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a) Vorrangfrage und Grundrechte
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Das BVerfG hatte die Frage des Vorrangs des (damaligen) Gemeinschaftsrechts vor den deutschen Grundrechten schon 1967 auf den Punkt gebracht, nämlich als die Frage danach (BVerfGE 22, S. 293 ff, 299),
„ob und in welchem Sinne von einer Bindung der Organe der EWG an die Grundrechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland gesprochen werden kann oder – anders gewendet – ob und in welchem Maße die Bundesrepublik Deutschland bei der Übertragung von Hoheitsrechten nach Art. 24 Abs. 1 GG die Gemeinschaftsorgane von solcher Bindung freistellen konnte.“
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Hatte das BVerfG diese Frage zunächst noch unbeantwortet gelassen, nahm es dazu 1974 im sog. Solange I-Beschluss (BVerfGE 37, S. 271 ff) Stellung. Das Verwaltungsgericht Frankfurt a. M. hatte gemäß Art. 100 Abs. 1 GG das BVerfG angerufen und die Entscheidung darüber begehrt, ob eine in zwei Verordnungen des Rates und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften enthaltene Regelung über Ausfuhrkautionen mit dem GG vereinbar sei. Nach Meinung des Verwaltungsgerichts verstieß sie gegen Grundrechte. Im Ergebnis entschied das BVerfG, dass die Vorlage zwar zulässig sei, aber keine Grundrechtsverletzung vorliege.
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Dabei war die Zulässigkeitsfrage mit der Vorrangfrage verwoben. Hatte das sekundäre Gemeinschaftsrecht in Gestalt der EWG-Verordnungen Vorrang auch vor den deutschen Grundrechten, konnten diese Grundrechte an sich nicht den Prüfungsmaßstab für das sekundäre Gemeinschaftsrecht bilden, jenes also auch nicht Vorlagegegenstand sein. Die Unzulässigkeit der Richtervorlage konnte zusätzlich daraus folgen, dass die Grundrechte des GG gemäß Art. 1 Abs. 3 GG nur die deutsche Staatsgewalt, nicht die von der EWG ausgeübte Hoheitsgewalt binden.
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In der Vorrangfrage ging das BVerfG davon aus, dass die Möglichkeit der Übertragung von Hoheitsrechten gemäß Art. 24 Abs. 1 GG nicht grenzenlos sei. Es bestimmte die Grenzen dann aber nicht aus einer bestimmten Vorschrift des GG, insbesondere nicht aus Art. 79 Abs. 3 GG, sondern siedelte sie in der Grundstruktur der Verfassung an und konkretisierte das für den Anlassfall dahingehend (BVerfGE 37, S. 271 ff, 280):
„Ein unaufgebbares, zur Verfassungsstruktur des Grundgesetzes gehörendes Essentiale der geltenden Verfassung der Bundesrepublik Deutschland ist der Grundrechtsteil des Grundgesetzes. Ihn zu relativieren, gestattet Art. 24 GG nicht vorbehaltslos.“
Obgleich das BVerfG die „bisher grundrechtsfreundliche Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs“ ausdrücklich anerkannte, monierte es insbesondere das Fehlen eines „kodifizierten Grundrechtskatalogs“ der Europäischen Gemeinschaften. Aus seiner Sicht musste sich deshalb – jedenfalls einstweilen – „in dem unterstellten Fall einer Kollision von Gemeinschaftsrecht mit einem Teil des nationalen Verfassungsrechts, näherhin der grundgesetzlichen Grundrechtsgarantien, … die Grundrechtsgarantie des Grundgesetzes durch(setzen)“ (BVerfGE 37, S. 271 ff, 280 f).
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Insgesamt fasste das BVerfG seine Ansicht bezüglich der Zulässigkeit von Richtervorlagen nach Art. 100 Abs. 1 GG und des Vorrangs in der folgenden „Solange“-Formel zusammen (BVerfGE 37, S. 271 ff, 285):
„Das Ergebnis ist: Solange der Integrationsprozeß der Gemeinschaft nicht so weit fortgeschritten ist, daß das Gemeinschaftsrecht auch einen von einem Parlament beschlossenen und in Geltung stehenden formulierten Katalog von Grundrechten enthält, der dem Grundrechtskatalog des Grundgesetzes adäquat ist, ist die Vorlage eines Gerichts der Bundesrepublik Deutschland an das Bundesverfassungsgericht im Normenkontrollverfahren zulässig und geboten, wenn das Gericht die für es entscheidungserhebliche Vorschrift des Gemeinschaftsrechts in der vom Europäischen Gerichtshof gegebenen Auslegung für unanwendbar hält, weil und soweit sie mit einem der Grundrechte des Grundgesetzes kollidiert.“
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Der Solange I-Beschluss brachte dem BVerfG heftige Kritik im In- und Ausland ein. Dieser trug das BVerfG durch den sog. Solange II-Beschluss vom 22. Oktober 1986 (BVerfGE 73, S. 339 ff) Rechnung. Dabei ging es im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde gegen ein Urteil des BVerwG um die Frage, ob die Nichtanrufung des EuGH gemäß Art. 177 EWGV (jetzt Art. 267 AEUV) gegen Grundrechte verstoße.
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In diesem Beschluss wurde zunächst wiederholt, dass die Ermächtigung zur Übertragung von Hoheitsrechten auf Grund des Art. 24 Abs. 1 GG nicht ohne verfassungsrechtliche Grenzen sei (BVerfGE 73, S. 339 ff, 375 f):
„Die Vorschrift ermächtigt nicht dazu, im Wege der Einräumung von Hoheitsrechten für zwischenstaatliche Einrichtungen die Identität der geltenden Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland durch Einbruch in ihr Grundgefüge, in die sie konstituierenden Strukturen aufzugeben.“
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Sodann wurde in Anlehnung an den Solange I-Beschluss ausgeführt, dass jedenfalls die Rechtsprinzipien, die dem Grundrechtsteil des GG zugrundeliegen, unverzichtbare, zum Grundgefüge der geltenden Verfassung gehörende Essentialien darstellten (BVerfGE 73, S. 339 ff, 376):
„Art. 24 Abs. 1 GG gestattet nicht vorbehaltlos, diese Rechtsprinzipien zu relativieren. Sofern und soweit mithin einer zwischenstaatlichen Einrichtung im Sinne des Art. 24 Abs. 1 GG Hoheitsgewalt eingeräumt wird, die im Hoheitsbereich der Bundesrepublik Deutschland den Wesensgehalt der vom Grundgesetz anerkannten Grundrechte zu beeinträchtigen in der Lage ist, muß, wenn damit der nach Maßgabe des Grundgesetzes bestehende Rechtsschutz entfallen soll, stattdessen eine Grundrechtsgeltung gewährleistet sein, die nach Inhalt und Wirksamkeit dem Grundrechtsschutz, wie er nach dem Grundgesetz unabdingbar ist, im wesentlichen gleichkommt.“
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Diese Voraussetzungen seien nach der Ansicht des BVerfG mittlerweile gegeben (BVerfGE 73, S. 339 ff, 378):
„Nach Auffassung des erkennenden Senats ist mittlerweile im Hoheitsbereich der Europäischen Gemeinschaften ein Maß an Grundrechtsschutz erwachsen, das nach Konzeption, Inhalt und Wirkungsweise dem Grundrechtsstandard des Grundgesetzes im wesentlichen gleichzuachten ist.“
Damit gab das BVerfG seine im Solange I-Beschluss aufgestellte Forderung nach einer völligen Adäquanz des Grundrechtsschutzes ebenso auf wie die eines von einem Parlament beschlossenen, kodifizierten Grundrechtskatalogs auf Gemeinschaftsebene.
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Dabei ging das BVerfG im Solange II-Beschluss davon aus, dass sich die Grundrechtsrechtsprechung des EuGH in der Zwischenzeit in einer Weise weiterentwickelt habe, dass ein „Mindeststandard an inhaltlichem Grundrechtsschutz“ generell gewährleistet sei, welcher „den verfassungsrechtlichen Anforderungen des Grundgesetzes prinzipiell genügt“. Um so mehr genügt diesen Anforderungen natürlich heute die GRC, die primäres Unionsrecht darstellt (s. Rn 594), womit im Übrigen auch die Forderung nach einem von einem Parlament beschlossenen, kodifizierten Grundrechtskatalog auf Gemeinschaftsebene erfüllt sein dürfte.
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Aus dieser Entwicklung zog das BVerfG in Gestalt einer neuen „Solange“-Formel folgende Konsequenz (BVerfGE 73, S. 339 ff, 387):
„Solange die Europäischen Gemeinschaften, insbesondere die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Gemeinschaften einen wirksamen Schutz der Grundrechte gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaften generell gewährleisten, der dem vom Grundgesetz als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im wesentlichen gleichzuachten ist, zumal den Wesensgehalt der Grundrechte generell verbürgt, wird das Bundesverfassungsgericht seine Gerichtsbarkeit über die Anwendbarkeit von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht, das als Rechtsgrundlage für ein Verhalten deutscher Gerichte und Behörden im Hoheitsbereich der Bundesrepublik Deutschland in Anspruch genommen wird, nicht mehr ausüben und dieses Recht mithin nicht mehr am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes überprüfen; entsprechende Vorlagen nach Art. 100 Abs. 1 GG sind somit unzulässig.“
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Das BVerfG hatte damit seine zunächst beanspruchte Gerichtsbarkeit gegenüber abgeleitetem Gemeinschaftsrecht im Bereich der Grundrechte zurückgenommen und ging bis auf weiteres davon aus, dass der durch den EuGH gewährleistete Grundrechtsschutz dem des Grundgesetzes gleichwertig sei („im wesentlichen gleichzuachten“). Ob das in der Praxis zu einer völligen Aufgabe der Kontrolle von Gemeinschaftsrecht durch das BVerfG führen würde, war unmittelbar nach dem Solange II-Beschluss noch nicht klar; die Möglichkeit einer solchen Kontrolle hatte das BVerfG jedenfalls nicht auf alle Zeit ausgeschlossen, wie die gegenüber der Solange I-Entscheidung lediglich „umgedrehte“ Formulierung zeigte und das Gericht später in einem Beschluss vom 12. Mai 1989 bestätigte (EuR 1989, S. 270 ff, 273):
„Soweit die Richtlinie (über die Etikettierung von Tabakerzeugnissen) den Grundrechtsstandard des Gemeinschaftsrechts verletzen sollte, gewährt der Europäische Gerichtshof Rechtsschutz. Wenn auf diesem Wege der vom Grundgesetz als unabdingbar gebotene Grundrechtsstandard nicht verwirklicht werden sollte, kann das Bundesverfassungsgericht angerufen werden.“
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Im Maastricht-Urteil vom 12. Oktober 1993 (BVerfGE 89, S. 155 ff), in dem es um die Verfassungsmäßigkeit des Vertrages von Maastricht über die Europäische Union ging, brachte das BVerfG einen weiteren Gesichtspunkt in die Problematik ein, der zu einiger Verwirrung führte.
Zum Grundrechtsschutz führte das BVerfG nämlich aus (BVerfGE 89, S. 155 ff, 174 f):
„Das Bundesverfassungsgericht gewährleistet durch seine Zuständigkeiten (vgl BVerfGE 37, 271 [280 ff]; 73, 339 [376 f]), daß ein wirksamer Schutz der Grundrechte für die Einwohner Deutschlands auch gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaften generell sichergestellt und dieser dem vom Grundgesetz als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im wesentlichen gleich zu achten ist, zumal den Wesensgehalt der Grundrechte generell verbürgt. Das Bundesverfassungsgericht sichert so diesen Wesensgehalt auch gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaft (vgl BVerfGE 73, 339 [386]). Auch Akte einer besonderen, von der Staatsgewalt der Mitgliedstaaten geschiedenen öffentlichen Gewalt einer supranationalen Organisation betreffen die Grundrechtsberechtigten in Deutschland. Sie berühren damit die Gewährleistungen des Grundgesetzes und die Aufgaben des Bundesverfassungsgerichts, die den Grundrechtsschutz in Deutschland und insoweit nicht nur gegenüber deutschen Staatsorganen zum Gegenstand haben (Abweichung von BVerfGE 58, 1 [27]). Allerdings übt das Bundesverfassungsgericht seine Gerichtsbarkeit über die Anwendbarkeit von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht in Deutschland in einem ‚Kooperationsverhältnis‘ zum Europäischen Gerichtshof aus, in dem der Europäische Gerichtshof den Grundrechtsschutz in jedem Einzelfall für das gesamte Gebiet der Europäischen Gemeinschaften garantiert, das Bundesverfassungsgericht sich deshalb auf eine generelle Gewährleistung der unabdingbaren Grundrechtsstandards (vgl BVerfGE 73, 339 [387]) beschränken kann.“
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Über die Auslegung dieser Passage – insbesondere bezüglich des „Kooperationsverhältnisses“ – gab es sehr unterschiedliche Meinungen. Einerseits wurde vertreten, dass das BVerfG damit die Linie des Solange II-Beschlusses verlassen habe und dass es nun sich für in erster Linie berufen halte, die gebotene Grundrechtsgewährleistungsfunktion zu übernehmen. Mehrheitlich war man aber andererseits der Meinung, dass das BVerfG nicht vom Solange II-Beschluss abgewichen sei, sondern dass nur die Voraussetzungen, unter denen sich das BVerfG im Hinblick auf den europäischen Grundrechtsschutz durch den EuGH zurückziehe, restriktiver zu interpretieren seien bzw dass dem BVerfG nun auf jeden Fall ein Prüfungsrecht zustehe, was nach dem Solange II-Beschluss noch strittig war.
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Später hat das BVerfG zur Vermeidung von Konflikten mit der Union und insbesondere dem EuGH die Zulässigkeitshürde für Verfassungsbeschwerden und Richtervorlagen erhöht und dabei an seine Solange II-Rechtsprechung angeknüpft. Im Bananenmarktordnungs-Beschluss vom 7. Juni 2000 (in dem es um den Vollzug der Bananenmarktordnung der EG ging, die deutsche Importeure in existenzielle wirtschaftliche Schwierigkeiten gebracht hatte) hat es nämlich ausgeführt, dass Verfassungsbeschwerden und Vorlagen im Rahmen von Normenkontrollverfahren von vornherein unzulässig seien, wenn nicht dargelegt werde, dass der Grundrechtsschutz durch den EuGH unter den erforderlichen Grundrechtsstandard iSd Solange II-Rechtsprechung abgesunken sei (BVerfGE 102, S. 147 ff, 164). Damit dürfte die Zulässigkeitshürde fast unüberwindbar sein (s. dazu Streinz, in: Sachs, Art. 23, Rz 43).
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Diese Rechtsprechung des BVerfG in Bezug auf das Gemeinschaftsrecht kann ohne weiteres auf das Unionsrecht nach dem Vertrag von Lissabon übertragen werden. Durch die Aufwertung der Charta der Grundrechte (s. Rn 593 ff) wird sie nicht berührt. Vielmehr wird die Argumentation des BVerfG im Bananenmarktordnungs-Beschluss hinsichtlich der Zulässigkeit von Verfassungsbeschwerden und konkreten Normenkontrollanträgen nachdrücklich untermauert, da der erforderliche Grundrechtsstandard auf der EU-Ebene nun auch durch geschriebenes Unionsrecht auf Dauer abgesichert wird.
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Zusammenfassung: Im Bereich der Grundrechte des GG geht das BVerfG im Ansatz von einem grundsätzlichen Vorrang des GG aus. Allerdings wird dieser Vorrang dadurch verfahrensrechtlich relativiert, dass das BVerfG seine Gewährleistung des Grundrechtsschutzes solange nicht wahrnimmt, als dieser auf der Ebene der EU dem des GG im Wesentlichen gleichzuachten ist (Solange II-Beschluss, s. Rn 180 f). Daher sind Verfassungsbeschwerden und Vorlagen im Rahmen von Normenkontrollverfahren von vornherein unzulässig, wenn nicht dargelegt wird, dass der Grundrechtsschutz durch den EuGH unter diesen Standard abgesunken sei (Bananenmarktordnungs-Beschluss, s. Rn 184). Damit erweist sich der Vorrang des GG einerseits als theoretisch, und ein Anwendungsfall ist in der Praxis kaum zu erwarten, ohne dass damit andererseits der Anspruch auf den Vorrang aufgegeben worden ist. Man spricht von einer „theoretischen Reservekompetenz“ (Dederer, JZ 2014, S. 313 ff, 314).
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Das Vorrangproblem stellt sich für das BVerfG bei den Grundrechten dort nicht, wo das Unionsrecht kraft seines Vorrangs den deutschen Grundrechtsschutz erweitert.
Beispiel:
Eine nach italienischem Recht gegründete Gesellschaft mit beschränkter Haftung mit Sitz in Italien erhob gegen ein Urteil des BGH Verfassungsbeschwerde zum BVerfG. Wegen ihres Sitzes in Italien war die italienische Gesellschaft mit beschränkter Haftung als ausländische juristische Person und damit eigentlich nicht als grundrechtsberechtigt anzusehen (Umkehrschluss aus Art. 19 Abs. 3 GG: „inländisch“). Wegen des Vorrangs des Unionsrechts, namentlich wegen des Diskriminierungsverbots aus Art. 18 AEUV und der Grundfreiheiten im Binnenmarkt (vgl Art. 26 Abs. 2 AEUV) musste das Merkmal „inländisch“ unangewendet bleiben. Das BVerfG spricht demgegenüber (dogmatisch etwas unscharf, aber in der Sache zutreffend) von einer „Anwendungserweiterung“ des deutschen Grundrechtsschutzes über Art. 19 Abs. 3 GG hinaus auf ausländische juristische Personen mit Sitz in der EU, soweit sie im Anwendungsbereich des Unionsrechts tätig werden (BVerfGE 129, S. 78 ff, 94 ff). Im Ergebnis nahm das BVerfG daher eine Grundrechtsberechtigung der italienischen Gesellschaft zu Recht an.
Diese Rechtsprechung ist auf alle Unionsbürger (Art. 20 Abs. 1 Satz 2 AEUV) zu übertragen, dh auch natürliche Personen mit der Staatsangehörigkeit eines EU-Mitgliedstaates sind hinsichtlich der sogenannten „Deutschen-Grundrechte“ (zB Art. 12 Abs. 1 GG) im Wege der Anwendungserweiterung des personellen Schutzbereichs grundrechtsfähig, soweit sie sich jeweils im Anwendungsbereich des Unionsrechts bewegen. Dogmatisch geht es darum, dass in einem solchen Fall das Tatbestandsmerkmal „Deutsche/r“ aus Gründen des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts, insbesondere seiner Diskriminierungsverbote wegen der Staatsangehörigkeit, unangewendet bleiben muss.
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Eine Besonderheit ergibt sich bei der Umsetzung von Richtlinien (s. Rn 661 ff). An sich sind deutsche Umsetzungsrechtsakte zulässiger Beschwerdegegenstand von Verfassungsbeschwerden (Art. 93 Abs. 1 Nr 4a GG) bzw Antragsgegenstände von Normenkontrollanträgen (Art. 93 Abs. 1 Nr 2, Art. 100 Abs. 1 GG). Denn sie stellen Akte der deutschen öffentlichen Gewalt dar, deren Verfassungs- und insbesondere Grundrechtsbindung (Art. 20 Abs. 3, Art. 1 Abs. 3 GG) zunächst nicht zweifelhaft ist. Verfassungsbeschwerden und Vorlagen im Rahmen von Normenkontrollverfahren in Bezug auf Umsetzungsnormen, die zwingenden Vorgaben einer Richtlinie entsprechen, werden vom BVerfG allerdings wie oben dargestellt behandelt (Rn 184) und daher als von vornherein unzulässig erklärt. Denn mit der Prüfung der deutschen Umsetzungsrechtsakte würden inzident zugleich die zwingenden Richtlinienbestimmungen der EU am Maßstab der Grundrechte des GG gemessen.
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Wenn allerdings eine Richtlinie den Mitgliedstaaten einen Gestaltungsspielraum eröffnet, können die entsprechenden Umsetzungsnormen vollumfänglich an den Grundrechten des GG gemessen werden (s. den Emissionshandels-Beschluss vom 13. März 2007, BVerfGE 118, S. 79 ff, 95 ff und den Vorratsdatenspeicherungs-Beschluss vom 11. März 2008, BVerfGE 121, S. 1 ff, 15). Ob eine Richtlinie dem nationalen Gesetzgeber einen solchen Spielraum belässt, ist von den Fachgerichten zu klären, gegebenenfalls durch Einschaltung des EuGH im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV (BVerfGE 129, S. 186 ff, 199). Das BVerfG hat diese Rechtsprechung (zur grundrechtlichen Gültigkeit von Umsetzungsnormen) in seinen Beschlüssen vom 6. November 2019 (für den Fall der grundrechtskonformen Anwendung von Umsetzungsnormen) weiter konkretisiert (s. BVerfG, Beschluss vom 6. November 2019 – 1 BvR 16/13; Beschluss vom 6. November 2019 – 1 BvR 276/17; s. Rn 1311 ff).
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Eine nicht vorherzusehende Volte schlug das BVerfG allerdings im Vorratsdatenspeicherungs-Urteil vom 2. März 2010. Anders als nach der bisherigen Rechtsprechung (s. Rn 186 und Rn 188) zu erwarten gewesen wäre, seien, so das BVerfG (BVerfGE 125, S. 260 ff, 307),
„die Verfassungsbeschwerden vorliegend aber auch insoweit zulässig, als die angegriffenen Vorschriften auf Richtlinienbestimmungen beruhen, die einen zwingenden Inhalt haben. Die Beschwerdeführer machen geltend, dass es der (Vorratsdatenspeicherungs-)Richtlinie 2006/24/EG an einer gemeinschaftsrechtlichen Kompetenzgrundlage fehle und sie gegen europäische Grundrechtsverbürgungen verstoße. Sie erstreben deshalb unter anderem, ohne dass sie dies angesichts ihrer unmittelbar gegen das Umsetzungsgesetz gerichteten Verfassungsbeschwerden vor den Fachgerichten geltend machen konnten, eine Vorlage durch das Bundesverfassungsgericht an den Europäischen Gerichtshof, damit dieser im Wege der Vorabentscheidung nach Art. 267 AEUV (vormals Art. 234 EGV) die Richtlinie für nichtig erkläre und so den Weg frei mache für eine Überprüfung der angegriffenen Vorschriften am Maßstab der deutschen Grundrechte. Jedenfalls ist auf diesem Weg eine Prüfung der angegriffenen Vorschriften am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes nach dem Begehren der Beschwerdeführer nicht von vornherein ausgeschlossen.“
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Das BVerfG muss dann also in die Prüfung der Begründetheit der Verfassungsbeschwerde eintreten. Dabei könnte das Gericht auf das Problem stoßen, dass von der Richtlinie zwingend vorgegebene deutsche Umsetzungsvorschriften mit den Grundrechten des GG unvereinbar sind, dh die Richtlinie enthielte zwingende Vorgaben, die nur unter Verstoß gegen die Grundrechte des GG umgesetzt werden können (vgl BVerfGE 125, S. 260 ff, 309). In diesem Fall dürfte das BVerfG nicht das deutsche Umsetzungsgesetz für nichtig erklären und damit inzident die EU-Richtlinie gleich mitverwerfen (s. Rn 188). Vielmehr müsste das BVerfG seine weitere Prüfung des deutschen Umsetzungsgesetzes aussetzen und dem EuGH die Frage vorlegen, ob die betreffende Richtlinie mit den Unionsgrundrechten vereinbar ist. Hielte der EuGH die Richtlinie für grundrechtswidrig und damit ungültig, wäre für das BVerfG der Weg frei, die auf zwingenden Vorgaben der Richtlinie beruhenden deutschen Umsetzungsbestimmungen seinerseits als verfassungswidrig und ungültig zu verwerfen. Sollte der EuGH dagegen die Richtlinie für grundrechtskonform halten, bliebe dem BVerfG im Einklang mit seiner Solange II-Rechtsprechung nichts anderes übrig, als die Wahrnehmung seiner Grundrechtskontrolle zurückzunehmen und die für zulässig erachtete Verfassungsbeschwerde nunmehr als unbegründet abzuweisen – obwohl es bereits nach vollumfänglicher (Begründetheits-)Prüfung erkannt hat, dass die von Richtlinienbestimmungen zwingend vorgegebenen nationalen Umsetzungsvorschriften mit dem deutschen Grundrechtsstandard nicht in Einklang zu bringen sind.
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Dogmatisch lässt sich aus dieser Rechtsprechung der Schluss ziehen, dass das BVerfG in Bezug auf EU-Richtlinien in Zukunft immerhin eine Prüfungskompetenz, aber weiterhin keine Verwerfungskompetenz für sich in Anspruch nimmt, dh nur die Kompetenz, inzident zu prüfen, ob EU-Richtlinien, jedenfalls soweit sie zwingende Vorgaben machen, grundrechtswidrig sind. Der Vorteil dieser Fortentwicklung der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung ist, dass das BVerfG mit dem EuGH im Einzelfall „in einen unmittelbaren grundrechtlichen Dialog treten (kann)“ (s. Bäcker, Solange IIa oder Basta I?, EuR 2011, S. 103 ff, 111 ff).
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Nach der Rechtsprechung des BVerfG ist die Gewährleistung des Grundrechtsschutzes in Form einer Verfassungsbeschwerde gegenüber Akten einer supranationalen Organisation nicht auf Akte der EU beschränkt, sondern umfasst auch Akte anderer supranationaler Einrichtungen, wie zB des Europäischen Patentamts (BVerfG, NJW 2001, S. 2705 f; vgl auch zu Europäischen Schulen BVerfGE 149, S. 346 ff, 362), an welchen die Bundesrepublik beteiligt ist. Solche Akte sind ebenfalls als Akte öffentlicher Gewalt im Sinne des § 90 BVerfGG zu qualifizieren. Allerdings ist zu beachten, dass das BVerfG auch hier seine Gerichtsbarkeit nur ausübt, wenn der Beschwerdeführer hinreichend substantiiert vorträgt, dass der Grundrechtsschutz, zB auf der Ebene des Europäischen Patentübereinkommens vom 5. Oktober 1973, den Anforderungen des GG nicht entspricht.