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b) Vorrangfrage und begrenzte Einzelermächtigung

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Ein ähnliches Problem – wenngleich keineswegs nur im mehr oder minder theoretischen Bereich wie bei den Grundrechten (s. Rn 186) – besteht hinsichtlich der Vorrangschranke sog. „ausbrechender“ bzw. „ultra vires“ ergangener Rechtsakte.

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Da die EU Kompetenzen nur im Rahmen des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung (Rn 617 ff), übertragen bekommen hat und daher auch keine Kompetenz-Kompetenz besitzt (Rn 126), stellt sich bei Handlungen der EU jeweils die Frage nach der Einhaltung des Prinzips und damit der Kompetenzverteilung zwischen EU und Mitgliedstaaten. Sollte es sich um eine kompetenzwidrige Handlung, etwa in Form eines Rechtsakts handeln, so wäre dieser „ultra vires“ als sog. „ausbrechender“ Rechtsakt ergangen.

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Für derartige Fälle hat das BVerfG im Maastricht-Urteil entschieden, dass solche Rechtsakte nicht mehr vom deutschen Zustimmungsgesetz gedeckt sind. Das gilt insbesondere auch für Rechtsakte der EU, die auf einer wesentlichen Änderung des im EUV angelegten Integrationsprogramms basieren, weil sie die Grenzen der Vertragsauslegung überschreiten und deshalb eigentlich eine Vertragsänderung voraussetzen. Sie entfalten als Ultra-vires-Akte gleichfalls keine Bindungswirkung für die Bundesrepublik und dürfen von deutschen Staatsorganen nicht angewendet werden (BVerfGE 89, S. 155 ff, 188, 195, 210). Bei solchen Akten liege sowohl eine Verletzung des Rechtsstaatsprinzips (fehlende Kompetenzgrundlage, auch unter Berücksichtigung des Subsidiaritätsprinzips, s. Rn 197) als auch des Demokratieprinzips (fehlende parlamentarische Zustimmung) vor. Letzteres könne unter dem Aspekt des Art. 38 Abs. 1 GG mit der Verfassungsbeschwerde und anderen Verfahren (s. BVerfGE 123, S. 267 ff, 353 f) vor dem BVerfG geltend gemacht werden.

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Das BVerfG nennt dabei auch ausdrücklich das Subsidiaritätsprinzip, das in Art. 5 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 3 EUV verankert ist. Über die Ultra-vires-Kontrolle prüft das BVerfG somit nicht nur, ob die Unionsorgane ihre Kompetenzen also solche eingehalten haben, sondern auch, ob etwaige Schranken für die Kompetenzausübung, namentlich das Subsidiaritätsprinzip, beachtet wurden.

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Dieses Prinzip wird im Protokoll Nr 2 zum EUV, zum AEUV und zum EAGV über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit (Subsidiaritätsprotokoll, ABl. 2016, C. 204, S. 1 ff, 206 ff [konsolidierte Fassung]) verfahrensrechtlich abgesichert. Nach diesem Prinzip wird die EU im Rahmen ihrer nicht-ausschließlichen Zuständigkeiten (s. Rn 623 ff) nur tätig, sofern und soweit die Ziele der geplanten Maßnahmen nicht ausreichend von den Mitgliedstaaten auf ihrer zentralen, regionalen oder lokalen Ebene (Negativkriterium), sondern vielmehr wegen ihres Umfangs und ihrer Wirkungen besser auf Unionsebene (Positivkriterium) verwirklicht werden können. Es handelt sich also um ein kompetenzbeschränkendes Prinzip, da die Ausübung einer an sich der EU zustehenden Kompetenz nur unter bestimmten Voraussetzungen von dieser auch tatsächlich ausgeübt werden darf.

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Die Auslegung von Art. 5 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 3 EUV ist umstritten. Insbesondere ist unklar, ob die EU erst zuständig sein soll, wenn ihr Handeln erforderlich ist, oder schon dann, wenn sie effizienter handeln könnte, als die Mitgliedstaaten. Die bisherige Rechtsprechung des EuGH ist diesbezüglich nicht besonders aussagekräftig. Das könnte sich in Zukunft ändern, da es wegen der durch den Vertrag von Lissabon eingeführten Möglichkeiten der Subsidiaritätsrüge und der Subsidiaritätsklage (Art. 5 Abs. 3 Unterabs. 2 Satz 2 EUV, Art. 6 und Art. 7 bzw Art. 8 Abs. 1 des Subsidiaritätsprotokolls, s. Rn 630 ff) vermehrt zur Überprüfung der Einhaltung des Prinzips insbesondere durch den EuGH kommen kann. Freilich ist zu bedenken, dass das Subsidiaritätsprinzip einen nur begrenzt justiziablen Prüfungsmaßstab abgibt, was dafür sprechen könnte, dass der EuGH seine Kontrolldichte bei der Prüfung eines Verstoßes gegen das Subsidiaritätsprinzip tendenziell eher zurücknehmen dürfte (s. Rn 637). Gleiches dürfte für das BVerfG gelten, wenn es im Rahmen einer Ultra-vires-Kontrolle das Subsidiaritätsprinzip tatsächlich einmal heranziehen sollte.

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Im Lissabon-Urteil vom 30. Juni 2006 hat das BVerfG bestimmt, dass für die verbindliche Feststellung des Vorliegens eines Ultra-vires-Falles innerhalb der deutschen Staatsorganisation nur es selbst und allein zuständig sei, und dass es daher das Kontrollmonpol habe (BVerfGE 123, S. 267 ff, 354). Das BVerfG beansprucht dieses Kontrollmonopol zum Schutz der Funktionsfähigkeit der Unionsordnung und stützt sich hierzu auf die Europarechtsfreundlichkeit des GG (s. dazu Rn 251 ff).

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Über die Europarechtsfreundlichkeit begründet sich sodann auch die Zurückhaltung des BVerfG bei der Ausübung der Ultra-vires-Kontrolle. So hat es im Lissabon-Urteil bereits festgestellt, dass eine Ultra-vires-Kontrolle nur dann in Betracht komme, wenn es sich um „ersichtliche Grenzüberschreitungen bei Inanspruchnahme von Zuständigkeiten durch die Europäische Union“ handle (BVerfGE 123, S. 267 ff, 353). Was damit gemeint ist, hat das BVerfG im Honeywell-Beschluss vom 6. Juli 2010, in dem es um Altersdiskriminierung im deutschen Arbeitsrecht ging, konkretisiert und Folgendes ausgeführt (BVerfGE 126, S. 286 ff, 304):

„Das bedeutet für die vorliegend in Rede stehende Ultra-vires-Kontrolle, dass das Bundesverfassungsgericht die Entscheidungen des Gerichtshofs grundsätzlich als verbindliche Auslegung des Unionsrechts zu beachten hat. Vor der Annahme eines Ultra-vires-Akts der europäischen Organe und Einrichtungen ist deshalb dem Gerichtshof im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV die Gelegenheit zur Vertragsauslegung sowie zur Entscheidung über die Gültigkeit und die Auslegung der fraglichen Rechtsakte zu geben. Solange der Gerichtshof keine Gelegenheit hatte, über die aufgeworfenen unionsrechtlichen Fragen zu entscheiden, darf das Bundesverfassungsgericht für Deutschland keine Unanwendbarkeit des Unionsrechts feststellen …

Eine Ultra-vires-Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht kommt darüber hinaus nur in Betracht, wenn ersichtlich ist, dass Handlungen der europäischen Organe und Einrichtungen außerhalb der übertragenen Kompetenzen ergangen sind … Ersichtlich ist ein Verstoß gegen das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung nur dann, wenn die europäischen Organe und Einrichtungen die Grenzen ihrer Kompetenzen in einer das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung spezifisch verletzenden Art überschritten haben (Art. 23 Abs. 1 GG), der Kompetenzverstoß mit anderen Worten hinreichend qualifiziert ist … Dies bedeutet, dass das kompetenzwidrige Handeln der Unionsgewalt offensichtlich ist und der angegriffene Akt im Kompetenzgefüge zwischen Mitgliedstaaten und Union im Hinblick auf das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und die rechtsstaatliche Gesetzesbindung erheblich ins Gewicht fällt …“

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Außerdem weist das BVerfG ausdrücklich darauf hin, dass eine Ultra-vires-Kontrolle, „soll das supranationale Integrationsprinzip nicht Schaden nehmen“, zurückhaltend ausgeübt werden müsse, ja es gesteht dem EuGH sogar eine „Fehlertoleranz“ zu (BVerfGE 123, S. 267 ff, 307). Damit hat das BVerfG versucht, dem EuGH – ähnlich wie bei der Grundrechtskontrolle – weit entgegenzukommen, um mögliche Konflikte zu vermeiden.

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Im Ergebnis bedeutet dies, dass das BVerfG eine Handlung der EU dann als ultra vires erklären wird (was bislang noch nie der Fall war), wenn

(1) ein hinreichend qualifizierter, dh offensichtlicher und hinsichtlich des Kompetenzgefüges zwischen Mitgliedstaaten und EU erheblich ins Gewicht fallender Verstoß vorliegt (also letztlich eine Kompetenzverschiebung hin zur EU und zulasten der Mitgliedstaaten stattgefunden hat) und

(2) der EuGH vorab einen Kompetenzverstoß verneint hat.

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Anders als die Grundrechtskontrolle (s. Rn 186) sah man die Ultra-vires-Kontrolle als durchaus reale Möglichkeit einer Kontrolle von EU-Rechtsakten an, rechnete aber kaum mehr mit einem konkreten Anlassfall, insbesondere nachdem das BVerfG im Honeywell-Beschluss (s. Rn 201) die von vielen erwartete Ultra-vires-Erklärung des vom EuGH festgestellten allgemeinen Rechtsgrundsatzes des Verbots der Altersdiskriminierung abgelehnt hatte. Umso überraschender war der OMT-Beschluss des BVerfG vom 14. Januar 2014, mit dem das BVerfG zum ersten Mal in seiner Geschichte den EuGH im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens gemäß Art. 267 AEUV um die Auslegung von Unionsrecht ersuchte.

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Das BVerfG war nämlich der Meinung, dass der Beschluss des Rates der Europäischen Zentralbank vom 6. September 2012 betreffend Outright Monetary Transactions (OMT) mit dem Unionsrecht (Art. 119, Art. 123 Abs. 1, Art. 127 Abs. 1 und Abs. 2 sowie Art. 17 ff der Satzung des ESZB) unvereinbar sei und wegen evidenter Kompetenzüberschreitungen einen Ultra-vires-Akt darstelle. In diesem Beschluss wurde der unbegrenzte Ankauf von Staatsanleihen finanziell notleidender Staaten der Eurozone auf dem Sekundärmarkt angekündigt (OMT-Programm). Dazu führte das BVerfG Folgendes aus (BVerfGE 134, S. 366 ff, Rz 36 ff):

„Verstieße der OMT-Beschluss gegen das geld- und währungspolitische Mandat der Europäischen Zentralbank oder gegen das Verbot monetärer Haushaltsfinanzierung, läge darin ein Ultra-vires-Akt im Sinne der … Honeywell-Entscheidung.

a) Ein hinreichend qualifizierter Verstoß setzt voraus, dass das kompetenzwidrige Handeln der Unionsgewalt offensichtlich ist und der angegriffene Akt im Kompetenzgefüge zu einer strukturell bedeutsamen Verschiebung zulasten der Mitgliedstaaten führt (vgl BVerfGE 126, 286 [304 f] m.w.N.). Strukturell bedeutsam sind Kompetenzüberschreitungen insbesondere dann, aber nicht nur, wenn sie sich auf Sachbereiche erstrecken, die zur durch Art. 79 Abs. 3 GG geschützten verfassungsrechtlichen Identität der Bundesrepublik Deutschland rechnen oder besonders vom demokratisch diskursiven Prozess in den Mitgliedstaaten abhängen (siehe BVerfGE 126, 286 [307]).

b) Ein Handeln der Europäischen Zentralbank außerhalb ihres geld- und währungspolitischen Mandats … oder ein Verstoß gegen das Verbot monetärer Haushaltsfinanzierung durch das OMT-Programm … würde eine offensichtliche und strukturell bedeutsame Kompetenzüberschreitung bedeuten.“

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Der OMT-Beschluss wurde vielfach kritisiert. So wurde darauf hingewiesen, dass das BVerfG eine unionsrechtskonforme Interpretation aufgezeigt habe, was bei einer angenommenen „offensichtlichen“ Kompetenzüberschreitung schwer möglich sei. Auch das Vorliegen von Sondervoten einzelner Richter spricht dagegen. Ferner wurde gefragt, ob selbst bei der Annahme eines Ultra-vires-Akts überhaupt eine Entscheidungserheblichkeit iSv Art. 267 AEUV (s. Rn 988) gegeben sei, was bei einer Verneinung zur Unzulässigkeit der Vorlage führen würde.

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In seinem Urteil vom 16. Juni 2015 hat der EuGH jedenfalls die Zulässigkeit bejaht und keinen Kompetenzverstoß durch den Rat der Europäischen Zentralbank gesehen (EuGH, Rs. C-62/14, Gauweiler/Deutscher Bundestag, ECLI:EU:C:2015:400). Hingegen ist er auf die Frage, ob die Ultra-vires-Rechtsprechung des BVerfG mit dem Unionsrecht vereinbar sei, nicht näher eingegangen. Vielmehr hat er nur auf seine Rechtsprechung zur Bindungswirkung von Vorabentscheidungen hingewiesen. Damit aber hat er wohl eine Zurückweisung der Rechtsprechung des BVerfG zum Ausdruck gebracht, denn diese, sollte sie jemals zur Anwendung kommen, verneint ja eben diese Bindungswirkung.

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Das BVerfG hat dem Urteil des EuGH entsprochen, in seinem Urteil vom 21. Juni 2016 aber genaue Kriterien für eine Beteiligung der Bundesrepublik an der Durchführung des OMT-Programms aufgestellt (BVerfGE 142, S. 123 ff, Tenor):

„4. Die Deutsche Bundesbank darf sich an einer künftigen Durchführung des OMT-Programms nur beteiligen, wenn und soweit die vom Gerichtshof der Europäischen Union aufgestellten Maßgaben erfüllt sind, das heißt wenn

das Volumen der Ankäufe im Voraus begrenzt ist,
zwischen der Emission eines Schuldtitels und seinem Ankauf durch das ESZB eine im Voraus festgelegte Mindestfrist liegt, die verhindert, dass die Emissionsbedingungen verfälscht werden,
nur Schuldtitel von Mitgliedstaaten erworben werden, die einen ihre Finanzierung ermöglichenden Zugang zum Anleihemarkt haben,
die erworbenen Schuldtitel nur ausnahmsweise bis zur Endfälligkeit gehalten werden und
die Ankäufe begrenzt oder eingestellt werden und erworbene Schuldtitel wieder dem Markt zugeführt werden, wenn eine Fortsetzung der Intervention nicht erforderlich ist.“

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Eine zweite, wieder das Handeln der EZB betreffende Vorlage beschloss das BVerfG am 18. Juli 2017 (BVerfGE 146, S. 216 ff). Der umfangreiche Fragenkatalog zu einer möglichen Mandatsüberschreitung der EZB betraf den seit Januar 2015 unter der Bezeichnung „Public Sector Purchase Programme“ (PSPP) laufenden Ankauf von Staatsanleihen durch die EZB. Den Erlass einer ua auf Untersagung von Anleihekäufen durch die Bundesbank im Rahmen des PSPP gerichteten einstweiligen Anordnung lehnte das BVerfG wegen unzulässiger Vorwegnahme der Hauptsache ab. Dabei hielt das BVerfG (durchaus im Geiste der Europarechtsfreundlichkeit) fest, dass der Grundsatz der Organtreue die Bundesregierung nicht verpflichte, sich die „Zweifel“ des Gerichts an der „Vertragskonformität einer Maßnahme von … Stellen der EU vor Abschluss des Verfahrens zu eigen zu machen“ (BVerfGE 147, S. 39 ff, 49). Der EuGH hat zwischenzeitlich ein Ultra-vires-Handeln der EZB verneint (EuGH, Rs. C-493/17, Weiss ua, ECLI:EU:C:2018:1000).

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Mit der Ultra-vires-Kontrolle überprüft das BVerfG ferner die Beachtung der Integrationsverantwortung insbesondere von Bundestag und Bundesregierung. Jene müssen danach „über die Einhaltung des Integrationsprogramms wachen“, dürfen „am Zustandekommen und an der Umsetzung von Maßnahmen, die die Grenzen des Integrationsprogramms überschreiten, nicht mitwirken“ und müssen „bei offensichtlichen und strukturell bedeutsamen Kompetenzüberschreitungen … von Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Europäischen Union ohne ihre Mitwirkung aktiv auf seine Befolgung und die Beachtung seiner Grenzen hinwirken“ (BVerfG, NJW 2019, S. 3204 ff, 3209).

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Die Ultra-vires-Kontrolle des BVerfG kann dabei vom Einzelnen im Wege der Verfassungsbeschwerde aktiviert werden. Hierzu kann er sich entweder auf Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG stützen mit der Behauptung, sein Anspruch auf demokratische Selbstbestimmung werde durch Nicht- oder unzureichende Wahrnehmung der Integrationsverantwortung seitens der deutschen Verfassungsorgane verletzt, oder auf das jeweils betroffene Grundrecht mit der Behauptung, es werde durch Ultra-vires-Handeln der EU betroffen (s. BVerfG, NJW 2019, S. 3204 ff, 3209, 3211).

Staatsrecht III

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