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b) Art. 23 GG

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Mit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes vom 21. Dezember 1992 (BGBl. 1992 I, S. 2086), das seinerzeit den Beitritt der Bundesrepublik zur EU auf der Grundlage des Vertrags von Maastricht ermöglichte, ist Art. 23 GG alleinige Grundlage für alle Integrationsschritte im Rahmen der Europäischen Union geworden. Art. 24 Abs. 1 GG ist seither nur mehr für andere zwischenstaatliche Einrichtungen, denen Hoheitsrechte übertragen werden, maßgeblich.

Beispiele:

(1) Europäische Patentorganisation (BVerfG, NJW 2001, S. 2705 f, 2705).

(2) Europäische Schulen (BVerfGE 149, S. 346 ff).

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Die Integrationskompetenz liegt dabei allein beim Bund. Insbesondere steht gemäß Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG nur dem Bund die Kompetenz zu, durch Gesetz mit Zustimmung des Bundesrates Hoheitsrechte auf die EU zu übertragen.

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Diese Bundeskompetenz zur europäischen Integration ist aber nicht auf die gesetzliche Übertragung von Hoheitsrechten iSv Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG beschränkt. Vielmehr ermächtigt Art. 23 Abs. 1 GG zu prinzipiell allen Arten von Integrationsakten. Diese können auch rein völkervertraglicher Natur sein.

Beispiele:

Im Gefolge der weltweiten Finanzkrise ab 2007 kam es auch im Euroraum zu einer Staatsschuldenkrise, welche 2010 zunächst Griechenland erfasste und sich zur sog. „Eurokrise“ auswuchs. Um einen dauerhaften Krisenbewältigungsmechanismus zu schaffen, errichteten die Euro-Staaten der EU 2012 durch völkerrechtlichen Gründungsvertrag den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM). Der ESM bildet eine eigenständige internationale Organisation. Als zusätzliches Stabilisierungsinstrument wurde 2012 ein weiterer völkerrechtlicher Vertrag, der sog. Fiskalpakt (Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion), abgeschlossen. Das BVerfG hat die Tätigkeit des Europäischen Stabilitätsmechanismus als eine Angelegenheit der Europäischen Union im Sinne des Art. 23 Abs. 2 GG bezeichnet (BVerfGE 135, S. 317 ff, 428). Für den Fiskalpakt kann nichts anderes gelten.

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Die von Art. 23 Abs. 1 GG vermittelte Ermächtigung zur europäischen Integration gilt nicht nur für die Errichtung der EU, sondern auch für alle zukünftigen Integrationsschritte. Sie können durch ordentliche oder vereinfachte Vertragsänderungen (Art. 48 Abs. 2 bis Abs. 6 EUV), besondere Vertragsänderungen (zB Art. 42 Abs. 2 Unterabs. 1 EUV) sowie durch die Inanspruchnahme von sog. Brückenklauseln (Passerelles, Art. 48 Abs. 7 EUV, Art. 81 Abs. 3 AEUV, s. Rn 133), die Kompetenzerweiterungsklausel (Art. 83 Abs. 1 Unterabs. 3 AEUV) oder die Flexibilitätsklausel (Art. 352 AEUV) zustande kommen. Ob und inwieweit entsprechende Integrationsakte unter dem staatsrechtlichen Vorbehalt eines formellen Gesetzes stehen oder nur unter Beachtung der sich aus Art. 79 Abs. 2 oder 3 GG ergebenden Anforderungen ergehen dürfen, ergibt sich aus Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und Satz 3 GG.

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Hoheitsrechte im Sinne des Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG sind – ebenso wie bei Art. 24 Abs. 1 GG (Rn 111) – Hoheitsrechte des Bundes und der Länder. Dies ergibt sich schon positivrechtlich aus Art. 23 Abs. 5 Satz 2 und Abs. 6 GG. Dazu kommen die zu Art. 24 Abs. 1 GG vertretenen allgemeinen Überlegungen (Rn 111). Handelt es sich um die Übertragung von Hoheitsrechten der Länder, so kommen bei deren Wahrnehmung das Bundesratsverfahren gemäß Art. 23 Abs. 2 und Abs. 4 bis Abs. 7 GG und das Ausführungsgesetz Bundesrat (Sartorius I, Nr 97) zur Anwendung (s. dazu Rn 743 ff).

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Für den Begriff der Übertragung gilt das oben Ausgeführte (s. Rn 113). Die Übertragung von Hoheitsrechten auf die EU lässt sich als „staatsverfassungsrechtliche … Grundlegung der Unionsgewalt“ beschreiben (BVerfGE 123, S. 267 ff, 350). Auch damit wird zum Ausdruck gebracht, dass die Mitgliedstaaten „Herren der Verträge“ (EUV, AEUV) und der in diesen Verträgen eingeräumten Unionskompetenzen sind. Die Unionsgewalt ist also aus der staatsrechtlichen Perspektive des GG lediglich eine von den Mitgliedstaaten abgeleitete Hoheitsgewalt und deshalb der beliebigen Disposition der Union entzogen.

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Die Hoheitsrechtsübertragung kann nur „auf der Grundlage eines Integrationsprogramms nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung“ (BVerfGE 123, S. 267 ff, 347) (s. Rn 617 ff) erfolgen. Die Übertragungskompetenz des Bundes bezieht sich daher immer nur auf einzelne, der EU begrenzt eingeräumte Hoheitsrechte. Vor allem darf der EU keine sogenannte Kompetenz-Kompetenz gewährt werden, dh die Kompetenz, sich selbst allein mit Hilfe ihrer eigenen Organe weitere Kompetenzen, also neue Hoheitsrechte, zu Lasten der Mitgliedstaaten zu verschaffen (BVerfGE 126, S. 267 ff, 349, 352).

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Für die Übertragung von Hoheitsrechten ist ein förmliches Bundesgesetz erforderlich (Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG). Ebenso wie bei Art. 24 Abs. 1 GG (s. Rn 116) hat das Gesetz eine Doppelfunktion, da notwendigerweise auch noch Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG zur Anwendung kommt (vgl Streinz, in: Sachs, Art. 23, Rz 63).

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Der Gesetzesvorbehalt des Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG gilt dabei nicht für alle Arten von Integrationsakten. In bestimmten Fällen genügt ein schlichter Parlamentsbeschluss (s. Rn 136).

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Das Bundesgesetz iSv Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG muss insbesondere hinsichtlich des Integrationsprogramms und des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung hinreichend bestimmt sein. Eine gewisse Eigendynamik der EU nimmt aber das GG gleichwohl hin. Das dadurch auftretende Spannungsverhältnis zum Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und zum Erfordernis eines hinreichend bestimmten Integrationsprogramms sucht das BVerfG durch das Postulat der Notwendigkeit einer „äußeren Kontrolle“ (die dann in der Konsequenz beim BVerfG selbst liegt, s. Rn 194 ff) zu lösen. Es hat dazu Folgendes ausgeführt (BVerfGE 123, S. 267 ff, 351 f):

„Jede Einfügung in friedenserhaltende Systeme, in internationale oder supranationale Organisationen eröffnet die Möglichkeit, dass sich die geschaffenen Einrichtungen, auch und gerade wenn deren Organe auftragsgemäß handeln, selbständig entwickeln und dabei eine Tendenz zu ihrer politischen Selbstverstärkung aufweisen. Ein zur Integration ermächtigendes Gesetz – wie das Zustimmungsgesetz (nach Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG, Anm. d. Verf.) – kann daher trotz des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung immer nur ein Programm umreißen, in dessen Grenzen dann eine politische Entwicklung stattfindet, die nicht in jedem Punkt vorherbestimmt sein kann. Wer auf Integration baut, muss mit der eigenständigen Willensbildung der Unionsorgane rechnen. Hinzunehmen ist daher eine Tendenz zur Besitzstandswahrung (acquis communautaire) und zur wirksamen Kompetenzauslegung im Sinne der US-amerikanischen implied powers-Doktrin … oder der effet utile-Regel des Völkervertragsrechts. … Dies ist Teil des vom Grundgesetz gewollten Integrationsauftrags.

Das Vertrauen in die konstruktive Kraft des Integrationsmechanismus kann allerdings von Verfassungs wegen nicht unbegrenzt sein. Wenn im europäischen Integrationsprozess das Primärrecht durch Organe verändert oder erweiternd ausgelegt wird, entsteht eine verfassungsrechtlich bedeutsame Spannungslage zum Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und zur verfassungsrechtlichen Integrationsverantwortung des einzelnen Mitgliedstaates. Wenn Gesetzgebungs- oder Verwaltungszuständigkeiten nur unbestimmt oder zur dynamischen Fortentwicklung übertragen werden oder wenn die Organe Zuständigkeiten neu begründen, erweiternd abrunden oder sachlich ausdehnen dürfen, laufen sie Gefahr, das vorherbestimmte Integrationsprogramm zu überschreiten und außerhalb ihrer Ermächtigung zu handeln. Sie bewegen sich auf einem Pfad, an dessen Ende die Verfügungsgewalt über ihre vertraglichen Grundlagen steht, das heißt die Kompetenz, über ihre Kompetenzen zu disponieren. Eine Überschreitung des konstitutiven Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung und der den Mitgliedstaaten zustehenden konzeptionellen Integrationsverantwortung droht, wenn Organe der Europäischen Union unbeschränkt, ohne eine – sei es auch nur sehr zurückgenommene und sich als exzeptionell verstehende – äußere Kontrolle darüber entscheiden können, wie das Vertragsrecht ausgelegt wird.“

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Das Bundesgesetz bedarf der Zustimmung des Bundesrates. Dabei wird nicht weiter nach seinem Inhalt differenziert, die Zustimmung ist vielmehr immer erforderlich. Somit stellt diese Regelung im Vergleich zu Art. 24 Abs. 1 GG (s. Rn 115) einen erheblichen Kompetenzzuwachs für die Länder dar.

Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die Vorschrift des Art. 70 Abs. 4 Satz 2 der bayerischen Verfassung (BV): „Ist das Recht der Gesetzgebung durch die Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union betroffen, kann die Staatsregierung in ihren verfassungsmäßigen Aufgaben durch Gesetz gebunden werden.“ Der BayVerfGH hat diese Vorschrift auf den Fall einer Hoheitsrechtsübertragung durch Gesetz gemäß Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG bezogen und begrenzt. Sie vermittelt dem bayerischen Landtag die Befugnis, der Staatsregierung per Landesgesetz Weisungen hinsichtlich ihres Abstimmungsverhaltens im Bundesrat über ein Gesetz iSv Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG zu erteilen (BayVerfGH, BayVBl. 2017, S. 407 ff, 409).

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Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG verweist für die Fälle, in denen es zu einer inhaltlichen Änderung oder Ergänzung des GG kommt oder in denen solche Änderungen oder Ergänzungen ermöglicht werden, auf Art. 79 Abs. 2 und Abs. 3 GG und damit zunächst über Art. 79 Abs. 2 GG auf die Notwendigkeit einer Zweidrittelmehrheit.

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Diese ist vorgesehen für die Begründung der EU (diese Variante ist mit dem Abschluss und Inkrafttreten von EUV, AEUV und GRC einstweilen abgeschlossen, die Vorschrift daher insoweit erschöpft) sowie für Änderungen ihrer vertraglichen Grundlagen (durch Änderungs- und Beitrittsverträge gemäß Art. 48 Abs. 2 bis Abs. 5 und Art. 49 EUV). Voraussetzung des Erfordernisses einer Zweidrittelmehrheit nach Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG ist freilich, dass diese Akte verfassungsändernde Qualität haben. Das ist jedenfalls bei Hoheitsrechtsübertragungen stets der Fall. Deshalb bedurfte der Vertrag von Lissabon einer Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat.

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Die Zweidrittelmehrheit ist zudem vorgesehen für „vergleichbare Regelungen“. Das sind Rechtsakte, die den EU-Gründungsverträgen oder Änderungs- und Beitrittsverträgen vergleichbar sind und verfassungsändernde Qualität haben. Mit Änderungsverträgen vergleichbar sind Vertragsänderungen im vereinfachten Verfahren (Art. 48 Abs. 6 EUV) oder Vertragsänderungen über sog. Brückenklauseln (Passerelles). Dabei handelt es sich jeweils um Vertragsänderungen außerhalb des ordentlichen Verfahrens gemäß Art. 48 Abs. 2 bis Abs. 5 EUV. Hierfür ist – im Interesse von Flexibilität und Zeitökonomie – jeweils die Änderung oder Ergänzung des primären Unionsrechts durch Beschluss des Europäischen Rates oder des Rates nach Anhörung oder Zustimmung des Europäischen Parlaments und die anschließende Annahme durch die Mitgliedstaaten nach ihren verfassungsrechtlichen Bestimmungen vorgesehen. So kann zB ein Wechsel von der Einstimmigkeit zur qualifizierten Mehrheit bei Abstimmungen im Rat beschlossen (Art. 48 Abs. 7 Unterabs. 1 Satz 1 EUV), ein einheitliches Wahlverfahren für die Wahl zum Europäischen Parlament erlassen (Art. 223 Abs. 1 Unterabs. 2 AEUV) oder der Katalog der Unionsbürgerrechte erweitert werden (Art. 25 Abs. 2 AEUV).

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Mit der Notwendigkeit der Zweidrittelmehrheit gemäß Art. 23 Abs. 1 Satz 3 iVm Art. 79 Abs. 2 GG wird sog. „Verfassungsdurchbrechungen“ vorgebeugt, die bei der Anwendung von Art. 24 Abs. 1 GG als Integrationsnorm für möglich erachtet werden (Übertragung von Hoheitsrechten durch einfaches Gesetz mit einfacher Abstimmungsmehrheit, s. Rn 115). Hinzu kommt die Überlegung, dass jede Übertragung von Hoheitsrechten auf die EU materiell eine Verfassungsänderung darstellt, da es zu einer Änderung der Zuständigkeitsordnung des GG kommt (vgl BVerfGE 58, S. 1 ff, 36). Insgesamt wird denn auch überwiegend die Meinung vertreten, dass im Rahmen des Art. 23 Abs. 1 GG Hoheitsrechtsübertragungen immer nur durch Gesetz mit verfassungsändernder Mehrheit (Zweidrittelmehrheit) möglich seien (Streinz, in: Sachs, Art. 23, Rz 72).

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Dieser Ansicht könnte man jedoch entgegengehalten, dass Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG mit seiner gesonderten Ermächtigung zur Übertragung von Hoheitsrechten überflüssig wäre, wenn nicht zwischen Hoheitsrechtsübertragungen im Sinne des Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG und solchen mit verfassungsändernder Qualität im Sinne des Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG unterschieden werde. Vielmehr sei auf den materiellen Gehalt der jeweiligen Übertragung von Hoheitsrechten abzustellen. Die Fälle, die danach nur unter Satz 2 fallen, dürften allerdings sehr selten sein und stellen eher eine theoretische Möglichkeit dar (vgl Streinz, in: Sachs, Art. 23, Rz 71 ff).

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Bei den „vergleichbaren Regelungen“ (s. Rn 133) ist nach der Rechtsprechung des BVerfG eine Mitwirkung von Bundestag und Bundesrat erforderlich, die deren Integrationsverantwortung gerecht wird (s. Rn 763 f). Soweit die entsprechenden Bereiche durch den Vertrag von Lissabon bereits hinreichend bestimmt sind, bedarf es keines Gesetzes; es genügt ein Beschluss. In allen anderen Fällen ist ein Gesetz iSv Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG notwendig (BVerfGE 123, S. 267 ff, 434 ff). Detaillierte Einzelheiten dazu wurden im Gesetz über die Wahrnehmung der Integrationsverantwortung des Bundestages und des Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen Union festgelegt (Integrationsverantwortungsgesetz, IntVG; s. Rn 764). Ein schlichter Parlmentsbeschluss reicht danach nur bei bestimmten „besonderen Brückenklauseln“ aus (vgl § 5 und § 6 IntVG).

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In Fällen der Änderung des primären Unionsrechts, in denen es zu keiner Übertragung von Hoheitsrechten kommt, ist Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG nicht einschlägig. Daher kann auch Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG nicht zur Anwendung kommen. Vielmehr bedarf es eines einfachen Gesetzes, dessen Einstufung als Zustimmungsgesetz sich wegen seiner Doppelfunktion (s. Rn 127) nach Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG richtet.

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Indem Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG auch auf Art. 79 Abs. 3 GG verweist, wird eine absolute Grenze der Übertragung von Hoheitsrechten auf die EU gezogen. Damit dürfen die durch diese sog. Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG geschützten fundamentalen Prinzipien des GG, nämlich Menschenwürde (und Menschenwürdegehalt der Einzelgrundrechte), Grundrechtsbindung aller Staatsgewalt sowie Demokratie, Bundesstaatlichkeit, Sozialstaatlichkeit und Rechtsstaatlichkeit, durch Kompetenzübertragungen des deutschen Gesetzgebers nicht ausgehöhlt werden.

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Sehr weitgehende Folgerungen für zukünftige Integrationsschritte hat das BVerfG dabei aus dem Demokratieprinzip gezogen. Allgemein fordert das BVerfG aus Gründen des Demokratieprinzips, insbesondere des Prinzips demokratischer Legitimation, dass „dem Deutschen Bundestag Aufgaben und Befugnisse von substantiellem Gewicht verbleiben müssen“ (BVerfGE 89, S. 155 ff, 186). Ausgangspunkt hierfür ist Art. 38 Abs. 1 GG, der nicht nur das Wahlrecht zum Bundestag gewährleistet, sondern auch das „Recht, durch die Wahl an der Legitimation von Staatsgewalt teilzunehmen und auf deren Ausübung Einfluß zu gewinnen“ (BVerfGE 89, S. 155 ff, 182). Dieses Recht dürfe nicht durch Verlagerung von Aufgaben und Befugnissen des Bundestages so entleert werden, daß das demokratische Prinzip, soweit es Art. 79 Abs. 3 iVm Art. 20 Abs. 1 und 2 GG für unantastbar erklärt, verletzt wird (BVerfGE 89, S. 155 ff, 182).

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Im Lissabon-Urteil hat das BVerfG sodann einige Sachbereiche konkret benannt, in welchen eine Übertragung von Hoheitsrechten in Zukunft zwar nicht ausgeschlossen, aber sachlich zu begrenzen sei. Die Grenze verlaufe dort, „wo die Koordinierung grenzüberschreitender Sachverhalte sachlich notwendig ist“ (BVerfGE 123, S. 267 ff, 359). Zu diesen Sachbereichen, die im Hinblick auf den Schutz der demokratischen Selbstgestaltungsfähigkeit besonders sensibel seien, gehörten folgende (BVerfGE 123, S. 267 ff, 359):

„Entscheidungen über das materielle und formelle Strafrecht (1), die Verfügung über das Gewaltmonopol polizeilich nach innen und militärisch nach außen (2), die fiskalischen Grundentscheidungen über Einnahmen und – gerade auch sozialpolitisch motivierte – Ausgaben der öffentlichen Hand (3), die sozialstaatliche Gestaltung von Lebensverhältnissen (4) sowie kulturell besonders bedeutsame Entscheidungen etwa im Familienrecht, Schul- und Bildungssystem oder über den Umgang mit religiösen Gemeinschaften (5)“.

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Insbesondere muss die haushaltspolitische Gesamtverantwortung des Bundestages (Budgetverantwortung) gewahrt bleiben. Dazu hat das BVerfG Folgendes ausgeführt (BVerfGE 132, S. 195 ff, 239):

„Art. 38 Abs. 1 GG wird namentlich verletzt, wenn sich der Deutsche Bundestag seiner parlamentarischen Haushaltsverantwortung dadurch entäußert, dass er oder zukünftige Bundestage das Budgetrecht nicht mehr in eigener Verantwortung ausüben können … Die Entscheidung über Einnahmen und Ausgaben der öffentlichen Hand ist grundlegender Teil der demokratischen Selbstgestaltungsfähigkeit im Verfassungsstaat …“

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Das BVerfG hat dieses „Verbot der Entäußerung der Budgetverantwortung“ (BVerfGE 129, S. 124 ff, 179) mehrfach präzisiert (s. insbesondere BVerfGE 132, S. 195 ff, 239 ff). Danach stellen das Budgetrecht und die dauerhafte Haushaltsautonomie zentrale Elemente der demokratischen Willensbildung dar (vgl BVerfGE 70, S. 324 ff, 355 f). Dabei muss der Bundestag dem Volk gegenüber verantwortlich über Einnahmen und Ausgaben entscheiden (Budgetverantwortung). Daher muss er immer die Kontrolle über grundlegende haushaltspolitische Entscheidungen behalten und darf seine Budgetverantwortung nicht durch unbestimmte haushaltspolitische Ermächtigungen auf andere Akteure übertragen. Dies gilt insbesondere dann, wenn bei solchen Übertragungen nicht überschaubare haushaltsbedeutsamen Belastungen ohne vorherige konstitutive Zustimmung führen können. Auf eine genaue Festlegung einer Höchstgrenze geht das BVerfG aber nicht ein, sondern spricht vielmehr von einer „evidenten Überschreitung von äußersten Grenzen“ (BVerfGE 129, S. 124 ff, 182).

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Jedenfalls müsse jede ausgabenwirksame solidarische Hilfsmaßnahme des Bundes größeren Umfangs im internationalen oder unionalen Bereich vom Bundestag im Einzelnen bewilligt werden (BVerfGE 129, S. 124 ff, 180). Diese Bewilligung dürfe auch nicht generell vom Plenum auf ein Bundestagssondergremium verlagert werden, da damit die Beteiligungsrechte gemäß Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG der einzelnen Abgeordneten eingeschränkt würden (BVerfGE 130, S. 318 ff, 356 f). Zwar seien Eingriffe in die Abgeordnetenrechte aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG nicht generell ausgeschlossen und könnten zB aus Gründen besonderer Eilbedürftigkeit oder Vertraulichkeit gerechtfertigt sein. Gründe besonderer Eilbedürftigkeit könnten im Zusammenhang mit Notmaßnahmen der Finanzstabilisierung im Euro-Raum aber allenfalls die Übertragung von Befugnissen des Bundestages auf den 41 Mitglieder umfassenden Haushaltsausschuss legitimieren (BVerfGE 130, S. 318 ff, 360 f). Den Anforderungen besonderer Vertraulichkeit wiederum wird im Grundsatz bereits mit der Geheimschutzordnung des Bundestages genügt. Lediglich Entscheidungen über ganz bestimmte Notmaßnahmen (konkret der Ankauf von Staatsanleihen auf dem Sekundärmarkt) könnten um der Sicherung ihres Erfolgs Willen „absoluter“ Vertraulichkeit unterliegen und dürften daher von einem kleinstmöglichen Sondergremium geplant, beraten und beschlossen werden. Jenes müsse aber gemäß dem Grundsatz der Spiegelbildlichkeit zusammengesetzt sein, also „eine möglichst getreue Abbildung der Stärke der im Plenum vertretenen Fraktionen“ darstellen (BVerfGE 130, S. 318 ff, 361 ff, 365).

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Durch die Budgetverantwortung gerade nicht ausgeschlossen ist dagegen, dass sich die Bundesrepublik einer gewissen, supranational oder international kontrollierten Haushaltsdisziplin unterwirft. Hierzu hat das BVerfG ausgeführt (BVerfGE 135, S. 317 ff, 403):

„Die Verpflichtung des Haushaltsgesetzgebers auf eine bestimmte Haushalts- und Fiskalpolitik ist – ungeachtet des auf prinzipielle rechtliche Reversibilität angelegten Demokratieprinzips aus Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG – nicht von vornherein demokratiewidrig … Sie kann grundsätzlich auch durch die Übertragung wesentlicher haushaltspolitischer Entscheidungen auf Organe einer supra- oder internationalen Organisation oder die Übernahme entsprechender völkerrechtlicher Verpflichtungen erfolgen … Die Entscheidung, ob und in welchem Umfang dies sinnvoll ist, obliegt in erster Linie dem Gesetzgeber … “

Eine derartige Disziplinierung der Haushalts- und Fiskalpolitik dient dem Schutz zukünftiger Generationen, deren haushaltspolitische Entscheidungsspielräume durch Vermeidung erdrückender Schulden- und Zinslasten offen gehalten werden (BVerfGE 132, S. 195 ff, 245).

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In bemerkenswerter Deutlichkeit hat das BVerfG – ohne Normanknüpfung und ohne dass der Vertrag von Lissabon seinerzeit Anlass dazu gegeben hätte – betont, dass das GG dem Beitritt zu einem europäischen Bundesstaat und insoweit auch der Fortentwicklung der EU zu einem solchen kategorisch entgegenstehe – es sei denn um den Preis einer neuen Verfassung (vgl Art. 146 GG). Das Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes „in Gestalt der völkerrechtlichen Souveränität Deutschlands“ dürfe nicht durch den Eintritt der durch das GG konstituierten Bundesrepublik in einen europäischen Bundesstaat aufgegeben werden (BVerfGE 123, S. 267 ff, 347 f). Vielmehr müsse das Volk zu einem solchen „nationalen Souveränitätsverzicht“ eine „freie Entscheidung … jenseits der gegenwärtigen Geltungskraft des Grundgesetzes“ treffen (BVerfGE 123, S. 267 ff, 364).

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Wer den europäischen Bundesstaat will, muss also das GG beseitigen. Widerstand (Art. 20 Abs. 4 GG) hiergegen wäre unzulässig, sofern Art. 146 GG die Verfassungsablösung mit dem Ziel der Gründung eines europäischen Bundestaats deckt. Das wäre aber wiederum dann nicht der Fall, wenn die Verfassungsablösung nach Art. 146 GG an die Voraussetzungen des Art. 79 Abs. 3 GG gebunden wäre (s. dazu Calliess, S. 247 ff). Denn Art. 79 Abs. 3 GG garantiert „die souveräne Staatlichkeit Deutschlands“ (BVerfGE 123, S. 267 ff, 343). Sie ist aber gerade der verfassungsrechtliche Grund dafür, dass sich das geltende GG gegen den Beitritt der Bundesrepublik zu einem europäischen Bundestaat sperrt. Die folgende Aussage im Lissabon-Urteil des BVerfG scheint die Beachtlichkeit von Art. 79 Abs. 3 GG im Fall einer Verfassungsablösung nach Art. 146 GG eher nicht anzunehmen, was freilich nur konsequent wäre (BVerfGE 123, S. 267 ff, 364):

„Wenn dagegen die Schwelle zum Bundesstaat und zum nationalen Souveränitätsverzicht überschritten wäre, was in Deutschland eine freie Entscheidung des Volkes jenseits der gegenwärtigen Geltungskraft des Grundgesetzes voraussetzt, müssten demokratische Anforderungen auf einem Niveau eingehalten werden, das den Anforderungen an die demokratische Legitimation eines staatlich organisierten Herrschaftsverbandes vollständig entspräche. Dieses Legitimationsniveau könnte dann nicht mehr von nationalen Verfassungsordnungen vorgeschrieben sein.“

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Hervorzuheben ist, dass Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG nicht auf Art. 79 Abs. 1 GG verweist. Da die verfassungsrechtlich relevanten Rechtsänderungen, die durch eine Übertragung von Hoheitsrechten entstehen, ihren Niederschlag im EUV oder im AEUV finden, besteht kein unmittelbarer Textbezug zum GG, sodass die Änderungen auch nicht im GG niedergeschrieben werden können (s. Rn 400). Dies hat zur Folge, dass nur mithilfe dieser Verträge ein umfassendes Bild über die tatsächliche Kompetenzverteilung im Sinne des GG erzielt wird. Genau genommen ist also jede staatsrechtliche, dabei allein das GG in den Blick nehmende Darstellung der Kompetenzverteilung unvollständig, weil und soweit nicht die auf die Union übertragenen Hoheitsrechte berücksichtigt werden.

Beispiel:

Art. 105 Abs. 1 GG, der inzwischen überholt ist, da nach Unionsrecht der EU die ausschließliche Rechtsetzungskompetenz über die Zölle zusteht (Art. 31 AEUV).

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Integrationsschranken ergeben sich ferner aus der Struktursicherungsklausel des Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG. Danach muss die EU „demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet (sein) und einen diesem Grundgesetz im Wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleiste(n)“. Auf Grund dieser Vorschrift, welche die in der Rechtsprechung des BVerfG zu Art. 24 Abs. 1 GG entwickelten Integrationsschranken wiedergibt, darf der Bund an der Errichtung der EU und ihrer weiteren Entwicklung nur mitwirken, wenn die in Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG genannten Strukturprinzipien fortgesetzt gewahrt sind. Entspräche die EU nicht mehr diesen Strukturprinzipien, wäre die weitere Mitgliedschaft Deutschlands in einer solchen EU verfassungswidrig. Insofern trifft die deutschen Staatsorgane die verfassungsrechtliche Pflicht, auf die Einhaltung der Strukturprinzipien hinzuwirken und einem Unterschreiten des jeweils gebotenen Mindestmaßes an Demokratie, Rechtsstaatlichkeit etc. entgegenzutreten (zur Integrationsverantwortung Rn 763 ff). Weitergehend kann nach der Rechtsprechung des BVerfG das im Hinblick auf Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG zunächst verfassungskonforme Integrationsgesetz als solches nachträglich verfassungswidrig werden, wenn das Integrationsprogramm verfassungswidrig vollzogen wird und diese „verfassungswidrige Anwendungspraxis auf das Integrationsgesetz selbst zurückzuführen ist und darin ein strukturbedingtes normatives Regelungsdefizit zum Ausdruck kommt“ (so BVerfGE 149, S. 346 ff, 362 zu Art. 24 Abs. 1 GG).

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Die von Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG geforderten Strukturen der EU korrespondieren mit den nach Art. 79 Abs. 3 GG unabdingbaren Grundsätzen. Das BVerG hat diesen Zusammenhang wie folgt formuliert (BVerfGE 123, S. 267 ff, 363 f):

„Die Struktursicherungsklausel des Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG begrenzt das in der Staatszielbestimmung angesprochene Mitwirkungsziel auf eine Europäische Union, die in ihren elementaren Strukturen den durch Art. 79 Abs. 3 GG auch vor Veränderungen durch den verfassungsändernden Gesetzgeber geschützten Kernprinzipien entspricht.“

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Bei der Konkretisierung der Prinzipien der Struktursicherungsklausel des Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG ist freilich der – im Verhältnis zu einem Staat – ganz andersartigen Struktur der EU Rechnung zu tragen. Man spricht in diesem Zusammenhang von einer „strukturangepassten Grundsatzkongruenz“ (Streinz, in: Sachs, Art. 23, Rz 22).

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So hat das BVerfG zB hinsichtlich des Demokratieprinzips ausdrücklich festgestellt, dass in der EU demokratische Legitimation nicht in gleicher Form hergestellt werden könne, wie in einer staatlichen Ordnung (BVerfGE 89, S. 155 ff, 182). Das Europäische Parlament könne dieses Defizit nicht kompensieren. Denn es sei weder in seiner Zusammensetzung noch im Kompetenzgefüge der EU hinreichend dafür gerüstet, repräsentative und zurechenbare Mehrheitsentscheidungen als einheitliche politische Leitentscheidung zu treffen. Es sei – gemessen an staatlichen Demokratieanforderungen – nicht gleichheitsgerecht gewählt und auch nicht zu maßgeblichen politischen Leitentscheidungen berufen. Es sei eben kein „Repräsentationsorgan eines konstitutionell verfassten … Bundesvolkes“ (vgl BVerfGE 123, S. 267 ff, 370 ff).

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Das Demokratieprinzip des GG werde aber dann verletzt, wenn der Gesetzgeber der Ausübung nicht näher bestimmter Hoheitsrechte durch die EU zustimme. Dies sei eine mit dem Demokratieprinzip unvereinbare Generalermächtigung, wodurch der Zurechnungszusammenhang zwischen der Ausübung von Hoheitsgewalt und deren Legitimation durch den Wähler abreiße (BVerfGE 89, S. 155 ff, 187). Insbesondere dürften nicht Hoheitsrechte derart übertragen werden, dass aus ihrer Ausübung heraus eigenständig weitere Zuständigkeiten für die EU begründet werden könnten. Das GG untersage daher die Übertragung der Kompetenz-Kompetenz (s. Rn 126).

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Die Wahrung demokratischer Grundsätze iSv Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG ist insbesondere beim weiteren Ausbau der EU zu beachten. Das Niveau demokratischer Legitimation muss mit dem jeweiligen Integrationsniveau Schritt halten. Einstweilen hält das BVerfG die doppelsträngige demokratische Legitimation der Unionsgewalt – vermittelt einerseits über die nationalen Parlamente und Regierungen, andererseits über das Europäische Parlament (vgl Art. 10 Abs. 2 EUV) – für ausreichend. Das soll jedenfalls gelten, solange und soweit „das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung in einem Verbund souveräner Staaten mit ausgeprägten Zügen exekutiver und gouvernementaler Zusammenarbeit gewahrt bleibt“ (BVerfGE 123, S. 267 ff, 364).

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