut, junger Herr, da soll es Arbeit und Essen die Fülle geben!«
»Die haben auch ihre Sorgen, Lobrian.«
»Glauben Sie das doch nicht, junger Herr! Ich habe es doch gelesen, wie gut es denen geht. Warum sollte es uns so schlecht gehen, wenn es nicht andern dafür gutgeht?! Es gleicht sich alles aus auf dieser Erde, junger Herr!«
»Glauben Sie das wirklich, Lobrian? Ach, seien Sie doch so gut und sehen Sie einmal auf der Straße nach, ob da wer von unseren Arbeitern steht.«
Plötzlich ist dem jungen Johannes die Angst überkommen, da könnte noch einer von den Monteuren stehen und die Erfüllung seines Versprechens verlangen, daß morgen die Arbeit wieder anfängt, etwa der Martin Raschke … Wie ein Wortbrüchiger, wie ein Fahnenflüchtiger kommt er sich vor!
»Da ist niemand, junger Herr. Wer soll auch da sein? Wir haben doch zugemacht.«
»Ja, wir haben zugemacht. Gute Nacht, Lobrian, und hier …« Er gibt dem Wächter Geld, er kann es nicht lassen, er ist der junge Herr aus gutem Hause.
»Danke schön, junger Herr, und glückliche Reise! Und kommen Sie gesund zurück!«
»Vielleicht komme ich gar nicht zurück?«
»Ih, wie werden Sie nicht! Sie denken, weils da drüben so gut aussieht und hier so schlecht? Das wendet sich auch einmal, dann sind wir oben, und die sind unten. Da werden Sie doch nicht fehlen wollen?«
· · ·
Und ein anderes Bild taucht auf. Im Hamburger Hafen liegt der Dampfer, und die Auswanderer gehen an Bord. Fahle Gestalten, jämmerliche Gestalten – mit jämmerlichem Sack und Pack. Johannes Wiebe sieht von seinem Promenadendeck auf sie hinunter, wie sie an Bord zotteln, einem ungewissen Schicksal entgegen, mit weinenden Frauen und plärrenden Kindern.
Und doch beneidet! Denn an Land steht ein dichter Schwarm derer, die ebenso zerlumpt, ebenso verzweifelt sind, denen aber das Schicksal nicht die Gunst geschenkt hat, Einwanderungserlaubnis in die Staaten zu erhalten.
»Ach, Tilly, wein doch bloß nicht. Ihr habt’s doch jetzt geschafft, drüben habt ihr gleich Arbeit. Und in sechs Monaten fahrt ihr ’n eignes Auto!«
»Schick gleich Dollar. Du weißt, Omi hat’s kaum noch zum Leben.«
»Ach, wer da auch mitfahren könnte! Nur raus aus dem Dreck!«
»Hier wird man doch nie wieder was!«
»Sieh doch bloß mal den Ausgemergelten, der so hustet! Den Schwindsuchtskandidaten lassen sie rüber an all die schöne Arbeit, und wir, mit unsern guten Knochen, dürfen weiter stempeln!«
Ja, dies war einer der Momente, da die Wolke sich lichtete, da sich Johannes Wiebe wie ein Bevorzugter vorkam. All diese Überladenen, Verarbeiteten, Besorgten hatten noch den Mut zu einem guten Start – wie sollte er ihn nicht haben müssen? Er fing drüben ganz anders an.
Dann, als die Küste Deutschlands langsam verschwunden war, saß er im Rauchsalon neben einem Deutsch-Amerikaner.
»Ich habe mir the old country angeschaut«, sagte der Deutsch-Amerikaner. »Aber ich leike es gar nicht more.«
»Was tun Sie nicht?«
»Ich leike es nicht. Wie sagen Sie in Deutsch? To like?«
»Sie lieben es nicht mehr?«
»Nein, es ist – nonsense! Alles Bruch. Aber God’s own land …« Der Mann beniest es. Er wischt sich die Nase.
»Ich muß mich vor Zug sorgen. Ich habe einen Kalt.«
»Was haben Sie? Wie lange sind Sie denn schon drüben? Sie können ja kaum noch Deutsch!«
»Ein Jahr – aber das Deutsche verlernen Sie schnell. Das Deutsche ist alles Mist. Wir Amerikaner …«
»Sie Affe!« hatte der junge Johannes Wiebe gesagt und war aufgestanden. So sehr deutsch fühlte er sich damals noch. Er hatte ja gerade erst die Heimat verlassen, er spürte noch nicht, daß er die Wurzeln ohne Erde hinter sich dreinschleppte.
Aber das gab sich, es gab sich so schnell.
Er erinnert sich an seine erste Hotelnacht in New York. Man hatte ihn in das Hotel des Vereins Christlicher Junger Männer geschickt, also ein Hospiz, wie er gedacht. Aber es war ein Wolkenkratzer. Er bekam Zimmer 997. Ein kleines Loch mit Bett, Stuhl, Garderobenständer, Spiegel.
Sonst noch etwas? Nichts sonst.
Er mußte sich am Morgen im Toilettenraum waschen.
»Kann ich hier nicht irgendwo ein Privatbad haben?« fragte er fast verzweifelt. »Ich bin gerne für mich allein.«
»Aber nein, mein Herr, ganz ausgeschlossen! Wir Amerikaner machen alles gemeinsam: ein Land, ein Geschmack, eine Idee – ein Waschraum. Bitte sehr! Es wird Ihnen schon gefallen!«
Und wie es ihm gefiel! Mit vierzig, fünfzig jungen Amerikanern in einem Waschraum! Sie singen, sie gurgeln, sie putzen Zähne, schlagen Türen, johlen, schneiden sich die Fußnägel – eine halbe Stunde muß er stehen, bis ein Waschbecken für ihn frei ist.
Wie ein Traum steigt vor ihm das Zimmer daheim auf. Hat er nicht so etwas gesagt, er wolle nach Amerika, um ein Mensch für sich zu sein? Der Bruder hatte gelacht – sollte der Bruder recht gehabt haben zu lachen?
Aber das war erst der Anfang.
Er erinnert sich schrecklicher italienischer Restaurants aus dieser ersten Zeit, mit schwärzlichen Kellnern, schwärzlichen Hemden und schmierigen Fräcken. Alles schreit, spuckt, schwatzt, bohrt in den Zähnen und bohrt in der Nase. Alles Essen ist Normalfraß.
Und er erinnert sich an Kaffeestuben, wo er vom laufenden Band alles nimmt, was er braucht: Kaffee und Milch, Haferbrei und Sandwichs, Normalfrühstück, geistlos, lieblos …
Und er erinnert sich an einen Arbeiter im Bus, der ihm ein Taschenmesser in die Hand gibt und von ihm verlangt, er solle ihm einen Splitter aus der Hand schneiden – er, das Söhnchen aus feinem Hause, vor allen Leuten im Bus, einem Arbeiter. Er hat einmal ein echtes Gefühl mit den zerrissenen Sohlen eines alten Arbeiters gehabt, er hat schon manches echte Gefühl in seinem Leben gehabt, die Resultate waren gering.
Er erinnert sich an schreckliche Kinovorstellungen, wo zwischen den Bildern die albernsten Schlagertexte auf der Leinwand erschienen, und das ganze Publikum singt begeistert schreiend mit, außer sich vor Vergnügen.
Und er erinnert sich schöner Konzerte, die das Publikum nur dazu benutzt, sich zu zeigen, mit Brillanten und nackten Brüsten, mit den schönsten Frauen, mit den berühmtesten Stars.
Er fühlt sich namenlos allein. Er weiß nichts mit sich anzufangen, er ahnt nicht, welche Arbeit er unter diesem brutalen, unbekümmerten, spuckenden und schreienden Volk tun könnte! Langsam schwindet seine Barschaft dahin, so ängstlich er sie hütet, wie gering er seine Ansprüche auch stellt.
Und er erinnert sich gut, wie ihm einmal, in einer nordamerikanischen Stadt, in seinem kleinen Hotel der Portier einen Brief hinhält: »For you, Mister Wiebe?«
Er erzittert, als er diesen Brief nimmt, auf dem er die Handschrift seiner Mutter erkennt.
Er geht mit ihm auf sein kahles Loch, er legt ihn vor sich auf den Tisch, er starrt ihn an.
Er ist allein mit diesem Brief aus der Heimat, von der Mutter. Drunten auf der Straße braust und strudelt es vorüber, zehntausend Menschen, Autos, Lastwagen, das Gebrüll einer Stadt mit Mädchen, Liebe, Feindschaften, Frauen, Haß, Arbeit – er aber ist allein mit seinem Brief.
Dreimal nimmt er ihn in die Hände, um ihn durchzureißen. Er legt ihn wieder auf den Tisch zurück.
Er hat Angst, schwach zu werden, wie der verlorene Sohn in die Heimat zurückzukehren, dem man ein fettes Kalb schlachten muß, um ihn nur satt zu kriegen.
(Oh, das freche, höhnische Gesicht seines Bruders – ohne dies Gesicht wäre alles so einfach! Vor einer Mutter schämt man sich doch nicht!)
Schließlich öffnet er den Brief – zwei Blätter liegen darin: ein Scheck und ein Briefblatt seiner Mutter. Es stehen nur sechs Worte darauf, aber sie treffen ihn ins Herz. »Deine Mutter wartet auf dich, Hannes«, liest er.
Er legt den Kopf auf den Tisch und träumt. Vielleicht weint er auch ein wenig, wer weiß, man sieht es nicht.
Schließlich, nach einer langen Zeit, sieht er hoch.
Er liest noch einmal den Brief seiner Mutter, trotzdem er jedes Wort in ihm kennt. Dann legt er ihn sorgfältig in die – ach! – so dünn gewordene Brieftasche.
Den Scheck aber zerreißt er mit beiden Händen in viele kleine Schnitzel.
Dann nimmt er seinen Koffer und geht wieder einmal aus seinem Zimmer, weiter auf seiner Irrfahrt – ins Nichts.