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a) Art. 24 Abs. 1 GG
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Vor dem anlässlich des Vertrags von Maastricht 1992 in das GG eingefügten Art. 23 GG enthielt Art. 24 Abs. 1 GG die Kompetenz des Bundes, durch Gesetz Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen – also auch auf die (damaligen) Europäischen Gemeinschaften – zu übertragen.
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Die hL versteht darunter die Kompetenz des Bundes, sowohl Bundes- als auch Länder-Hoheitsrechte zu übertragen. Bei diesen handelt es sich um die Befugnis, nationale Rechtsverhältnisse hoheitlich zu gestalten. Dazu gehören – einzeln oder gemeinsam – Rechtsetzungs-, Rechtsprechungs- und Vollziehungsbefugnisse. Dies ist zwar in Art. 24 Abs. 1 GG so nicht ausdrücklich vorgesehen, wird aber allgemein mit der Begründung bejaht, dass die Bundesrepublik ansonsten integrationsunfähig wäre (s. Streinz, in: Sachs, Art. 24, Rz 26). In der Tat wäre – bezogen zB auf die seinerzeitigen Europäischen Gemeinschaften – eine Integration auf wirtschaftlichem Gebiet ohne Eingriff in den Gesetz- und Verwaltungsbereich auch der Länder gar nicht möglich gewesen. Zudem kann auf die grundsätzliche Entscheidung des GG für die europäische Integration in Satz 1 der Präambel des GG hingewiesen werden.
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Vor diesem Hintergrund hat das BVerfG für solche Fälle (in Bezug auf die Europäischen Gemeinschaften) festgelegt, dass der Bund als Sachwalter der Länder aufzutreten habe, da diese ihre Interessen gegenüber den Organen der Europäischen Gemeinschaften nicht selbst wahrnehmen könnten. Dabei würden der Bundesregierung prozedurale Pflichten zur bundesstaatlichen Zusammenarbeit und Rücksichtnahme sowie insbesondere eine Informations- und Verständigungspflicht erwachsen (BVerfGE 92, S. 203 ff, 229 ff) (zur Rechtslage unter Art. 23 GG s. Rn 743 ff).
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Der Begriff der „Übertragung“ ist nicht wörtlich zu interpretieren. Insbesondere versteht man darunter nicht einen Übertragungsvorgang, der vergleichbar ist mit einer Übereignung oder einer Zession. Man sieht darin vielmehr nur einen Verzicht auf die Ausübung der übertragenen Hoheitsrechte zu Gunsten der völkervertraglich gegründeten zwischenstaatlichen Einrichtung durch die Bundesrepublik. Diese duldet – solange sie Vertragspartner ist und soweit es im Vertrag so vorgesehen ist – die Ausübung der Hoheitsgewalt durch die zwischenstaatliche Einrichtung, und zwar mit unmittelbarer Wirkung im innerstaatlichen Bereich (dh ohne dass die Hoheitsakte der Einrichtung innerstaatlicher Umsetzungs- oder Vollzugsakte bedürften) und uU mit Vorrang vor dem nationalen Recht. Denn mit und im Umfang der jeweiligen Hoheitsrechtsübertragung öffnet sich die Bundesrepublik Deutschland für die Ausübung von Hoheitsgewalt durch die zwischenstaatliche Einrichtung im innerstaatlichen Bereich (stRspr des BVerfG, aus jüngerer Zeit zB BVerfGE 149, S. 346 ff, 361). Löst sich die Bundesrepublik – aus irgendeinem Grund – von der zwischenstaatlichen Einrichtung, so übt sie ihre Hoheitsrechte wieder selbst aus. Sie duldet dann nicht mehr die Ausübung übertragener Hoheitsgewalt im innerstaatlichen Bereich.
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Hinsichtlich dieser Wirkung stellt die Übertragung gemäß Art. 24 Abs. 1 GG eine materielle Verfassungsänderung durch Gesetz dar.
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Für die Übertragung ist ein förmliches Bundesgesetz erforderlich. Nach dem Wortlaut des Art. 24 Abs. 1 GG handelt es sich dabei um ein einfaches, zustimmungsfreies Gesetz. Ungeachtet seines materiell-verfassungsändernden Charakters (Rn 114) ist dieses Gesetz nicht an die Voraussetzungen des Art. 79 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 GG gebunden. Da aber die Übertragung von Hoheitsrechten nur dergestalt machbar ist, dass gleichzeitig entweder eine zwischenstaatliche Einrichtung gegründet oder umgestaltet oder der Beitritt zu einer solchen vollzogen wird, was nur im Zusammenhang mit einem völkerrechtlichen Vertrag möglich ist, kommt neben Art. 24 Abs. 1 auch noch Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG zur Anwendung. Über Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG kann das Gesetz dann allerdings zu einem Zustimmungsgesetz werden (s. Rn 367 ff, insbesondere Rn 394 ff).
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Das Gesetz hat insofern also eine Doppelfunktion, eine staatsrechtliche (Art. 24 Abs. 1 GG) und eine völkerrechtliche (Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG). Von diesem Ansatz ausgehend hat man den Übertragungsvorgang als „Gesamtakt staatlicher Integrationsgewalt“ bezeichnet, wobei die vorrangige Bedeutung dem Art. 24 Abs. 1 GG zugeordnet wird (H. P. Ipsen, Gemeinschaftsrecht, S. 60 ff).
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Unter zwischenstaatlichen Einrichtungen iSd Art. 24 Abs. 1 GG versteht man in der Regel internationale Organisationen. Dennoch ist der Begriff offen für andere Erscheinungsformen, sofern sie zwischenstaatlich sind. Damit scheiden non-governmental organizations (s. Rn 1153) ebenso aus wie einzelne fremde Staaten oder innerstaatliche Körperschaften (vgl BVerfGE 2, S. 347 ff, 380). Abstrakt formuliert sind zwischenstaatliche Einrichtungen Vereinigungen von Staaten, die – auf Grund der Übertragung von Hoheitsrechten – eigenständige Hoheitsgewalt im innerstaatlichen Bereich der Mitgliedstaaten ausüben können (zu einigen Beispielen s. Rn 120).
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Die überwiegende Ansicht geht davon aus, dass Art. 24 Abs. 1 GG den Bund nicht absolut schrankenlos zur Übertragung von Hoheitsrechten ermächtigt (vgl Rn 173). Wo hingegen die genauen Grenzen zu ziehen sind, ist umstritten. Als anerkanntes Minimum wird man die Grundsätze ansehen können, deren Unabänderlichkeit in Art. 79 Abs. 3 GG festgelegt ist. Denn wenn diese Grundsätze der Disposition des verfassungsändernden Gesetzgebers entzogen sind, dann sind sie erst recht der Disposition des einfachen, das GG aber materiell verfassungsändernden Gesetzgebers nach Art. 24 Abs. 1 GG (Rn 114) entzogen.
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Das BVerfG fordert zudem, dass die Übertragung von Hoheitsrechten durch Gesetz bestimmt genug sein muss, sodass insbesondere die zukünftige Handhabung dieser Hoheitsrechte unter Berücksichtigung der besonderen Umstände klar sein muss.
Beispiel:
Zu der Frage, ob die Zustimmung der Bundesregierung zur Ausrüstung der in der Bundesrepublik stationierten Streitkräfte der Vereinigten Staaten von Amerika mit nuklear ausgerüsteten Raketen einer gesetzlichen Ermächtigung des Bundestages bedürfe oder ob diese Zustimmung bereits durch das Gesetz (iSv Art. 24 Abs. 1 GG) betreffend den Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zum Brüsseler Vertrag und zum Nordatlantikvertrag vom 25. März 1955 gedeckt sei, hat das BVerfG Folgendes ausgeführt (BVerfGE 68, S. 1 ff, 98 f):
„Der Nordatlantikvertrag enthält keine Vorschriften, die der NATO der Zustimmungserklärung entsprechende Befugnisse ausdrücklich zuerkennen. Hieraus folgt indessen nicht, daß im vorliegenden Fall den Anforderungen des Art. 24 Abs. 1 GG nicht genügt wäre. Wie der Senat in seinem Beschluß vom 23. Juni 1981 (BVerfGE 58, 1, 36 f) entschieden hat, ist die sachliche Reichweite des Gesetzesvorbehalts in Art. 24 Abs. 1 GG auch mit Blick auf die Art und Weise zu bestimmen, in der Einrichtungen im Sinne dieser Vorschrift auf der zwischenstaatlichen Ebene errichtet werden und funktionieren. Dies geschieht typischerweise im Rahmen eines Integrationsprozesses. In seinem zeitlichen Verlauf sind zahlreiche einzelne Vollzugsakte erforderlich, um den im Gründungsvertrag angestrebten Zustand herbeizuführen. Die Rechtsformen, in denen sich das vollzieht, können vielfältig sein. Auch dort, wo nicht schon der Gründungsvertrag selbst den Ablauf eines Integrationsprozesses nach Inhalt, Form und Zeitpunkt festgelegt hat, bedarf es für die einzelnen Vollzugsschritte nicht von vornherein jeweils eines gesonderten Gesetzes im Sinne des Art. 24 Abs. 1 GG. Es ist dort entbehrlich, wo bereits der Gründungsvertrag, dem durch Gesetz zugestimmt worden ist, diesen künftigen Vollzugsverlauf hinreichend bestimmbar normiert hat. Wesentliche Änderungen des dort angelegten Integrationsprogramms und seiner Vollzüge sind allerdings nicht mehr von dem ursprünglichen Zustimmungsgesetz nach Art. 24 Abs. 1 GG gedeckt. Die Maßstäbe solcher hinreichenden Bestimmbarkeit müssen dabei aus der jeweiligen Eigenart des vom Gründungsvertrag geregelten Lebenssachverhalts im Lichte der durch Art. 24 Abs. 1 GG geschützten Rechtsgüter wie auch der durch die Vorschrift ermöglichten Gestaltungsfreiheiten und ihrer Praktikabilität im internationalen Bereich entnommen werden.
… Gemessen hieran bedurfte die Übertragung von Einsatzbefugnissen über die in Rede stehenden, in der Bundesrepublik Deutschland stationierten Waffensysteme durch die angegriffene Zustimmung der Bundesregierung nicht eines gesonderten Gesetzes nach Art. 24 Abs. 1 GG.“