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II. Europarechtliche Lösung

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Die europarechtliche Lösung geht davon aus, dass das Unionsrecht kein Völkerrecht ist. Aus der Tatsache, dass die Gründungsverträge ursprünglich völkerrechtliche Verträge gewesen seien, ließen sich keine rechtsdogmatischen Folgerungen hinsichtlich Geltungsgrund, Rechtsnatur oder Qualität des Unionsrechts ableiten. Entscheidend sei vielmehr die sich aus den Verträgen ergebende Struktur des Rechts. Diese Struktur aber sei anderen völkerrechtlichen Verträgen fremd. Daraus folge, dass das Unionsrecht eben nicht Völkerrecht sei.

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In diesem Sinne hat der EuGH seit 1963 in seiner Rechtsprechung auf die Besonderheiten des (damaligen) Gemeinschaftsrechts hingewiesen und diese beschrieben. Man umschreibt diese Besonderheiten üblicherweise mit dem Begriff der Supranationalität (Rn 1159). Dies gilt auch für das heutige Unionsrecht.

Beispiel:

Das niederländische Unternehmen Van Gend & Loos klagte gegen einen Zollbescheid der niederländischen Finanzverwaltung. Das Unternehmen hatte 1960 Harnstoff-Formaldehyd aus der Bundesrepublik Deutschland in die Niederlande eingeführt und war dafür mit einem Wertzoll von 8% belegt worden. Diese Zollerhebung beruhte auf einer im März 1960 in Kraft getretenen Neuregelung des niederländischen Zolltarifs. Van Gend & Loos berief sich demgegenüber auf den damaligen (später aufgehobenen) Art. 12 EWGV, der wie folgt lautete: „Die Mitgliedstaaten werden untereinander weder neue Einfuhr- oder Ausfuhrzölle oder Abgaben gleicher Wirkung einführen noch die in ihren gegenseitigen Handelsbeziehungen angewandten erhöhen.“ Bei Inkrafttreten des EWGV am 1. Januar 1958 war in den Niederlanden die von Van Gend & Loos eingeführte Ware nur mit einem Einfuhrzoll von 3% belastet gewesen.

Auf die Vorlage des in letzter Instanz entscheidenden niederländischen Gerichts nach Art. 177 EWGV (jetzt Art. 267 AEUV) entschied der EuGH nicht nur, dass die niederländische Zollerhebung mit Art. 12 EWGV unvereinbar sei. Er stellte auch klar, dass sich ein einzelner Marktteilnehmer gegenüber einem nationalen Gesetz direkt auf Art. 12 EWGV berufen könne.

Der EuGH begründete diese Möglichkeit eines Einzelnen, sich direkt auf Vorschriften des EWGV zu berufen, sofern diese unmittelbar anwendbar sind (s. Rn 579), mit der Eigenart der (damaligen) Gemeinschaftsrechtsordnung (EuGH, Rs. 26/62, Van Gend & Loos, Slg. 1963, S. 1 ff):

„(S. 24) (…) Das Ziel des EWG-Vertrags ist die Schaffung eines gemeinsamen Marktes, dessen Funktionieren die der Gemeinschaft angehörigen Einzelnen unmittelbar betrifft; damit ist zugleich gesagt, daß dieser Vertrag mehr ist als ein Abkommen, das nur wechselseitige Verpflichtungen zwischen den vertragsschließenden Staaten begründet. Diese Auffassung wird durch die Präambel des Vertrages bestätigt, die sich nicht nur an die Regierungen, sondern auch an die Völker richtet. Sie findet eine noch augenfälligere Bestätigung in der Schaffung von Organen, welchen Hoheitsrechte übertragen sind, deren Ausübung in gleicher Weise die Mitgliedstaaten wie die Staatsbürger berührt. Zu beachten ist ferner, dass die Staatsangehörigen der in der Gemeinschaft zusammengeschlossenen Staaten dazu berufen sind, durch das Europäische Parlament und den Wirtschafts- und Sozialausschuss zum Funktionieren der Gemeinschaft beizutragen. Auch die dem Gerichtshof im Rahmen von Artikel 177, der die einheitliche Auslegung des Vertrages durch die nationalen Gerichte gewährleisten soll, zukommende Aufgabe ist ein Beweis dafür, daß die Staaten davon ausgegangen sind, die Bürger müssten sich vor den nationalen Gerichten auf das Gemeinschaftsrecht berufen können.

(S. 25) Aus alledem ist zu schließen, daß die Gemeinschaft eine neue Rechtsordnung des Völkerrechts darstellt, zu deren Gunsten die Staaten, wenn auch in begrenztem Rahmen, ihre Souveränitätsrechte eingeschränkt haben, eine Rechtsordnung, deren Rechtssubjekte nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch die Einzelnen sind. Das von der Gesetzgebung der Mitgliedstaaten unabhängige Gemeinschaftsrecht soll daher den Einzelnen, ebenso wie es ihnen Pflichten auferlegt, auch Rechte verleihen. Solche Rechte entstehen nicht nur, wenn der Vertrag dies ausdrücklich bestimmt, sondern auch auf Grund von eindeutigen Verpflichtungen, die der Vertrag den Einzelnen wie auch den Mitgliedstaaten und den Organen der Gemeinschaft auferlegt.“

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Diese in der Supranationalität liegende Besonderheit des Unionsrechts hat der EuGH in seiner folgenden Rechtsprechung immer wieder bestätigt und mehrfach präzisiert. Bezeichnete er im Urteil Van Gend & Loos (Rn 75) das (damalige) Gemeinschaftsrecht noch als „neue Rechtsordnung des Völkerrechts“, so löste er es in seinem späteren Urteil Costa/E.N.E.L. aus dem Jahre 1964 (Rn 86) materiell vom Völkerrecht und sprach ihm als „eigener Rechtsordnung“ entsprechende Eigenständigkeit zu. In der Lehre spricht man deshalb auch von einem „Recht sui generis“.

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Im Jahre 1986 ging der EuGH sogar noch einen Schritt weiter und stufte den (damaligen) EWGV als „Verfassungsurkunde“ ein (EuGH, Rs. 294/83, Les Verts/Parlament, Slg. 1986, S. 1339 ff, Randnr 23). In der Folge hat er dies mehrfach bestätigt und 1991 in seinem ersten Gutachten zum Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum ausgeführt, dass der (damalige) EWGV, „obwohl er in der Form einer völkerrechtlichen Übereinkunft geschlossen wurde, nichtsdestoweniger die Verfassungsurkunde einer Rechtsgemeinschaft“ darstelle (EuGH, Gutachten 1/91, Slg 1991, I-6079 ff, Randnr 21).

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Allerdings gibt es gegen diese hL durchaus Einwände. Denn dass die früheren Gründungsverträge der Europäischen Gemeinschaften sowie heute der EUV und der AEUV völkerrechtliche Verträge waren bzw sind, lässt sich nicht leugnen. Darauf hat auch das BVerfG immer wieder ausdrücklich hingewiesen (zB aus jüngerer Zeit BVerfGE 140, S. 317 ff, 338). Dass sie diesen Charakter später verändert haben, dass sie sich also von ihrem völkerrechtlichen Geltungsgrund gelöst haben sollen, ist – juristisch gesehen – nicht einsichtig. Diese Loslösung vom Geltungsgrund kann allenfalls ein soziologisches Phänomen sein, das eine weit fortgeschrittene Integration und eine grundlegende Änderung des Rechtsbewusstseins der Integrationspartner voraussetzt. Dies lässt sich aber beim gegenwärtigen Zustand der EU nur sehr bedingt behaupten, was insbesondere das Scheitern des Vertrags über eine Verfassung für Europa von 2004 gezeigt hat und was wohl auch dadurch bekräftigt wird, dass seit dem Vertrag von Lissabon jeder Mitgliedstaat gemäß Art. 50 EUV aus der EU austreten kann. Letzteres war davor nach der hL nicht möglich.

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Nicht ausreichend dürfte sein, dass das Unionsrecht – so wird von der hL zur Begründung angeführt – einmalige Besonderheiten aufweist. Denn erachtet man das Völkerrecht als dynamische Rechtsordnung, so sind atypische Regelungsmaterien und -konzepte nicht unbedingt etwas Außergewöhnliches. Außerdem sind die Besonderheiten, auf die der EuGH in seiner Rechtsprechung hinweist (s. Rn 75, 86), im Völkerrecht nichts gänzlich Neues. Als Beispiel sei der Deutsche Zollverein von 1834 mit seinen unabhängigen Organen, Mehrheitsbeschlüssen und transformationslos geltenden Zollgesetzen genannt.

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Schließlich spricht auch ein verfassungsrechtsvergleichendes Argument gegen die hL. Während Art. 24 Abs. 1 GG, der ursprünglich für die Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäischen Gemeinschaften galt, und Art. 23 GG, der nunmehr bezüglich der EU gilt (s. Rn 120 ff), wenig über deren völkerrechtlichen oder nichtvölkerrechtlichen Charakter aussagen, ist dies bei den Verfassungen anderer Mitgliedstaaten keineswegs so. So sprechen zB Art. 49bis der luxemburgischen und Art. 92 der niederländischen Verfassung von „Institutionen des internationalen Rechts“ bzw von „völkerrechtlichen Organisationen“, denen Hoheitsrechte übertragen werden können. Es ist daher nur schwer einzusehen, warum völkerrechtliche Verträge, die Hoheitsrechte auf völkerrechtliche Organisationen übertragen, ihre Qualifikation als Völkerrecht verlieren sollen.

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Trotz dieser Argumente gehen EuGH, BVerfG und die hL von der Eigenständigkeit des Unionsrechts aus und qualifizieren es eben als Recht sui generis. Nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH besteht die Eigenständigkeit des Unionsrechts darin, dass dieses „ein aus einer autonomen Rechtsquelle fließendes Recht“ darstellt, das ua selbst das Verhältnis von Unionsrecht zu entgegenstehendem innerstaatlichem Recht bestimmt (EuGH, Rs 6/64, Costa/E.N.E.L., Slg 1964, S. 1253 ff, 1269). Das BVerfG hat dies folgendermaßen ausgedrückt (zB BVerfGE 37, S. 271 ff, 277 f):

„Der Senat hält – insoweit in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs – an seiner Rechtsprechung fest, daß das Gemeinschaftsrecht weder Bestandteil der nationalen Rechtsordnung noch Völkerrecht ist, sondern eine eigenständige Rechtsordnung bildet, die aus einer autonomen Rechtsquelle fließt.“

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Ob das BVerfG diese Auffassung weiterhin teilt, erscheint zweifelhaft. Zumindest lässt sich das beharrliche Pochen des BVerfG in jüngerer und jüngster Zeit darauf, dass die Mitgliedstaaten „Herren der Verträge“ sind (BVerfGE 75, S. 223 ff, 242; 89, S. 155 ff, 190; mehrfach bestätigt in BVerfGE 123, S. 267 ff, 348 f; 126, S. 268 ff, 302 f; 134, S. 366 ff, 384; 140, S. 317 ff, 338), nicht dogmatisch bruchlos mit der alten These vereinbaren, das Unionsrecht sei „weder Bestandteil der nationalen Rechtsordnung noch Völkerrecht“. Vielmehr lässt sich die Qualifizierung der Mitgliedstaaten als „Herren der Verträge“ eigentlich nur aus einer genuin völkerrechtlich-dualistischen Perspektive dogmatisch sinnvoll begreifen. Bezeichnenderweise spricht das BVerfG im Lissabon-Urteil in Bezug auf die „Verfassung Europas“ von „Völkervertrags- oder Primärrecht“ und insoweit von einer nur „abgeleiteten Grundordnung“ (BVerfGE 123, S. 267 ff, 349).

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Im Sinne einer vermittelnden Ansicht ließe sich vertreten, dass nur bestimmte Teile des geschriebenen primären Unionsrechts weiterhin Völkerrecht bilden, andere Teile dagegen sich zu einem Recht sui generis verselbständigt haben. Im Recht der internationalen Organisationen wird nämlich hinsichtlich des Gründungsvertrags zwischen vertraglichen (rechtsgeschäftlichen) und satzungsrechtlichen (verfassungsrechtlichen) Bestimmungen unterschieden. Zu ersteren gehören zB die Normen über Beitritt und Austritt sowie über das Inkrafttreten oder die Änderung des Gründungsvertrags, zu letzteren zB die Normen über Errichtung, Zuständigkeiten, Aufgaben und Befugnisse der Organe, die Finalität der Organisation sowie deren Verhältnis zu ihren Mitgliedstaaten (s. Schmahl, in: Vitzthum/Proelß, S. 342 f). Die vertraglichen (rechtsgeschäftlichen) Vorschriften könnten danach im Fall der Unionsverträge als weiterhin dem Völkerrecht zugehörig, deren satzungsrechtliche (verfassungsrechtliche) Vorschriften dagegen als autonomes Recht sui generis angesehen werden.

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Gestützt auf die Rechtsprechung des EuGH zur Eigenständigkeit des Unionsrechts geht die europarechtliche Lösung jedenfalls davon aus, dass bei der Verhältnisfrage die Theorien über das Verhältnis des Völkerrechts zum nationalen Recht nicht zur Anwendung kommen. Die Frage müsse vielmehr anhand des Unionsrechts selbst gelöst werden.

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Die europarechtliche Lösung kommt insgesamt gesehen zu einem Vorrang des Unionsrechts. Dies ergebe sich aus einer Reihe von Bestimmungen der Gründungsverträge (zB Art. 4 Abs. 3 EUV, Art. 103 Abs. 2 Buchst. e AEUV, Art. 288 Abs. 2 AEUV), vor allem aber aus dem teleologisch zu ermittelnden Prinzip der Sicherung der Funktionsfähigkeit der EU, ohne das die EU nicht existieren könne.

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Diese insbesondere von H.P. Ipsen entwickelte hL wird auch vom EuGH vertreten. Grundlegend für diese Rechtsprechung des EuGH war der Fall Costa/E.N.E.L.

Beispiel:

Der Mailänder Rechtsanwalt Costa weigerte sich als ein von der Verstaatlichung betroffener Aktionär eines Elektrizitätsunternehmens, eine Stromrechnung der neugegründeten staatlichen Elektrizitätsgesellschaft E.N.E.L. in Höhe von 1925 Lire zu bezahlen. In dem daraufhin anhängig gemachten Verfahren vor dem Friedensgericht Mailand machte er geltend, das Verstaatlichungsgesetz verstoße gegen mehrere Artikel des (damaligen) EWGV. Das Gericht legte daraufhin dem EuGH gemäß Art. 177 EWGV (jetzt Art. 267 AEUV) eine entsprechende Vorabentscheidungsfrage vor. Im Rahmen seines Urteils ging der EuGH auch auf die Eigenständigkeit des (damaligen) Gemeinschaftsrechts ein und führte Folgendes aus (EuGH, Rs. 6/64, Costa/E.N.E.L., Slg. 1964, S. 1251 ff, 1269 ff):

„Zum Unterschied von gewöhnlichen internationalen Verträgen hat der EWG-Vertrag eine eigene Rechtsordnung geschaffen, die bei seinem Inkrafttreten in die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten aufgenommen worden und von ihren Gerichten anzuwenden ist. Denn durch die Gründung einer Gemeinschaft für unbegrenzte Zeit, die mit eigenen Organen, mit der Rechts- und Geschäftsfähigkeit, mit internationaler Handlungsfähigkeit und insbesondere mit echten, aus der Beschränkung der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten oder der Übertragung von Hoheitsrechten der Mitgliedstaaten auf die Gemeinschaft herrührenden Hoheitsrechten ausgestattet ist, haben die Mitgliedstaaten, wenn auch auf einem begrenzten Gebiet, ihre Souveränitätsrechte beschränkt und so einen Rechtskörper geschaffen, der für ihre Angehörigen und sie selbst verbindlich ist.

Diese Aufnahme der Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts in das Recht der einzelnen Mitgliedstaaten und, allgemeiner, Wortlaut und Geist des Vertrages haben zur Folge, daß es den Staaten unmöglich ist, gegen eine von ihnen auf der Grundlage der Gegenseitigkeit angenommenen Rechtsordnung nachträgliche einseitige Maßnahmen ins Feld zu führen. Solche Maßnahmen stehen der Anwendbarkeit der Gemeinschaftsrechtsordnung daher nicht entgegen. Denn es würde eine Gefahr für die Verwirklichung der in Art. 5 Abs. 2 aufgeführten Ziele des Vertrages bedeuten und dem Verbot des Art. 7 widersprechende Diskriminierungen zur Folge haben, wenn das Gemeinschaftsrecht je nach der nachträglichen innerstaatlichen Gesetzgebung von einem Staat zum anderen verschiedene Geltung haben könnte.

Die Verpflichtungen, die die Mitgliedstaaten im Vertrag zur Gründung der Gemeinschaft eingegangen sind, wären keine unbedingten mehr, sondern nur noch eventuelle, wenn sie durch spätere Gesetzgebungsakte der Signatarstaaten in Frage gestellt werden könnten …

Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts wird auch durch Artikel 189 bestätigt; ihm zufolge ist die Verordnung „verbindlich“ und „gilt unmittelbar in jedem Mitgliedstaat“. Diese Bestimmung, die durch nichts eingeschränkt wird, wäre ohne Bedeutung, wenn die Mitgliedstaaten sie durch Gesetzgebungsakte, die den gemeinschaftsrechtlichen Normen vorgingen, einseitig ihrer Wirksamkeit berauben könnten.

Aus alledem folgt, daß dem vom Vertrag geschaffenen, somit aus einer autonomen Rechtsquelle fließenden Recht wegen dieser seiner Eigenständigkeit keine wie immer gearteten innerstaatlichen Rechtsvorschriften vorgehen können, wenn ihm nicht sein Charakter als Gemeinschaftsrecht aberkannt und wenn nicht die Rechtsgrundlage der Gemeinschaft selbst in Frage gestellt werden soll.

Die Staaten haben somit dadurch, daß sie nach Maßgabe der Bestimmungen des Vertrages Rechte und Pflichten, die bis dahin ihren inneren Rechtsordnungen unterworfen waren, der Regelung durch die Gemeinschaftsrechtsordnung vorbehalten haben, eine endgültige Beschränkung ihrer Hoheitsrechte bewirkt, die durch spätere einseitige, mit dem Gemeinschaftsbegriff unvereinbare Maßnahmen nicht rückgängig gemacht werden kann.“

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Mit diesem Urteil hat der EuGH klargestellt, dass im Kollisionsfall das (damalige) Gemeinschaftsrecht dem nationalen Recht vorgeht (Vorrang). Dies gilt auch für das heutige Unionsrecht, und zwar in seiner Gesamtheit.

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Hinter dieser Rechtsprechung stehen zwei grundsätzliche Überlegungen. Zum einen basiert sie auf der Ansicht, dass – wie dargestellt – das Unionsrecht als eigenständige Rechtsordnung nicht mehr dem Völkerrecht zuzurechnen sei und daher die üblichen Lösungsversuche des Verhältnisses des Völkerrechts zum nationalen Recht nicht greifen.

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Zum anderen stellt sie – teleologisch argumentierend – auf die Effektivität des Unionsrechts ab. Nur wenn in der EU das Unionsrecht einheitlich zur Anwendung komme, könnten die Ziele der Union erreicht werden. Daher müsse das Unionsrecht den Vorrang gegenüber jeder Art von nationalem Recht beanspruchen. Andernfalls könnte sich ein Mitgliedstaat durch den Erlass von Gesetzen oder Verfassungsnormen nachträglich seiner Verpflichtungen aus dem Unionsrecht entziehen und damit die einheitliche Rechtsanwendung insbesondere im Binnenmarkt beeinträchtigen. Verkürzt ausgedrückt bedeutet das: ohne Vorrang kein Binnenmarkt.

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Etwas wechselhaft war die Rechtsprechung des EuGH zur Frage der Wirkung des Vorrangs. Man kann nämlich zwischen einem Geltungsvorrang und einem Anwendungsvorrang unterscheiden. Der Geltungsvorrang führt im Falle der Kollision zur Ungültigkeit (Nichtigkeit) der nachrangigen Norm, während der Anwendungsvorrang lediglich bewirkt, dass die nachrangige Norm zwar weiter existiert, aber unangewendet bleiben muss.

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Nachdem der EuGH sich in mehreren Urteilen für einen Anwendungsvorrang ausgesprochen hatte (zB EuGH, Rs. 84/71, Marimex/Italienischer Finanzminister, Slg. 1972, S. 89 ff, Randnr 5), wählte er später in einem Fall eine Formulierung, die auf einen Geltungsvorrang hinzielte (EuGH, Rs. 106/77, Staatliche Finanzverwaltung/Simmenthal, Slg. 1978, S. 629 ff, Randnr 17/18). Zu einer endgültigen Klarstellung im Sinne eines Anwendungsvorrangs kam es jedenfalls 1998, als der EuGH zu dieser scheinbar widersprüchlichen Rechtsprechung Stellung nahm (EuGH, verb. Rs. C-10/97 bis C-22/97, Ministero delle Finanze/IN.CO.GE ’90 ua, Slg. 1998, S. I-6307 ff):

„(20) Der Gerichtshof war in der Rechtssache Simmenthal insbesondere danach gefragt worden, welche Konsequenzen sich aus der unmittelbaren Anwendbarkeit einer Bestimmung des Gemeinschaftsrechts ergeben, wenn diese einer später erlassenen Rechtsvorschrift eines Mitgliedstaats entgegensteht. Ohne zwischen früher oder später ergangenem Recht zu unterscheiden, hatte er jedoch bereits in seiner früheren Rechtsprechung (vgl insbesondere Urteil vom 15. Juli 1964 in der Rechtssache 6/64, Costa, Slg. 1964, 1253) ausgeführt, daß es einem Mitgliedstaat verwehrt sei, einer innerstaatlichen Vorschrift Vorrang vor einer entgegenstehenden Gemeinschaftsnorm einzuräumen. So hat der Gerichtshof im Urteil Simmenthal entschieden, daß jeder im Rahmen seiner Zuständigkeit angerufene staatliche Richter verpflichtet ist, das Gemeinschaftsrecht uneingeschränkt anzuwenden und die Rechte, die es den einzelnen verleiht, zu schützen, indem er jede möglicherweise zuwiderlaufende Bestimmung des nationalen Rechts, gleichgültig, ob sie früher oder später als die Gemeinschaftsnorm ergangen ist, unangewendet lässt (Urteil Simmenthal, Randnr. 21 und 24). Diese Rechtsprechung ist mehrfach bestätigt worden (vgl zB Urteil Debus, [Urteil in den verb Rechtssachen C-13/91 und C-113/91, Slg. 1992, I-3617, Anm. d. Verf.], Randnr. 32; Urteile vom 2. August 1993 in der Rechtssache C-158/91, Levy, Slg. 1993, I-4287, Randnr. 9, und vom 5. März 1998 in der Rechtssache C-347/96, Solred, Slg. 1998, I-937, Randnr. 30).

(21) Entgegen dem Vorbringen der Kommission kann deshalb aus dem Urteil Simmenthal nicht hergeleitet werden, daß die Unvereinbarkeit einer später ergangenen Vorschrift des innerstaatlichen Rechts mit dem Gemeinschaftsrecht dazu führt, daß diese Vorschrift inexistent ist. In dieser Situation ist das nationale Gericht vielmehr verpflichtet, diese Vorschrift unangewendet zu lassen, wobei diese Verpflichtung nicht die Befugnis der zuständigen nationalen Gerichte beschränkt, unter mehreren nach der innerstaatlichen Rechtsordnung in Betracht kommenden Wegen diejenigen zu wählen, die zum Schutz der durch das Gemeinschaftsrecht gewährten individuellen Rechte geeignet erscheinen (vgl Urteil vom 4. April 1968 in der Rechtssache 34/67, Lück, Slg. 1968, 364).“

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Der Vorrang des Unionsrechts entspricht auch der Rechtsansicht der Mitgliedstaaten. In der Erklärung Nr. 17 zur Schlussakte der Regierungskonferenz zum Vertrag von Lissabon, die den Text des Vertrags von Lissabon angenommen hat (ABl. 2016, C 202, S. 344 [konsolidierte Fassung]), weist die Konferenz hinsichtlich des Vorrangs darauf hin, dass das Unionsrecht unter den in der Rechtsprechung des EuGH festgelegten Bedingungen Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten habe. Außerdem beschloss die Konferenz, ein – in der Erklärung Nr. 17 wiedergegebenes – Gutachten des Juristischen Dienstes des Rates zum Vorrang vom 22. Juni 2007 der Schlussakte beizufügen. Dieses hat folgenden Wortlaut:

„Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist der Vorrang des EG-Rechts einer der Grundpfeiler des Gemeinschaftsrechts. Dem Gerichtshof zufolge ergibt sich dieser Grundsatz aus der Besonderheit der Europäischen Gemeinschaft. Zum Zeitpunkt des ersten Urteils im Rahmen dieser ständigen Rechtsprechung (Rechtssache 6/64, Costa gegen ENEL, 15. Juli 1964) war dieser Vorrang im Vertrag nicht erwähnt. Dies ist auch heute noch der Fall. Die Tatsache, dass der Grundsatz dieses Vorrangs nicht in den künftigen Vertrag aufgenommen wird, ändert nichts an seiner Existenz und an der bestehenden Rechtsprechung des Gerichtshofs.“

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Insgesamt gesehen herrscht mittlerweile Übereinstimmung darüber, dass der Vorrang des Unionsrechts ein Anwendungsvorrang ist, der nicht nur gegenüber früherem, sondern auch gegenüber später erlassenem nationalem Recht greift. Der EuGH hat im Übrigen selbst festgestellt, dass er nicht befugt sei, im Falle einer Kollision über die Nichtigkeit des nationalen Rechts zu entscheiden (EuGH, Rs. 237/82, Jongeneel Kaas/Niederlande, Slg. 1984, S. 483 ff, Randnr 6). Genau darauf aber würde ein Geltungsvorrang hinauslaufen. Beim Anwendungsvorrang hingegen bleibt das nationale Recht bestehen, kommt aber im Kollisionsfall nicht zur Anwendung.

Beispiel:

§ 5 Abs. 2 Nr 3 des Bundesausbildungsförderungsgesetzes (BAföG) sah vor, dass Auszubildenden mit ständigem Wohnsitz in Deutschland eine Ausbildungsförderung für eine Ausbildung im Ausland nur bei Fortsetzung einer mindestens einjährigen Ausbildung in Deutschland geleistet wird. Die deutsche Staatsangehörige Morgan wollte in Großbritannien ein Universitätsstudium beginnen, ohne vorher ein Jahr in Deutschland studiert zu haben. Der Antrag wurde dem § 5 Abs. 2 Nr 3 BAföG entsprechend abgelehnt. Dies aber stellte einen Verstoß gegen Art. 18 Abs. 1 EGV (jetzt Art. 21 Abs. 1 AEUV) dar (s. EuGH verb. Rs. C-11/06 und C-12/06, Morgan und Bucher, Slg. 2007, S. I-9161 ff). Richtigerweise hätte nämlich bei Weitergeltung des § 5 Abs. 2 Nr 3 BAföG dieser hinsichtlich der Voraussetzung der vorgeschalteten einjährigen Ausbildung in Deutschland unangewendet bleiben müssen. Inzwischen wurde das BAföG geändert und diese Voraussetzung gestrichen.

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Durchbrochen wird dieser Anwendungsvorrang allenfalls dann und nur vorübergehend, wenn bei Vorliegen einer Kollision zwischen einer Rechtsvorschrift des Unionsrechts und nationalem Recht zwingende Erwägungen der Rechtssicherheit ausnahmsweise zu einer vorübergehenden Aussetzung der Verdrängungswirkung des Anwendungsvorrangs führen. Klar ist allerdings, dass über das Vorliegen der dafür erforderlichen Voraussetzungen nur der EuGH entscheiden kann.

Beispiel:

Diese Frage stellte sich in einem Verfahren vor dem VG Köln, in dem es um die Untersagung der Ausübung der Tätigkeit als Sportwettenanbieter ging. Hintergrund waren zwei Urteile des BVerfG aus dem Jahre 2006, wonach das Sportwettenmonopol in Bayern und in Nordrhein-Westfalen gegen die Berufsfreiheit des Art. 12 GG verstoße. Allerdings entschied das BVerfG, die fraglichen Rechtsvorschriften nicht für nichtig zu erklären, sondern bis zum 31. Dezember 2007 fortbestehen zu lassen, um dem Gesetzgeber die Möglichkeit zu einer verfassungskonformen Lösung zu geben.

Das VG Köln war der Meinung, aus der bisherigen Rechtsprechung des EuGH ergebe sich, dass die Untersagung einen Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit des Art. 43 EGV (jetzt Art. 49 AEUV) darstelle. Es rief daher den EuGH gemäß Art. 234 EGV (jetzt Art. 267 AEUV) an und fragte ua, ob trotz des Anwendungsvorrangs gemeinschaftsrechtswidrige nationale Regelungen ausnahmsweise für eine Übergangszeit weiterhin angewandt werden dürften. Der EuGH wies zunächst darauf hin, dass ihm in Bezug auf Vorschriften des Gemeinschaftsrechts die Festlegung solcher Übergangsfristen unter gewissen Voraussetzungen erlaubt sei und dass dies analog auch für die vorliegende Konstellation gelte, dass aber im konkreten Fall keine zwingenden Erwägungen der Rechtssicherheit vorlägen, die eine vorübergehende Aussetzung rechtfertigen könnten (EuGH, Rs. C-409/06, Winner Wetten, Slg. 2010, S. I-8015 ff).

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Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts ist prinzipiell ein absoluter und gilt nach der Rechtsprechung des EuGH gegenüber dem gesamten nationalen Recht, also auch gegenüber dem Verfassungsrecht einschließlich der Grundrechte und der Strukturprinzipien der Verfassung.

Beispiele:

(1) Der EuGH hat diesen absoluten Vorrang im Fall Internationale Handelsgesellschaft, in dem es um den Verfall der Kaution wegen einer nicht zur Gänze ausgeschöpften Ausfuhrlizenz für Maisgrieß ging, folgendermaßen begründet (EuGH, Rs. 11/70, Internationale Handelsgesellschaft/Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide- und Futtermittel, Slg. 1970, S. 1125 ff, 1135):

„…Die einheitliche Geltung des Gemeinschaftsrechts würde beeinträchtigt, wenn bei der Entscheidung über die Gültigkeit von Handlungen der Gemeinschaftsorgane Normen oder Grundsätze des nationalen Rechts herangezogen würden. Die Gültigkeit solcher Handlungen kann nur nach dem Gemeinschaftsrecht beurteilt werden, denn dem vom Vertrag geschaffenen, somit aus einer autonomen Rechtsquelle fließenden Recht können wegen seiner Eigenständigkeit keine wie immer gearteten innerstaatlichen Rechtsvorschriften vorgehen, wenn ihm nicht sein Charakter als Gemeinschaftsrecht aberkannt und wenn nicht die Rechtsgrundlage der Gemeinschaft selbst in Frage gestellt werden soll. Daher kann es die Gültigkeit einer Gemeinschaftshandlung oder deren Geltung in einem Mitgliedstaat nicht berühren, wenn geltend gemacht wird, die Grundrechte in der ihnen von der Verfassung dieses Staates gegebenen Gestalt oder die Strukturprinzipien der nationalen Verfassung seien verletzt (Hervorhebung d. Verf.).“

(2) Im Jahre 2000 entschied der EuGH, dass die Richtlinie 76/207/EWG des Rates vom 9. Februar 1976 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in Bezug auf die Arbeitsbedingungen nationalen Bestimmungen entgegenstehe, die Frauen allgemein vom Dienst mit der Waffe ausschließen (EuGH, Rs. C-285/98, Kreil/Bundesrepublik Deutschland, Slg. 2000, S. I-69 ff). Die Richtlinie kollidierte dabei nicht nur mit gesetzlichen Vorschriften über das Wehrrecht, sondern auch mit dem damaligen Art. 12a Abs. 4 Satz 2 GG („[Frauen] dürfen auf keinen Fall Dienst mit der Waffe leisten.“). Das Urteil führte zur Änderung des Art. 12a Abs. 4 Satz 2 GG, der heute lautet: „(Frauen) dürfen auf keinen Fall zum Dienst mit der Waffe verpflichtet werden.“

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Dieser absolute Vorrang war bis zum Vertrag von Lissabon (wenngleich nur implizit) auch positivrechtlich verankert. In dem zum (damaligen) primären Gemeinschaftsrecht (s. Rn 574) zählenden Protokoll Nr 30 zum EGV über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit hieß es in Ziff. 2: „… dabei werden die vom Gerichtshof aufgestellten Grundsätze für das Verhältnis zwischen einzelstaatlichem Recht und Gemeinschaftsrecht nicht berührt …“. Zu diesen Grundsätzen gehört auch der vom EuGH in seiner Rechtsprechung entwickelte absolute Vorrang. In dem durch den Vertrag von Lissabon geänderten Protokoll (jetzt Nr 2 zum EUV, AEUV und EAGV) ist diese Regelung nicht mehr enthalten. Das bedeutet aber keineswegs, dass sich dadurch etwas an der Rechtslage geändert hätte (s. Rn 92).

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Der absolute Vorrang des Unionsrechts wird allerdings – nur rein faktisch gesehen – insofern relativiert, als seit dem Vertrag von Lissabon ein Austrittsrecht aus der EU vorgesehen ist (Art. 50 EUV). Ein Austritt aus der Gemeinschaft war vorher nach hL nicht möglich. Mithin kann sich nunmehr ein Mitgliedstaat dem absoluten Vorrang des Unionsrechts in freier souveräner Entscheidung entziehen, freilich nur um den Preis des Austritts aus der Union (BVerfGE 123, S. 267 ff, 395 f):

„Der Vertrag von Lissabon macht erstmals das bestehende Recht jedes Mitgliedstaates zum Austritt aus der Europäischen Union im Primärrecht sichtbar (Art. 50 EUV-Lissabon). Dieses Austrittsrecht unterstreicht die Souveränität der Mitgliedstaaten und zeigt ebenfalls, dass mit dem derzeitigen Entwicklungsstand der Europäischen Union die Grenze zum Staat im Sinne des Völkerrechts nicht überschritten ist … Kann ein Mitgliedstaat aufgrund einer selbstverantworteten Entscheidung austreten, ist der europäische Integrationsprozess nicht unumkehrbar. Die Mitgliedschaft der Bundesrepublik Deutschland hängt vielmehr von ihrem dauerhaften und fortbestehenden Willen ab, der Europäischen Union anzugehören. Die rechtlichen Grenzen dieses Willens richten sich nach dem Grundgesetz.“

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Der Vertrag von Lissabon bietet rechtsdogmatisch aber noch einen weiteren Hebel, um die bisherige Doktrin vom absoluten Vorrang zu relativieren. Seit dem Vertrag von Lissabon hat die Union die Pflicht, die „nationale Identität (der Mitgliedstaaten), die in ihren grundlegenden … verfassungsmäßigen Strukturen … zum Ausdruck kommt“, zu achten (Art. 4 Abs. 2 Satz 1 EUV). Wird darin die „unionsrechtliche Gewährleistung der nationalen Verfassungsidentität“ gesehen (BVerfGE 123, S. 267 ff, 354), dann kann sich daraus die (eng begrenzte) Rücknahme des bislang vom EuGH erhobenen Anspruchs eines absoluten Vorrangs des Unionsrechts ableiten lassen, und zwar in dem Sinne, dass das Unionsrecht keinen absoluten Vorrang jedenfalls vor den „grundlegenden verfassungsmäßigen Strukturen“ der Mitgliedstaaten beansprucht. Tatsächlich hat das BVerfG zB angenommen, dass „die in Art. 2 EUV … normierten Werte … im Kollisionsfall keinen Vorrang gegenüber der von Art. 4 Abs. 2 Satz 1 EUV… geschützten … Verfassungsidentität der Mitgliedstaaten beanspruchen (können)“ (BVerfGE 123, S. 267 ff, 397). Der EuGH hat mit Rücksicht auf Art. 4 Abs. 2 Satz 1 EUV etwas später anerkannt, dass die „Verteilung der Zuständigkeiten zwischen den (deutschen Bundes-)Ländern“ unionsrechtlich nicht in Frage gestellt werden kann (EuGH, Rs. C-156/13, Digibet und Albers, ECLI:EU:C:2014, Randnr 34).

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Darüber hinaus könnte sich in der neuesten Rechtsprechung des EuGH eine Relativierung des absoluten Vorrangs des Unionsrechts – zumindest im Zusammenhang mit Straftaten – andeuten. Zunächst hatte er in der Rechtssache Taricco entschieden, dass die italienischen Verjährungsvorsschriften bei den die Mehrwertsteuer betreffenden Straftaten Art. 325 AEUV verletzen könnten, wenn sie ua eine wirksame und abschreckende Sanktionierung verhinderten. Nach italienischem Recht verlängert nämlich eine Unterbrechung der Verjährung der Strafverfolgung die Verjährungsfrist grundsätzlich nur um maximal ein Viertel. Dies könnte eine wirksame und abschreckende Sanktionierung ausschließen. In solchen Fällen müssten – so der EuGH – die nationalen Gerichte die Verjährungsvorschriften gegebenenfalls unangewendet lassen (EuGH, Rs C-105/14, Taricco ua, ECLI:EU:C:2015:555, Randnrn 49 ff). Dies stellte insofern eine Anwendung und damit Bestätigung der bisherigen Vorrangrechtsprechung dar, als nach italienischem Recht die Verjährungsvorschriften zum materiellen Strafrecht gehören und somit eine Kollision zwischen materiellem Unionsrecht und materiellem nationalen Recht vorlag. In solchen Fällen greift der Vorrang; anderenfalls würde es sich um ein Vollzugproblem handeln, bei dem materielles Unionsrecht mit nationalem Verfahrensrecht kollidiert (s. dazu Rn 105).

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In der Rechtsache M.A.S. und M.B. (auch „Taricco II“ genannt) geht der EuGH nun allerdings davon aus, dass die Pflicht der Mitgliedstaaten zur Nichtanwendung der nationalen Verjährungsvorschriften iSd Taricco-Urteils und damit zur Beachtung des absoluten Vorrangs dann nicht bestehe, wenn dies zu einem Verstoß gegen den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen führe. Konkret stellte er auf das Bestimmtheitsgebot und auf das strafrechtliche Rückwirkungsverbot ab, beides wichtige Rechtsgrundsätze sowohl im nationalen wie im unionalen Bereich (vgl Art. 49 Abs. 1 GRC), denen grundlegende Bedeutung zukomme (EuGH, Rs C-42/17, M.A.S. und M.B., ECLI:EU:C:2017:936, Randnrn 29 ff).

101

Wie weit diese neue Vorrangrechtsprechung geht und ob sie insbesondere über den strafrechtlichen Bereich hinausgeht, ist allerdings noch nicht ausreichend geklärt. Diese neueste Wendung der Rechtsprechung des EuGH könnte sich so deuten lassen, dass der Vorrang des Unionsrechts mit Rücksicht auf grundlegende Verfassungsstrukturen eines Mitgliedstaates zumindest dann nicht durchgreift, wenn jene Strukturelemente zugleich in der Unionsrechtsordnung selbst als Fundamentalregeln anerkannt sind. Denn dann lässt sich argumentieren, dass in Wahrheit schon kein Normkonflikt zwischen (materiellem) Unionsrecht und (materiellem) nationalem Recht vorliegt (so auch die „Grundannahme“ des italienischen Verfassungsgerichtshofs, EuGRZ 2018, S. 685 ff, 692).

102

Der Anwendungsvorrang gilt nach der Rechtsprechung des EuGH nicht nur gegenüber generell-abstrakten Normen, wie Gesetzen, sondern uU auch gegenüber individuell-konkreten Akten, wie Verwaltungsakten, die bereits bestandskräftig geworden sind.

Beispiel:

§ 4 Abs. 1 S. 1 des Landschaftsschutzgesetzes des österreichischen Bundeslandes Vorarlberg sieht vor, dass im Bereich von Seen und eines daran anschließenden 500 m breiten Uferstreifens, gerechnet bei mittlerem Wasserstand, jegliche Veränderung in der Landschaft verboten ist.

Nach § 4 Abs. 2 kann die Behörde unter bestimmten Voraussetzungen Ausnahmen von der Vorschrift des Absatzes 1 bewilligen.

Die ABC-Charter Gesellschaft mbH pachtete im Uferbereich des Bodensees gelegene Grundstücke, auf denen sie im Jahr 1990 200 Bootsliegeplätze errichten durfte. Durch Bescheid der Bezirkshauptmannschaft Bregenz wurde bestimmt, dass davon maximal 60 Boote, deren Eigner ihren Wohnsitz im Ausland haben, im Hafen untergebracht werden dürfen. Als dieses Kontingent nach dem Beitritt Österreichs zur EU im Jahr 1995 um zwei Liegeplätze überschritten wurde, wurden über Herrn Ciola, den Geschäftsführer der Gesellschaft, gestützt auf eine Sanktionsbestimmung im Genehmigungsbescheid zwei Geldstrafen von jeweils 75 000 ÖS verhängt. Der mit der Angelegenheit befasste Verwaltungsgerichtshof fragte den EuGH im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens gemäß Art. 177 EWGV (jetzt Art. 267 AEUV), ob die Dienstleistungsfreiheit dahingehend auszulegen sei, dass eine derartige Kontingentierung mit Strafandrohung verboten sei. Der EuGH bejahte dies. Zur weiteren Frage des Verwaltungsgerichtshofs, ob man sich gegenüber einem Bescheid auch dann noch auf die Dienstleistungsfreiheit berufen könne, wenn dieser bestandskräftig geworden ist, führte der EuGH ua Folgendes aus (EuGH, Rs. C-224/97, Ciola/Land Vorarlberg, Slg. 1999, S. I-2517 ff):

„(25) Vorab ist … festzustellen, daß der Rechtsstreit nicht das rechtliche Schicksal des Verwaltungsaktes … selbst, sondern die Frage betrifft, ob ein solcher Verwaltungsakt im Rahmen der Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Sanktion, die wegen der Nichtbeachtung einer sich aus ihm ergebenden Verpflichtung verhängt wurde, deshalb unangewendet bleiben muss, weil er mit dem Grundsatz des freien Dienstleistungsverkehrs unvereinbar ist.

(26) Sodann ist darauf hinzuweisen, daß die Bestimmungen des EG-Vertrags, da sie in der Rechtsordnung jedes Mitgliedstaats unmittelbar gelten und da das Gemeinschaftsrecht dem nationalen Recht vorgeht, Rechte zugunsten der Betroffenen erzeugen, die die nationalen Behörden zu achten und zu wahren haben, so daß ihnen entgegenstehende Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts aus diesem Grund unanwendbar werden (vgl Urteil vom 4. April 1974 in der Rechtssache 167/73, Kommission/Frankreich, Slg. 1974, 359, Randnr 35) …

(30) Zum einen haben sich … alle Träger der Verwaltung einschließlich der Gemeinden und der sonstigen Gebietskörperschaften diesem Vorrang zu beugen, so daß sich der einzelne ihnen gegenüber auf eine solche Gemeinschaftsbestimmung berufen kann (Urteil vom 22. Juni 1989 in der Rechtssache 103/88, Fratelli Costanzo, Slg. 1989, 1839, Randnr 32).

(31) Zum anderen können die Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts, die einer solchen Gemeinschaftsbestimmung entgegenstehen, sowohl Rechts- als auch Verwaltungsvorschriften umfassen (vgl in diesem Sinne Urteil vom 7. Juli 1981 in der Rechtssache 158/80, Rewe, Slg. 1981, 1805, Randnr 43).

(32) Nach der Logik dieser Rechtsprechung umfassen die genannten innerstaatlichen Verwaltungsvorschriften nicht nur generell-abstrakte Normen, sondern auch individuell-konkrete Verwaltungsentscheidungen.

(33) Es wäre nämlich durch nichts zu rechtfertigen, wenn dem einzelnen der Rechtsschutz, der sich für ihn aus der unmittelbaren Wirkung des Gemeinschaftsrechts ergibt und den die innerstaatlichen Gerichte zu gewährleisten haben (vgl Urteil vom 19. Juni 1990 in der Rechtssache C-213/89, Factortame ua, Slg. 1990, I-2433, Randnr 19), in einem Fall verweigern würde, in dem es um die Gültigkeit eines Verwaltungsakts geht. Dieser Rechtschutz kann nicht von der Art der entgegenstehenden Bestimmung des innerstaatlichen Rechts abhängen.“

Da der EuGH festgestellt hatte, dass die Kontingentierung auf maximal 60 Boote gegen die Dienstleistungsfreiheit verstoße, bestand eine Kollision zwischen Gemeinschaftsrecht und dem bestandskräftigen Bescheid. In dieser Situation greift der Anwendungsvorrang, und die Bestimmung des Bescheids über die Kontingentierung wird unanwendbar. Sie darf daher nicht als Grundlage für eine Geldstrafe herangezogen werden.

103

Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts muss konsequenterweise auch für rechtskräftige Urteile gelten, die gegen Unionsrecht verstoßen. Sie dürfen nicht als Rechtsgrundlage für weiteres staatliches Handeln herangezogen werden.

104

Die dargestellte Vorrang-Rechtsprechung des EuGH bezieht sich auf sog. direkte Kollisionen. Darunter versteht man Kollisionen zwischen materiellem Unionsrecht und materiellem nationalem Recht, auch – wie gezeigt – in Form von bestandskräftigen Verwaltungsakten sowie in Form von rechtskräftigen Urteilen.

105

Bei indirekten Kollisionen handelt es sich um solche zwischen materiellem Unionsrecht und nationalem Verfahrensrecht. In derartigen Fällen greift der EuGH nicht direkt auf den Anwendungsvorrang zurück, sondern stützt sich auf die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten und die Prinzipien der Effektivität und der Äquivalenz, was zu differenzierteren Ergebnissen führt (s. im Einzelnen Rn 1003 ff).

Beispiel:

In der Rs. Germany und Arcor ging es – im Zusammenhang mit einem Rechtsstreit über die Erstattung von zu Unrecht erhobenen Gebühren – um eine Kollision zwischen einer Richtlinienbestimmung (materielles Recht) und § 48 VwVfG (Verfahrensrecht) (EuGH, verb. Rs. C-392/04 und C-422/04, i-21 Germany und Arcor, Slg. 2006, S. I-8559 ff; s. Rn 1012):

106

Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts stellt eine „Mindestgarantie“ dar (EuGH, Rs. 168/85, Kommission/Italien, Slg. 1986, 2945 ff, Randnr 11) und entbindet die Mitgliedstaaten nicht von der Verpflichtung, die dem Unionsrecht widersprechenden – und von diesen im konkreten Anlassfall unanwendbaren – nationalen Rechtsvorschriften dem Unionsrecht anzupassen (Rechtsbereinigungspflicht, s. Rn 1009). Der EuGH hat das wie folgt begründet (EuGH, Rs. C-290/94, Kommission/Griechenland, Slg. 1996, S. I-3285 ff):

„(29) Nach gefestigter Rechtsprechung entbinden nämlich der Vorrang und die unmittelbare Wirkung der Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts die Mitgliedstaaten nicht von der Pflicht, diejenigen Bestimmungen ihrer innerstaatlichen Rechtsordnung aufzuheben, die mit dem Gemeinschaftsrecht unvereinbar sind; denn ihre Beibehaltung führt zu Unklarheiten tatsächlicher Art, weil die betroffenen Normadressaten bezüglich der ihnen eröffneten Möglichkeiten, sich auf das Gemeinschaftsrecht zu berufen, in einem Zustand der Ungewissheit gelassen werden.“

107

Lösung Fall 3 (Rn 71):

Die Beurteilung der Richtigkeit der Ansicht der W hängt von der Theorie ab, die man zum Verhältnis des Unionsrechts zum nationalen Recht vertritt. Folgende zwei Lösungen sind denkbar:

1. Völkerrechtliche Lösung:

Die Beantwortung der Frage hängt davon ab, für welche Theorie man sich entscheidet. Nach den beiden – heute fast ausschließlich vertretenen – Theorien des gemäßigten Monismus und des gemäßigten Dualismus ist die Antwort aber im Ergebnis gleichlautend. Das dem Unionsrecht laut Sachverhalt widersprechende nationale Recht, nämlich Art. 12 und Art. 14 GG, geht zunächst vor. Die Verordnung ist daher innerstaatlich nichtig oder zumindest unanwendbar. Nach beiden Theorien ist aber die Bundesrepublik verpflichtet, das Unionsrecht einzuhalten und haftet dafür nach außen. Sie muss also geeignete Maßnahmen ergreifen, das Anbauverbot durchzusetzen.

2. Europarechtliche Lösung:

Nach der europarechtlichen Lösung geht das Unionsrecht vor. Die – laut Sachverhalt anzunehmende – Tatsache, dass Grundrechte verletzt sind, spielt deshalb grundsätzlich keine Rolle. Die Ansicht der Klägerin ist daher nicht richtig. Der Vorrang des Unionsrechts bedingt allerdings nicht, dass die Art. 12 und Art. 14 GG nichtig sind, sondern lediglich, dass sie in diesem Fall nicht zur Anwendung kommen.

§ 2 Völkerrecht, Europarecht und nationales Recht › B. Europarecht und nationales Recht › III. Regelung im GG und in den Länderverfassungen

Staatsrecht III

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