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II. Völkerrechtsfreundlichkeit des GG

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Das BVerfG hat schon früh die „Völkerrechtsfreundlichkeit“ des GG herausgestellt (BVerfGE 6, S. 309 ff, 362 f). Dieser Grundsatz ist nirgendwo im GG explizit normiert, sondern lässt sich dem GG nur aus einer Gesamtschau mit Blick auf Satz 1 der Präambel sowie Art. 1 Abs. 2, Art. 9 Abs. 2 und Art. 24 bis Art. 26 GG entnehmen.

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Aus dem Prinzip der Völkerrechtsfreundlichkeit hat das BVerfG durchaus weitreichende Folgerungen gezogen. Zunächst gilt das Gebot völkerrechtskonformer Auslegung und Anwendung des einfachen (Gesetzes-)Rechts. Hintergrund hierfür ist eine auf der Völkerrechtsfreundlichkeit des GG beruhende Vermutung. Das BVerfG hat diese Vermutung folgendermaßen formuliert (BVerfGE 74, S. 358 ff, 370):

„(E)s ist nicht anzunehmen, daß der Gesetzgeber, sofern er dies nicht klar bekundet hat, von völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland abweichen oder die Verletzung solcher Verpflichtungen ermöglichen will.“

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Sind auslegungsmethodisch mehrere Interpretationen eines Gesetzes möglich, dann ist derjenigen Auslegung der Vorzug zu geben, welche dieser Vermutung Rechnung trägt, also den Einklang des Gesetzes und seiner Anwendung mit dem Völkerrecht und den daraus für die Bundesrepublik folgenden Verpflichtungen wahrt. In diesem Sinne handelt es sich beim Gebot völkerrechtskonformer Auslegung um eine „Konfliktvermeidungsregel“ (Rojahn, in: von Münch/Kunig, Art. 24, Rz 3).

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Das Gebot völkerrechtskonformer Auslegung gilt sinngemäß für die Ausfüllung von Ermessens- und Beurteilungsspielräumen. Wie Auslegungsspielräume sind auch Ermessens- und Beurteilungsspielräume dergestalt wahrzunehmen, dass ein Verstoß gegen die völkerrechtlichen Bindungen Deutschlands vermieden wird.

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Das Verfassungsgebot völkerrechtskonformer Auslegung hat allerdings auch Grenzen. Verwirklichen lässt es sich nur, solange „im Rahmen geltender methodischer Standards Auslegungs- und Abwägungsspielräume eröffnet sind“ (BVerfGE 111, S. 307 ff, 329). Anders gewendet endet die völkerrechtskonforme Auslegung dort, „wo diese nach den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung und Verfassungsinterpretation nicht mehr vertretbar erscheint“ (BVerfGE 128, S. 326 ff, 371).

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Gemäß der Vermutung, dass der Gesetzgeber sich in den Grenzen der völkerrechtlichen Verpflichtungen Deutschlands halten will, ist ein später erlassenes Gesetz im Einklang mit einem früheren völkerrechtlichen Vertrag auszulegen (BVerfGE 74, S. 358 ff, 370). Weitergehend wird aus dieser Vermutung aber auch der Schluss zu ziehen sein, dass im Fall einer Normkollision, die sich durch völkerrechtskonforme Auslegung zB mangels entsprechenden Auslegungsspielraums nicht a priori vermeiden lässt, zwischen späterem Gesetz und älterem Vertrag die lex posterior-Regel nicht gilt (ähnlich Sauer, S. 106 f). Vielmehr stellt der frühere völkerrechtliche Vertrag gewissermaßen eine lex specialis gegenüber dem späteren Gesetz dar, welches den früheren Vertrag nach dem zu vermutenden Willen des Gesetzgebers nicht berühren sollte.

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Anderes gilt dann, wenn der Gesetzgeber in seinem späteren Gesetz den Willen zum Bruch des Völkerrechts, insbesondere eines völkerrechtlichen Vertrags, klar bekundet hat (sog. „treaty override“; s. Rn 837 ff). Dann soll nach dem Willen des Gesetzgebers das spätere Gesetz dem früheren völkerrechtlichen Vertrag nach der lex posterior-Regel vorgehen. Eine solche „Abkommensüberschreibung“ ist allerdings entgegen der Auffassung des BVerfG (BVerfGE 141, S. 1 ff) mit dem Prinzip der Völkerrechtsfreundlichkeit schwer zu vereinbaren (s. Rn 67, 839 f, 892). Denn nach diesem Prinzip sind „die deutschen Staatsorgane verpflichtet, die die Bundesrepublik Deutschland bindenden Völkerrechtsnormen zu befolgen und Verletzungen nach Möglichkeit zu unterlassen“ (BVerfGE 112, S. 1 ff, 26). Der letztlich notwendige Ausgleich zwischen Herrschaft des Rechts (Rechtsstaatsprinzip) und Herrschaft des Volkes (Demokratieprinzip) ist in der Weise herzustellen, dass der jeweilige unmittelbar demokratisch legitimierte Gesetzgeber einen älteren völkerrechtlichen Vertrag nicht einseitig „überschreiben“, sondern das für notwendig erachtete, aber mit dem geltenden völkerrechtlichen Vertrag unvereinbare Gesetz erst nach einer entsprechenden Vertragsänderung (Rn 125 ff) oder -beendigung (Rn 128 ff) oder nur unter Berufung auf völkerrechtlich anerkannte Rechtfertigungsgründe (zB als Notstands- oder Gegenmaßnahme, s. Art. 22 und Art. 25 ILC-Artikel über Staatenverantwortlichkeit; Sartorius II, Nr 6) erlassen darf.

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Mit dem Konzept der Völkerrechtsfreundlichkeit des GG geht eine erhöhte verfassungsgerichtliche Kontrolldichte gegenüber den Fachgerichten einher. So unterliegt die fehlerhafte Anwendung oder Nichtbeachtung von Völkerrecht durch die Fachgerichte der uneingeschränkten Kontrolle des BVerfG. Das Gericht hat das folgendermaßen begründet (BVerfGE 111, S. 307 ff, 328):

„Allerdings ist das Bundesverfassungsgericht im Rahmen seiner Zuständigkeit auch dazu berufen, Verletzungen des Völkerrechts, die in der fehlerhaften Anwendung oder Nichtbeachtung völkerrechtlicher Verpflichtungen durch deutsche Gerichte liegen und eine völkerrechtliche Verantwortlichkeit Deutschlands begründen können, nach Möglichkeit zu verhindern und zu beseitigen (vgl BVerfGE 58, 1 [34]; 59, 63 [89]; 109, 13 [23]). Das Bundesverfassungsgericht steht damit mittelbar im Dienst der Durchsetzung des Völkerrechts und vermindert dadurch das Risiko der Nichtbefolgung internationalen Rechts. Aus diesem Grund kann es geboten sein, abweichend von dem herkömmlichen Maßstab die Anwendung und Auslegung völkerrechtlicher Verträge durch die Fachgerichte zu überprüfen.“

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Das Gebot völkerrechtskonformer Auslegung und Anwendung greift auch für das Verfassungsrecht. Das Grundgesetz ist daher nach Möglichkeit so auszulegen, dass ein Konflikt mit völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland nicht entsteht (BVerfGE 111, S. 307 ff, 318). Allerdings darf es dadurch nicht zu einer Einschränkung des Grundrechtsschutzes in Deutschland kommen (BVerfGE 74, S. 358 ff, 370; stRspr).

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Das gilt insbesondere mit Blick auf die Europäische Menschenrechtskonvention, zumal in ihrer Interpretation durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (BVerfGE 128, S. 326 ff, 367 f):

„Der Konventionstext und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte dienen nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auf der Ebene des Verfassungsrechts als Auslegungshilfen für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten und rechtsstaatlichen Grundsätzen des Grundgesetzes.“

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Auch andere internationale Menschenrechtsverträge hat das BVerfG schon als „Auslegungshilfen“ heran- bzw in Erwägung gezogen. Beispiele sind der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte (Sartorius II, Nr 20; zB BVerfG, NJW 2019, S. 1201 ff, 1206 f), der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (Sartorius II, Nr 21; zB BVerfGE 149, S. 126 ff, 151 f), die UN-Behindertenrechtekonvention (zB BVerfG, NJW 2019, S. 1201 ff, 1206 ff) und die UN-Kinderrechtekonvention (zB BVerfG, NJW 2015, S. 3366 ff, 3367).

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Darüber hinaus hat das BVerfG internationale menschenrechtliche Standards aus rechtlich nicht verbindlichen internationalen Dokumenten (sog. soft law) herangezogen. Deren Nichteinhaltung kann danach ein Indiz oder zumindest Anhaltspunkt für eine (mögliche) Grundrechtsverletzung sein.

Beispiele:

S. für den Jugendstrafvollzug BVerfGE 116, S. 69 ff, 90 f mit unspezifischem Bezug auf die „im Rahmen der Vereinten Nationen oder von Organen des Europarates beschlossenen einschlägigen Richtlinien und Empfehlungen“; für den Zustand von Untersuchunghafträumen BVerfG, EuGRZ 2008, S. 83 ff mit Verweis auf die „Europäischen Strafvollzugsgrundsätze“ des Europarats und auf die „im Rahmen der Vereinten Nationen erarbeiteten Mindestregeln für die Behandlung der Gefangenen“; zur medizinischen Zwangsbehandlung von im Maßregelvollzug Untergebrachten BVerfGE 128, S. 282 ff, 307 f, 313 unter Hinweis auf die „Grundsätze für den Schutz von psychisch Kranken und die Verbesserung der psychiatrischen Versorgung“ der VN; zu Einschlusszeiten von Untersuchungsgefangenen BVerfG, StV 2013, S. 521 ff und zur Unterbringung vollständig entkleideter Strafgefangener in einer videoüberwachten Zelle BVerfG, NJW 2015, S. 2100 ff, 2191, jeweils mit Hinweisen auf Jahresberichte des Europäischen Komitees zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe.

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Aus der Völkerrechtsfreundlichkeit des GG hat das BVerfG außerdem die Pflicht aller Staatsorgane abgeleitet, Völkerrecht zu respektieren. Diese Pflicht soll drei Dimensionen haben (BVerfGE 112, S. 1 ff, 26):

„Erstens sind die deutschen Staatsorgane verpflichtet, die die Bundesrepublik Deutschland bindenden Völkerrechtsnormen zu befolgen und Verletzungen nach Möglichkeit zu unterlassen… Zweitens hat der Gesetzgeber für die deutsche Rechtsordnung zu gewährleisten, dass durch eigene Staatsorgane begangene Völkerrechtsverstöße korrigiert werden können. Drittens können die deutschen Staatsorgane – unter hier nicht näher zu bestimmenden Voraussetzungen – auch verpflichtet sein, das Völkerrecht im eigenen Verantwortungsbereich zur Geltung zu bringen, wenn andere Staaten es verletzen.“

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Insbesondere für die zuletzt genannte Pflichtendimension (= die Verpflichtung, „das Völkerrecht im eigenen Verantwortungsbereich zur Geltung zu bringen, wenn andere Staaten es verletzen“) greift eine weitere vom BVerfG angenommene Verpflichtung, nämlich (BVerfGE 112, S. 1 ff, 24):

„auf seinem Territorium die Unversehrtheit der elementaren Grundsätze des Völkerrechts zu garantieren und bei Völkerrechtsverletzungen nach Maßgabe seiner Verantwortung und im Rahmen seiner Handlungsmöglichkeiten einen Zustand näher am Völkerrecht herbeizuführen.“

Das hat die Richterin Lübbe-Wolff in ihrem Sondervotum markant kritisiert (BVerfGE 112, S. 1 ff, 47 ff), insbesondere mit dem folgenden Hinweis (S. 49):

„Das Völkerrecht enthält weder einen allgemeinen Grundsatz des Inhalts, dass Staaten zur Durchsetzung des Völkerrechts gegen Verstöße seitens anderer Staaten oder zur Abmilderung und zum Ausgleich der Folgen solcher Verstöße verpflichtet sind, noch Grundsätze, die entsprechende Pflichten für die vorliegende Fallkonstellation begründen. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist dementsprechend bisher davon ausgegangen, dass der deutsche Staat für Völkerrechtsverletzungen anderer Staaten nicht einzustehen hat (BVerfGE 84, 90 [123 f], m.w.N.) … Der Senat selbst behauptet auch gar nicht, dass eine völkerrechtliche Verpflichtung dieses Inhalts bestehe; er präsentiert die Verpflichtung nicht als völkerrechtliche, sondern als verfassungsrechtliche. Wie allerdings aus einer verfassungsrechtlichen Pflicht zur Respektierung des Völkerrechts Pflichten hervorgehen können, die das Völkerrecht selbst nicht enthält, bleibt unerklärt.“

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Die Pflicht aller Staatsorgane, Völkerrecht zu respektieren, gilt auch zB für die Bundeswehr bei Auslandseinsätzen (Rn 1270 ff). Der BGH hat es allerdings abgelehnt, die Völkerrechtsfreundlichkeit des GG für eine Haftung des deutschen Staates wegen Völkerrechtsverstößen der Bundeswehr heranzuziehen. Vielmehr stehe das Prinzip der Völkerrechtsfreundlichkeit einer Ausdehnung des Amtshaftungsanspruchs (§ 839 BGB iVm Art. 34 GG) auf Schäden, die ausländischen Bürgern von Soldaten der Bundeswehr im Rahmen von Auslandseinsätzen im Zuge eines bewaffneten Konflikts zugefügt werden, entgegen. Denn eine solche Staatshaftung könne die gemäß Art. 24 Abs. 2 GG gewollte Integration Deutschlands in Systeme kollektiver Sicherheit (Rn 1167 ff) erheblich beeinträchtigen. Nach Auffassung des BGH dürfe (BGHZ 212, S. 173 ff, … Rz 38):

„nicht übersehen werden, dass das Risiko einer kaum abschätzbaren Haftung dazu führen könnte, dass humanitär motivierte bewaffnete Auslandseinsätze der Bundeswehr reduziert oder gar gänzlich eingestellt würden …. Aus Sicht zum Beispiel der NATO-Partner, deren nationale Rechtsordnungen individuelle Schadensersatzansprüche wegen Verstößen ihrer Streitkräfte gegen das humanitäre Völkerrecht nicht vorsehen …, wären die deutschen Streitkräfte auf Grund des Damokles-Schwertes der – auch gesamtschuldnerischen – Amtshaftung nur noch bedingt bündnis- und kampfeinsatzfähig … .“ (aA Sauer, DÖV 2019, S. 713 ff, 721 f).

§ 2 Völkerrecht, Europarecht und nationales Recht › C. „Offene Staatlichkeit“ › III. Europarechtsfreundlichkeit des GG

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