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c) Vorrangfrage und Verfassungsidentität
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Das BVerfG hat im Lissabon-Urteil eine weitere Kontrollmöglichkeit, die Identitätskontrolle, eingeführt, die gleichfalls dazu führen kann, dass eine Handlung der EU für unanwendbar erklärt wird. Das BVerfG hat dazu Folgendes ausgeführt (BVerfGE 123, S. 267 ff, 353 f):
„Innerhalb der deutschen Jurisdiktion muss es zudem möglich sein, die Integrationsverantwortung … zur Wahrung des unantastbaren Kerngehalts der Verfassungsidentität des Grundgesetzes im Rahmen einer Identitätskontrolle einfordern zu können … Das Bundesverfassungsgericht hat hierfür bereits den Weg der Ultra-vires-Kontrolle eröffnet, die im Fall von Grenzdurchbrechungen bei der Inanspruchnahme von Zuständigkeiten durch Gemeinschafts- und Unionsorgane greift … Darüber hinaus prüft das Bundesverfassungsgericht, ob der unantastbare Kerngehalt der Verfassungsidentität des Grundgesetzes nach Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG gewahrt ist (vgl BVerfGE 113, 273 [296]) … Die Identitätskontrolle ermöglicht die Prüfung, ob infolge des Handelns europäischer Organe die in Art. 79 Abs. 3 GG für unantastbar erklärten Grundsätze der Art. 1 und Art. 20 GG verletzt werden. Damit wird sichergestellt, dass der Anwendungsvorrang des Unionsrechts nur kraft und im Rahmen der fortbestehenden verfassungsrechtlichen Ermächtigung gilt.
Sowohl die Ultra-vires- als auch die Identitätskontrolle können dazu führen, dass Gemeinschafts- oder künftig Unionsrecht in Deutschland für unanwendbar erklärt wird. Zum Schutz der Funktionsfähigkeit der Gemeinschaftsrechtsordnung verlangt die europarechtsfreundliche Anwendung von Verfassungsrecht bei Beachtung des in Art. 100 Abs. 1 GG zum Ausdruck gebrachten Rechtsgedankens, dass … die Feststellung einer Verletzung der Verfassungsidentität nur dem Bundesverfassungsgericht obliegt. In welchen Verfahren das Bundesverfassungsgericht im Einzelnen mit dieser Kontrolle befasst werden kann, braucht an dieser Stelle nicht entschieden zu werden. In Betracht kommt die Inanspruchnahme bereits jetzt vorgesehener Verfahren, mithin die abstrakte (Art. 93 Abs. 1 Nr 2 GG) und konkrete (Art. 100 Abs. 1 GG) Normenkontrolle, der Organstreit (Art. 93 Abs. 1 Nr 1 GG), der Bund-Länder-Streit (Art. 93 Abs. 1 Nr 3 GG) und die Verfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr 4a GG) …“
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Die Identitätskontrolle bezieht sich danach auf den unantastbaren Kerngehalt der Verfassungsidentität des GG, der vom BVerfG in Art. 23 Abs. 1 Satz 3 iVm der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG verortet wird. Das ist nicht ganz schlüssig, da sich der Wortlaut des Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG lediglich auf primäres Unionsrecht (Gründungsverträge, Änderungs- und Beitrittsverträge sowie vergleichbare Regelungen, s. Rn 133) bezieht. Gleichwohl erscheint es im Rahmen einer teleologischen Interpretation vertretbar. Mit dem BVerfG lässt sich das so begründen (BVerfGE 134, S. 366 ff, 384):
„Hat die Maßnahme eines Organs oder einer sonstigen Stelle der Europäischen Union Auswirkungen, die die durch Art. 79 Abs. 3 GG geschützte Verfassungsidentität berühren, so ist sie in Deutschland von vornherein unanwendbar. Auf einer primärrechtlichen Ermächtigung kann eine derartige Maßnahme nicht beruhen, weil auch der mit der Mehrheit des Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG in Verbindung mit Art. 79 Abs. 2 GG entscheidende Integrationsgesetzgeber der Europäischen Union keine Hoheitsrechte übertragen kann, mit deren Inanspruchnahme eine Berührung der von Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Verfassungsidentität einherginge.“
Ein identitätsverletzender sekundärer Unionsrechtsakt ergeht daher nach dieser Rechtsprechung immer auch ultra vires. Denn für die identitätsverletzende Ausübung von Hoheitsgewalt fehlt der EU schlicht die Kompetenz. Dogmatisch lässt sich das auch so begreifen, dass das Integrationsgesetz iSv Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG, sollte es entgegen Art. 23 Abs. 1 Satz 3 iVm Art. 79 Abs. 3 GG Hoheitsrechte übertragen haben, deren Inanspruchnahme die in Art. 79 Abs. 3 GG garantierte Verfassungsidentität verletzen würde, verfassungswidrig und damit nichtig ist. Insoweit taugt es mithin nicht als „Brücke“, dh als „konstitutiver Rechtsanwendungsbefehl“ bzw „nationale Geltungsanordnung“ für die innerstaatliche Geltung von Unionsrecht (s. Rn 167).
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Mithin bezieht das BVerfG die Identitätskontrolle nicht nur auf den Fall einer Übertragung von Hoheitsrechten nach Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG. Denn sie soll sich ausdrücklich gerade auch auf „identitätsverletzende Unionsrechtsakte im Einzelfall“ beziehen (BVerfGE 123, S. 267 ff, 355). Die Feststellung der Unanwendbarkeit eines Unionsrechtsaktes müsse auch dann erfolgen können, „wenn innerhalb … der übertragenen Hoheitsrechte diese mit Wirkung für Deutschland so ausgeübt werden, dass eine Verletzung der durch Art. 79 Abs. 3 GG unverfügbaren … Verfassungsidentität die Folge ist“ (BVerfGE 123, S. 267 ff, 400). Ist der Kerngehalt der Verfassungsidentität durch eine Handlung der EU verletzt, so kann diese vom BVerfG für unanwendbar erklärt werden.
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Mit Rücksicht auf Art. 23 Abs. 1 Satz 3 iVm Art. 79 Abs. 3 iVm Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG prüft das BVerfG im Rahmen der Identitätskontrolle, ob die Übertragung von Hoheitsrechten gemäß Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG den „wesentlichen Inhalt“ des Grundsatzes der Volkssouveränität (vgl Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG) verletzt. Das soll insbesondere der Fall sein, wenn (1) auf die EU die sog. „Kompetenz-Kompetenz“ übertragen wird, (2) dem Bundestag nicht mehr „eigene Aufgaben und Befugnisse von substanziellem politischen Gewicht verbleiben“ (wobei in jedem Fall das „Budgetrecht“ und die „haushaltspolitische Gesamtverantwortung“ beim Bundestag verbleiben müssen) und (3) die Ausgestaltung der EU, insbesondere auch die „organisatorische und verfahrensrechtliche Ausgestaltung der autonom handelnden Unionsgewalt“ nicht (mehr) demokratischen Grundsätzen entspricht (BVerfG, NJW 2019, S. 3204 ff, 3206 f).
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Insbesondere muss danach das Prinzip demokratischer Legitimation auch für die Ausübung von Hoheitsgewalt durch die EU beachtet werden. Hierfür können nicht die gleichen Anforderungen wie in Ansehung nationaler Hoheitsgewalt gelten (Rn 151). Insbesondere können „Einflussknicks“ hingenommen werden, sofern sie „durch andere Legitimationsstränge auf supranationaler Ebene“ kompensiert werden. In jedem Fall gewahrt sein muss jedoch ein „Mindestmaß“ an demokratischer Legitimation. Das gilt auch „mit Blick auf die Europäisierung der nationalen Verwaltungsorganisation und bei der Errichtung von unabhängigen Einrichtungen und Stellen der Europäischen Union“. Deshalb dürfen zB EU-Agenturen nicht beliebig als unabhängige Behörden eingerichtet werden. Vielmehr können auch durch Unabhängigkeit bedingte „Einflussknicks“ nur aus „verfassungsrechtlich legitimen Gründen“ vor Art. 20 Abs. 1 und 2 GG Bestand haben (BVerfG, NJW 2019, S. 3204 ff, 3208).
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In seinem Beschluss vom 15. Dezember 2015 hat das BVerfG außerdem auf die Grundsätze des Art. 1 GG als Bestandteil der Verfassungsidentität Bezug genommen. Zu diesen Grundsätzen gehörten „die Verpflichtung aller staatlichen Gewalt, die Würde des Menschen zu achten und zu schützen (Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG), aber auch der in der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG verankerte Grundsatz, dass jede Strafe Schuld voraussetzt“ (sog. „Schuldgrundsatz“; BVerfGE 140, S. 317 ff, 341). Dabei hat das Gericht erneut jede Relativierung im Einzelfall ausgeschlossen (ibidem, Rz 49).
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Auf dem Weg über Art. 1 Abs. 1 GG kommt das BVerfG – im Rahmen der Verfassungsidentitätskontrolle – zur Grundrechtskontrolle im Einzelfall. Wo es um die Verletzung des grundrechtlichen Achtungsanspruchs aus der Menschenwürde durch Unionsrechtsakte geht, zieht sich das BVerfG nicht mehr (wie bisher, s. Rn 186) aus der Grundrechtskontrolle zurück, sondern sieht sich zur Prüfung im Einzelfall eines Grundrechtsverstoßes befugt. Damit aber ist die Einzelfallkontrolle nicht nur für Art. 1 Abs. 1 GG, sondern für alle Grundrechte des GG eröffnet, weil und soweit es um den jeweiligen Menschenwürdekern des betreffenden Grundrechts geht (vgl BVerfGE 109, S. 279 ff, 310 f).
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Für Zwecke einer solchen Grundrechtskontrolle im Einzelfall kann das BVerfG über eine Verfassungsbeschwerde angerufen werden. Dabei sollen allerdings erhöhte Anforderungen an die Darlegungslast bestehen. Es müsse „substantiiert dargelegt“ werden, inwieweit die Menschenwürdegarantie im Einzelfall verletzt ist (BVerfGE 140, S. 317 ff, 341 f). Gegenständlich kann sich dabei die Verfassungsbeschwerde auch auf solche Akte deutscher Staatsgewalt beziehen, die vom Unionsrecht „determiniert“ sind (ibidem, Rz 51).
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Mit dieser Rechtsprechung begibt sich das Gericht freilich – durchaus sehenden Auges (vgl BVerfGE 140, S. 317 ff, 354 f, 359) – auf Kollisionskurs mit dem EuGH. Dieser hat im Melloni-Urteil (s. Rn 1316) entschieden, dass nationaler Grundrechtsschutz keinesfalls, selbst wenn er höheren Schutz als durch die Unionsgrundrechte bietet, den Vorrang, die Einheit und Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigen darf.
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Ebenso wie im Fall der Ultra-vires-Kontrolle (Rn 211) kann der Einzelne im Wege der Verfassungsbeschwerde das BVerfG zwecks Identitätskontrolle anrufen. Hierzu kann er entweder eine Verletzung von Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG behaupten, weil sein Anspruch auf demokratische Selbstbestimmung durch Eingriff in die Verfassungsidentität beeinträchtigt werde, oder eine Verletzung von Art. 1 Abs. 1 GG oder des Menschenwürdekerns des jeweils betroffenen Grundrechts, weil das Handeln der EU mit der Menschenwürde unvereinbar sei (s. BVerfG, NJW 2019, S. 3204 ff, 3206, 3211).
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Der Schutz der Verfassungsidentität ist kein deutsches Spezifikum. Zum einen hat die EU die Verfassungsidentität aller Mitgliedstaaten zu achten (Art. 4 Abs. 2 Satz 1 EUV). Zum anderen ist der Gedanke eines absoluten Schutzes der nationalen Verfassungsidentität auch dem Verfassungsrecht zahlreicher anderer EU-Mitgliedstaaten geläufig (Nachweise bei BVerfGE 134, S. 366 ff, 387; aktualisiert in BVerfGE 140, S. 317 ff, 340 f; 142, S. 123 ff, 197 f).
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Allerdings ist auch zu sehen, dass eine Nichtanwendbarkeitserklärung des BVerfG, mit der Unionsrecht nach einer Ultra-vires-Kontrolle oder einer Verfassungsidentitätskontrolle (oder einer in deren Rahmen durchgeführten Grundrechtskontrolle am Maßstab des Art. 1 GG) innerstaatlich für nicht anwendbar erklärt würde, eine rechtlich nicht mehr lösbare Krise auslösen dürfte. Denn der EuGH wäre gemäß dem Prüfprogramm des BVerfG (s. Rn 203 und Rn 226) vorab bereits mit Fragen der Auslegung oder Gültigkeit des betreffenden Unionsrechtsakts befasst gewesen. Die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens (Art. 258 AEUV) durch die Kommission gegen Deutschland vor dem EuGH wegen der Nichtanwendbarkeitserklärung des BVerfG wäre zwar möglich. Der EuGH dürfte aber auf seiner Rechtsprechung, wie er sie im Vorabentscheidungsverfahren in Bezug auf den konkreten Unionsrechtsakt schon abschließend zum Ausdruck gebracht hatte, weiterhin beharren. Gelöst werden könnte die Krise dann wohl nur noch politisch, zB im Wege einer Änderung des Unionsrechts.
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Zusammenfassung: Im Bereich der verfassungsrechtlichen Grundstrukturen geht das BVerfG von einem faktischen Vorrang des GG aus. Sowohl bei der Ultra-vires-Kontrolle als auch bei der Identitätskontrolle kann das BVerfG offensichtlich und erheblich kompetenzwidrige bzw den unantastbaren Kerngehalt der Verfassungsidentität des GG verletzende Maßnahmen der EU für in Deutschland unanwendbar erklären. Es handelt sich dabei nicht um eine eigentliche Vorranglösung, weil nicht eine Kollision zwischen Unionsrecht und deutschem Recht aufgelöst, sondern eher am Entstehen gehindert wird. Der Sache nach aber ist dem BVerfG zuzustimmen, dass dadurch sichergestellt wird, „dass der Anwendungsvorrang des Unionsrechts nur kraft und im Rahmen der fortbestehenden verfassungsrechtlichen Ermächtigung gilt“ (BVerfGE 123, S. 267 ff, 354).
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Bei einer Zusammenschau der drei vom BVerfG beanspruchten Kontrollinstrumente (Grundrechts-, Ultra-vires- und Identitätskontrolle) fällt auf, dass sie hinsichtlich des Prüfprogramms nicht einheitlich gehandhabt werden. Während sich die Ultra-vires-Kontrolle und die Identitätskontrolle – wie auch das OMT-Verfahren (s. Rn 205) und der Beschluss vom 15. Januar 2015 (BVerfGE 140, S. 317 ff) zeigen – auf einen Unionsrechtsakt im Einzelfall beziehen und dabei zur Verwerfung eines individuellen Unionsrechtsaktes durch das BVerfG führen können, übt das BVerfG seine Verwerfungskompetenz für einzelne Unionsrechtsakte im Fall der Grundrechtskontrolle einstweilen in der Regel nicht aus. Gute Gründe sprechen dafür, auch im Bereich der Grundrechtskontrolle zur Einzelfallprüfung überzugehen (s. Dederer, JZ 2014, S. 313 ff, 317 f). In diese Richtung scheint zum einen das Vorratsdatenspeicherungs-Urteil (s. Rn 190 ff) zu weisen. Zum anderen nimmt das BVerfG im Wege der Identitätskontrolle über Art. 79 Abs. 3 iVm Art. 1 Abs. 1 GG nunmehr doch eine Grundrechtskontrolle im Einzelfall, allerdings beschränkt auf die Menschenwürdegarantie, in Anspruch (BVerfGE 140, S. 317 ff, 341).
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Darüber hinaus hat das BVerfG nur für den Fall der Ultra-vires-Kontrolle ein einigermaßen handhabbares Prüfprogramm entwickelt. Für die Identitätskontrolle ist dagegen die gerichtliche Kontrollintensität noch offen. Allerdings zeichnen sich insoweit Annäherungen an die Ultra-vires-Kontrolle ab. So hat das BVerfG auch für die Identitätskontrolle angenommen, dass zunächst der EuGH im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens (Art. 267 AEUV) einzuschalten ist (BVerfGE 134, S. 366 ff, 385; 140, S. 317 ff, 339: „[s]oweit erforderlich“).
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Dogmatisch lassen sich die drei Kontrollinstrumente (Grundrechts-, Ultra-vires- und Identitätskontrolle) einheitlich auf den Schutz der Verfassungsidentität (Art. 79 Abs. 3 GG) zurückführen. Grundrechtskontrolle- und Ultra-vires-Kontrolle sind somit nichts anderes als Konkretisierungen der Identitätskontrolle. Die Grundrechtskontrolle hat das BVerfG bereits im Solange I-Beschluss aus der „Identität der geltenden Verfassung“ heraus beansprucht. „(U)naufgebbares, zur Verfassungsstruktur des Grundgesetzes gehörendes Essentiale“ sei der „Grundrechtsteil des Grundgesetzes“ (BVerfGE 37, S. 271 ff, 279 f), jedenfalls (so im Solange II-Beschluss) die jenem GG-Abschnitt zugrunde liegenden „Rechtsprinzipien“ (BVerfGE 73, S. 339 ff, 375 f). Zur Verfassungsidentität gehört aber auch die „souveräne Staatlichkeit Deutschlands“ (BVerfGE 123, S. 267 ff, 343). Diese „souveräne Verfassungsstaatlichkeit“ muss dabei „nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung … gewahrt bleib(en)“ (BVerfGE 123, S. 267 ff, 347). Das BVerfG habe die Pflicht, „im Rahmen seiner Zuständigkeit“ zu prüfen, ob dieses Prinzip eingehalten wird (BVerfGE 123, S. 267 ff, 350). Dem dient die Ultra-vires-Kontrolle (BVerfGE 123, S. 267 ff, 353 f). Die gemeinsame Herleitung aller drei Kontrollinstrumente aus dem Schutz der Verfassungsidentität spricht für eine Vereinheitlichung der Prüfungsmaßstäbe (s. Dederer, JZ 2014, S. 313 ff, 316 ff).
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Zum Grundsatz der „Europarechtsfreundlichkeit“ des GG s. Rn 251 ff.
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Lösung Fall 4 (Rn 108):
I. Zulässigkeit (Art. 100 Abs. 1 GG, § 13 Nr 11, §§ 80 ff BVerfGG)
1. Vorlagegegenstand
Vorlagegegenstand im Verfahren nach Art. 100 Abs. 1 GG ist nach hL und ständiger Rechtsprechung des BVerfG grundsätzlich nur ein förmliches, nachkonstitutionelles deutsches Gesetz. Im Falle von Verordnungen lässt das BVerfG davon eine Ausnahme zu (s. Rn 172). Demzufolge handelt es sich um einen zulässigen Vorlagegegenstand.
2. Vorlageberechtigung
Es muss sich bei dem vorlegenden Gericht um ein Gericht iSv Art. 92 GG handeln. Dies ist bei einem Verwaltungsgericht der Fall.
3. Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit
Das vorlegende Gericht muss von der Verfassungswidrigkeit der vorgelegten Norm überzeugt sein. Zweifel genügen nicht. Laut Sachverhalt kann man davon ausgehen, dass das Verwaltungsgericht, da es die Ansicht der Klägerin teilt, von der Verfassungswidrigkeit der Verordnung überzeugt ist.
4. Entscheidungserheblichkeit
Die Vorlage ist nur zulässig, wenn die vorgelegte Norm entscheidungserheblich ist, wenn daher die Entscheidung des vorlegenden Gerichts bei Nichtigkeit der vorgelegten Norm anders ausfallen würde als bei deren Gültigkeit. Die Verordnung ist für das Verwaltungsgericht entscheidungserheblich. Bei deren Nichtigkeit müsste es der Klage stattgeben, bei deren Gültigkeit müsste es die Klage abweisen.
5. Form
Die Form der Vorlage richtet sich nach § 80 Abs. 2, § 23 Abs. 1 BVerfGG. Laut Sachverhalt erfolgte die Vorlage formgerecht.
6. Auflösend bedingte Unzulässigkeit der Vorlage von Verordnungen
Das BVerfG hat die Vorlage von Verordnungen der Europäischen Gemeinschaft (jetzt auf Verordnungen der EU übertragbar) im Solange II-Beschluss jedoch deswegen für unzulässig erklärt, weil (und solange) der durch die EU gewährte Grundrechtsschutz dem vom Grundgesetz gebotenen Grundrechtsschutz im Wesentlichen gleichzuachten ist. Diese durch den „Solange-Vorbehalt“ auflösend bedingte „Zulässigkeitsvoraussetzung“ ist nur durch die Eigenheit der Materie bzw die dazu ergangene Rechtsprechung des BVerfG zu erklären, sodass das „herkömmliche“ Prüfungsschema für Vorlagen nach Art. 100 Abs. 1 GG diesen Punkt nicht vorsieht. Genau betrachtet handelt es sich auch nicht um eine Frage der Zulässigkeit, sondern um eine Art Begründetheitsprüfung auf der Zulässigkeitsebene, die am ehesten mit der Nichtannahme einer Verfassungsbeschwerde bei mangelnder Erfolgsaussicht oder offensichtlicher Unbegründetheit vergleichbar ist. Jedenfalls ist der Grundrechtsschutz durch die EU zurzeit noch „im wesentlichen gleichzuachten“. Dies ergibt sich aus der Rechtsprechung des EuGH zu den Grundrechten der Berufsfreiheit und des Eigentums sowie aus den Artikeln 15 und 17 der Charta der Grundrechte (s. Rn 593 ff). Die Vorlage ist daher unzulässig.
II. Begründetheit (entfällt)
Ergebnis: Das BVerfG wird die Vorlage für unzulässig erklären.
§ 2 Völkerrecht, Europarecht und nationales Recht › B. Europarecht und nationales Recht › IV. Literatur