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2. Rangverhältnis

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Aus Art. 24 Abs. 1 GG und – speziell im Hinblick auf die EU – aus Art. 23 Abs. 1 GG wird abgeleitet, dass diese beiden Bestimmungen auch die Zustimmung zum Vorrang von Hoheitsakten der einheitlichen und originären Hoheitsgewalt einer neu gegründeten zwischenstaatlichen Einrichtung bzw der EU vor dem nationalen Recht mit umfassen, soweit sich ein solcher Vorrang aus den Gründungsverträgen oder auf ihrer Grundlage ergibt. Untersucht man die Verträge der EU (EUV, AEUV und GRC) auf entsprechende Regelungen, ist man mitten in der europarechtlichen Lösung (s. Rn 74 ff). Damit kommt man über die dort genannten Kollisionsregeln zum prinzipiellen Vorrang des Unionsrechts.

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Einheitlich wird dieser Vorrang als Vorrang gegenüber dem innerstaatlichen einfachen Gesetzesrecht im materiellen Sinn (Gesetz, Verordnung, Satzung) anerkannt. Übereinstimmend wird er – wie ausgeführt – als Anwendungs- und nicht als Geltungsvorrang verstanden (s. Rn 93). Dementsprechend sind alle Träger deutscher Hoheitsgewalt und insbesondere die jeweils zuständigen Fachgerichte dazu berufen und verpflichtet, einfache Gesetze im materiellen Sinn, die Unionsrecht widersprechen, unangewendet zu lassen. Einer zusätzlichen Entscheidung des BVerfG bedarf es nicht, da es bei dieser Rechtsfrage nicht um die allgemeine Verwerfungskompetenz des BVerfG für deutsches Recht geht (BVerfGE 31, S. 145 ff, 173 ff). Auch aus Sicht des EuGH wäre ein vorgängiges Vorlageverfahren an eine nationale Stelle (wie zB das BVerfG), um dort die Vereinbarkeit nationalen Rechts mit dem Unionsrecht prüfen zu lassen, mit dem Unionsrecht und dessen Vorrang unvereinbar (EuGH, Rs. 106/77, Staatliche Finanzverwaltung/Simmenthal, Slg. 1978, S. 629 ff, Randnr 17/18 und Randnr 24).

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Weniger einheitlich ist die Lehre in der Frage, ob dieser Vorrang des Unionsrechts auch gegenüber dem GG gilt. Der EuGH seinerseits geht von einem Vorrang selbst gegenüber den nationalen Verfassungen aus (s. Rn 95). Zugespitzt hatte sich die Kontroverse zunächst bei der Frage des Vorrangs des Unionsrechts vor den Grundrechten des GG. Später hat das BVerfG die Frage aufgeworfen, inwieweit ganz allgemein die Verfassungsidentität dem Vorrang des Unionsrechts Grenzen setzt.

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Hinzu gekommen ist ferner die Frage nach der innerstaatlichen Verbindlichkeit sog. „ausbrechender“ Rechtsakte der EU, die jenseits der auf die EU übertragenen Kompetenzen (dh „ultra vires“) erlassen wurden. Sofern sie nicht innerstaatlich verbindlich sind, haben sie auch nicht am Vorrang des Unionsrechts teil.

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Die Rechtsprechung des BVerfG zur Frage des Vorrangs und die wissenschaftliche Diskussion stammen größtenteils aus der Zeit vor Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon. Die Ergebnisse lassen sich zwar grundsätzlich auf das heutige Unionsrecht übertragen, in der folgenden Darstellung der Entwicklung muss aber, historisch bedingt, verschiedentlich der Begriff des Gemeinschaftsrechts weiter verwendet werden.

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Nach dem aktuellen Stand der Rechtsprechung des BVerfG gilt „(d)er Anwendungsvorrang des Unionsrechts vor nationalem Recht … grundsätzlich auch mit Blick auf entgegenstehendes nationales Verfassungsrecht“ (BVerfGE 140, S. 317 ff, 335). Das BVerfG geht so weit zu sagen, dass „(a)uf der Grundlage von Art. 23 Abs. 1 GG … der Integrationsgesetzgeber nicht nur Organe und Stellen der Europäischen Union, soweit sie in Deutschland öffentliche Gewalt ausüben, von einer umfassenden Bindung an die Grundrechte und andere Gewährleistungen des Grundgesetzes freistellen (Hervorhebung d. Verf.) (kann), sondern auch deutsche Stellen, die Recht der Europäischen Union vollziehen … Das gilt nicht zuletzt für die Gesetzgeber auf Bundes- und Landesebene, wenn diese Sekundär- oder Tertiärrecht umsetzen, ohne dabei über einen Gestaltungsspielraum zu verfügen …“ (BVerfGE 140, S. 317 ff, 335).

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Andererseits setzen die Grundrechte (s. Rn 170 ff), das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (s. Rn 194 ff) sowie die Verfassungsidentität (s. Rn 212 ff) dem Vorrang des Unionsrechts verfassungsrechtliche Grenzen. Man kann deshalb von der „Schrankentrias“ der Grundrechts-, Ultra-vires- und Identitätsschranken sprechen. Unionsrecht, welches diese Schranken nicht zu passieren vermag, darf im innerstaatlichen Bereich nicht angewandt werden und infolgedessen keinen Vorrang vor nationalem Recht beanspruchen.

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Verständlich wird diese „Schrankentrias“ vor dem dualistischen Verständnis des BVerfG vom Verhältnis des Unionsrechts zum nationalen Recht (s. bereits BVerfGE 22, S. 293 ff, 296; 37, S. 271 ff, 278). Danach gelangt das Unionsrecht nur über eine besondere „Brücke“ in den innerstaatlichen Bereich. Diese „Brücke“ wird vom parlamentarischen Zustimmungsgesetz zu den Gründungsverträgen der EU gebildet (vgl Art. 23 Abs. 1 Satz 2 iVm Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG; s. Rn 127). Jenes Gesetz bildet den „konstitutiven Rechtsanwendungsbefehl“ (BVerfGE 123, S. 267 ff, 400) bzw die „nationale Geltungsanordnung“ (BVerfGE 140, S. 317 ff, 338) für die innerstaatliche Geltung des Unionsrechts und insoweit zugleich für den prinzipiellen Vorrang des Unionsrechts vor dem deutschen Recht (BVerfGE 73, S. 339 ff, 375; 123, S. 267 ff, 398, 402). Vorrang vor dem deutschen Recht kann allerdings nur solches Unionsrecht beanspruchen, welches die Grundrechts-, Ultra-vires- und Identitätsschranken passiert, also nicht von der Schrankentrias daran gehindert wird, im innerstaatlichen Rechtsraum Verbindlichkeit zu entfalten. „Schrankenwärter“ (oder „Brückenwärter“) ist dabei das BVerfG. Es übt die Grundrechts-, die Ultra-vires- und Identitätskontrolle aus (zu diesem „Brückenmodell“ grundlegend BVerfGE 73, S. 339 ff, 375, und Kirchhof, in: Isensee/Kirchhof, Bd. X, S. 299 ff, 368 ff).

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Das BVerfG hat danach den Anwendungsvorrang des Unionsrechts vor dem nationalen Recht grundsätzlich anerkannt, insbesondere auch den Anwendungsvorrang vor dem deutschen Verfassungsrecht (s. Rn 165). Im Honeywell-Beschluss hat das BVerfG unter ausdrücklicher Bezugnahme auf den EuGH klargestellt (BVerfGE 126, S. 286 ff, 301 f):

„Das Recht der Europäischen Union kann sich nur wirksam entfalten, wenn es entgegenstehendes mitgliedstaatliches Recht verdrängt. Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts führt zwar nicht dazu, dass entgegenstehendes nationales Recht nichtig wäre. Mitgliedstaatliches Recht kann vielmehr weiter seine Geltung entfalten, wenn und soweit es jenseits des Anwendungsbereichs einschlägigen Unionsrechts einen sachlichen Regelungsbereich behält. Im Anwendungsbereich des Unionsrechts dagegen ist entgegenstehendes mitgliedstaatliches Recht grundsätzlich unanwendbar. Der Anwendungsvorrang folgt aus dem Unionsrecht, weil die Union als Rechtsgemeinschaft nicht bestehen könnte, wenn die einheitliche Wirksamkeit des Unionsrechts in den Mitgliedstaaten nicht gewährleistet wäre (vgl grundlegend EuGH, Urteil vom 15. Juli 1964, Rs. 6/64, Costa/ENEL, Slg. 1964, S. 1251 Rn 12). Der Anwendungsvorrang entspricht auch der verfassungsrechtlichen Ermächtigung des Art. 23 Abs. 1 GG, wonach Hoheitsrechte auf die Europäische Union übertragen werden können … Art. 23 Abs. 1 GG erlaubt mit der Übertragung von Hoheitsrechten – soweit vertraglich vorgesehen und gefordert – zugleich deren unmittelbare Ausübung innerhalb der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen. Er enthält somit ein Wirksamkeits- und Durchsetzungsversprechen, dem der unionsrechtliche Anwendungsvorrang entspricht.

… Anders als ein bundesstaatlicher Geltungsvorrang, wie ihn Art. 31 GG für die deutsche Rechtsordnung vorsieht, kann der Anwendungsvorrang des Unionsrechts nicht umfassend sein …“

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Dieser Vorbehalt, wonach der Anwendungsvorrang des Unionsrechts „nicht umfassend“ sein könne, bezieht sich gerade auf die Schrankentrias der Grundrechts-, Ultra-vires- und Identitätsschranken und auf die darauf gerichteten Kontrollbefugnisse des BVerfG, nämlich (BVerfGE 129, S. 78 ff, 100):

„(d)ie dem Bundesverfassungsgericht aufgegebene Kontrolle des europäischen Rechts auf Erhaltung der Identität der nationalen Verfassung, auf Einhaltung der nach dem System der begrenzten Einzelermächtigung überlassenen Kompetenzen und der Gewährleistung eines im Wesentlichen dem deutschen Grundrechtsschutz gleichkommenden Schutzniveaus“.

Staatsrecht III

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