Читать книгу Beethoven, Wagner, Mahler - Hans-Georg Klemm - Страница 13
Sterben
ОглавлениеUnter einer zerrütteten Ehe und mangelnder Mutterliebe hatten und haben viele Kinder zu leiden. Dass das Schicksal schon in frühen Jahren so grausam zuschlägt, wie es bei Beethoven, Mahler und Wagner der Fall war, bleibt jedoch glücklicherweise den meisten erspart. Denn die Häufung der Todesfälle in ihren Familien ist beängstigend, ja geradezu unheimlich.
Ungeheuer hoch war die Kindersterblichkeit Ende des 18. Jahrhunderts. Sieben Nachkommen gebar Maria Magdalena van Beethoven – Ludwig war einer von drei Söhnen, die am Leben blieben und heranwachsen konnten, trotz einer Pockenerkrankung, deren Narben ihn fortan daran erinnern sollten, wie knapp er dem Tod entronnen war. Mit drei Jahren verlor er den Großvater, mit sechzehn die Mutter. Aus Wien, wo er gerade angekommen war, um von Mozart unterrichtet zu werden, wurde er in seine Heimatstadt zurückbeordert. Drei Monate lang sollte er das Sterben der an Tuberkulose Erkrankten miterleben. Sein acht Wochen nach ihrem Tod geschriebener Brief an Josef von Schaden lässt den tiefen Schmerz über den Verlust nur noch erahnen: „Ich muss Ihnen bekennen: dass, seitdem ich von Augsburg hinweg bin, meine Freude und mit ihr meine Gesundheit begann aufzuhören; je näher ich meiner Vaterstadt kam, je mehr Briefe erhielt ich von meinem Vater, geschwinder zu reisen als gewöhnlich, da meine Mutter nicht in günstigen Gesundheitszuständen wär. Ich eilte also, so sehr ich vermochte, da ich doch selbst unpässlich wurde: das Verlangen meine kranke Mutter noch einmal sehen zu können, setzte alle Hindernisse bei mir hinweg, und half mir die größten Beschwernisse überwinden. Ich traf meine Mutter noch an, aber in den elendesten Gesundheitsumständen; sie hatte die Schwindsucht und starb … nach vielen überstandenen Schmerzen und Leiden …‟ Nur wenig später folgte ihr Ludwigs kleine Schwester Maria, die er hatte beschützen wollen, wie den Vater, dessen Tod ihn 1792 zum Vollwaisen machte.
Zwei Unglücke vernichtenden Ausmaßes überschatteten darüber hinaus die frühen Jahre Beethovens, ließen ihn die blanke Todesangst der Menschen spüren: Mit sechs Jahren erlebte er den Bonner Stadtbrand, mit dreizehn den so genannten „Eisgang‟, eine furchtbare Überschwemmungskatastrophe, ausgelöst durch den über seine Ufer tretenden Rhein.
Auch wenn die hygienischen Umstände fast hundert Jahre später besser waren und die Medizin deutliche Fortschritte gemacht hatte: Infektionskrankheiten wüteten noch immer verheerend unter kleinen Kindern, die Familientragödien Gustav Mahlers waren daher nicht weniger grausam als Beethovens. Von seinen dreizehn Geschwistern überlebte nicht einmal die Hälfte das Kindesalter; und das ging weit über das zu dieser Zeit Normale hinaus, zumal die Familie Mahler nicht in elenden Verhältnissen lebte.
Wie Beethoven hatte er einen älteren Bruder, Isidor, nie kennen lernen dürfen, der schon nach wenigen Wochen bei einem Unfall gestorben sein soll. Das Sterben vieler anderer musste er mit Erschütterung erleben; fünf der Kleinen starben an Diphtherie. Besonders nahe ging dem 14-Jährigen der Tod des geliebten, ein Jahr jüngeren Bruders Ernst, der langsam an Herzbeutelwassersucht dahinsiechte. Und Gustav musste jedes Stadium der Krankheit miterleben, bis zum Ende. Über Monate soll er nicht vom Bett des Todkranken gewichen sein, ihm unaufhörlich Geschichten erzählt haben. Ernsts Tod war das erste grausame Erlebnis in Mahlers Kindheit, das sich nicht verdrängen ließ. Das Bild des Bruders suchte ihn, wie er in einem Brief schrieb, noch Jahre später heim. 1889, noch vor seinem 30. Geburtstag, verlor auch Mahler innerhalb kürzester Zeit beide Eltern; die Mutter starb im Oktober, nur sechs Monate nach dem Vater. Wenige Wochen zuvor hatte ihm das Schicksal dazu noch die ältere Schwester Leopoldine genommen, die einem Gehirntumor erlag. Sechs Jahre später beging sein Bruder Otto Selbstmord, indem er sich erschoss, nachdem er auf einen Zettel eine Botschaft hinterlassen hatte: das Leben freue ihn nicht mehr, er gebe „seine Eintrittskarte‟ zurück. Er war erst 23 Jahre alt.
Die Kindheit Richard Wagners war kaum schöner zu nennen, und dass er sie überhaupt überstand, ist wie im Fall des „Titanen‟ ein großes Glück für die Nachwelt. Denn der Knabe war „von großer Schwächlichkeit‟, erkrankte mehrfach so heftig, dass man ihn schon aufgab und ihm die eigene Mutter, wie er später erfuhr, „fast den Tod gewünscht hat‟.
Er war ein Kriegskind, denn in seinem Geburtsjahr 1813 brachen die Befreiungskriege gegen Napoleon Bonaparte aus. Leipzig, wo er auf die Welt gekommen war, wurde von dem französischen Kaiser besetzt, der es zu einer Art Brückenkopf ausbauen wollte. Der Feldherr selbst bezog Quartier am Rathausplatz der 32.000-Einwohner-Stadt, in die nach und nach 200.000 Besatzungssoldaten drängten. Für die gut situierte Familie Wagner bedeutete das wie für alle Bürger der Stadt: Hunger, Übergriffe, Epidemien, Manöver und Schießübungen. Doch es sollte noch schlimmer kommen: Nachdem Preußen, Österreicher und Russen mit 350.000 Mann heranmarschiert waren und die Stadt umzingelt hatten, begann am 16. Oktober 1813 eines der größten Gemetzel seit Menschengedenken: die Völkerschlacht von Leipzig. Drei Tage Todesängste für Johanna Rosine Wagner und ihre Kinder; Artilleriebeschuss, Granateinschläge, Feuersbrünste, Straßenkämpfe …
Als am 19. Oktober um zwölf Uhr die Kirchenglocken den Sieg über Napoleon verkündeten, bot Leipzig einen schauderhaften Anblick: verwüstete Alleen und Promenaden, zerstörte Häuser. Jeder Schritt in der äußeren Stadt stieß auf Leichname und tote Pferde. 125.000 Soldaten lagen tot oder sterbend auf den Kampfstätten. Der Leichengeruch traumatisierte viele Menschen. Zurück blieb auch ein zutiefst verängstigter, unterernährter kleiner Junge.
Unzählbar waren die Opfer der Typhus-Epidemie, die kurz darauf ausbrach. Eines von ihnen war Friedrich Wagner, der leibliche Vater des erst sechs Monate alten Richard. „Wie war er wohl? Wie sah er aus?‟ Diese Fragen wird sich Wagner oft in seinem Leben gestellt haben, denn es existiert kein Bild seines Vaters. Kurz nach Friedrich starb Richards Schwester Theresia vierjährig an einer Kinderseuche, wenige Tage darauf die Großmutter väterlicherseits. Während diese Todesfälle und der über ein Jahrzehnt vor seiner Geburt liegende – auch Richard hatte einen großen Bruder, Gustav, verloren – den kleinen Jungen psychisch noch nicht unmittelbar erschüttern konnten: Die nun folgenden sollten es tun.
Als der Achtjährige gerade ein Jahr in der Obhut Pfarrer Wetzels in der Nähe Dresdens war, erhielt er eine traurige Nachricht und die Aufforderung, unverzüglich nach Hause zu kommen: Sein Stiefvater lag im Sterben. In Begleitung Wetzels machte Wagner sich auf den Weg. In seiner Autobiographie „Mein Leben‟ schrieb er: „Des andern Tages ward ich an das Bett meines Vaters geführt; die äußerste Schwäche, mit der er zu mir sprach, alle Vorkehrungen einer letzten verzweifelten Behandlung seiner akuten Brustwassersucht erfüllten mich durchaus nur wie Traumgebilde; ich glaube, die bange Verwunderung war in mir so mächtig, dass ich nicht weinen konnte. In einem anstoßenden Nebenzimmer lud mich die Mutter ein, zu zeigen, was ich auf dem Klavier gelernt habe, in der guten Absicht, es dem Vater zur Zerstreuung zu Gehör zu bringen: ich spielte ‚Üb’ immer Treu’ und Redlichkeit‛; der Vater hat da die Mutter gefragt: ‚Sollte er etwa Talent zur Musik haben?‛ – Am andern Morgen trat beim ersten Tagesgrauen die Mutter in die große Kinderschlafstube, kam zu jedem von uns an das Bett und meldete schluchzend des Vaters Tod, jedem von uns wie zum Segen etwas von ihm sagend; zu mir sagte sie: ‚Aus dir hat er etwas machen wollen.‛‟
Richard Wagner hatte in Ludwig Geyer seinen zweiten Vater verloren. Pfarrer Wetzel, der immerhin eine Art Ersatz hätte werden können, musste der Junge verlassen. Und schon bald sollte Richard um den nächsten Menschen weinen, der ihm etwas bedeutete. Denn in Eisleben, wohin er in die Obhut seines Onkels Karl Geyer gegeben worden war, schloss er seine bereits unheilbar kranke Großmutter ins Herz: „Sie lebte in einer finsteren Hinterstube, auf einen engen Hof hinaus, und hatte gern frei umherflatternde Rotkehlchen bei sich, für welche stets frisch erhaltene grüne Zweige am Ofen ausgestreckt waren. Es glückte mir selbst, ihr im Sprenkel welche einzufangen, als die alten von der Katze getötet worden waren: hierüber freute sie sich sehr und hielt mich sauber und reinlich. Auch ihr vorausgesehener Tod trat bald ein: der aufgesparte Trauerflor wurde nun offen in Eisleben getragen; das Hinterstübchen mit den Rotkehlchen und grünen Büschen hörte für mich auf.‟
Der erste Verlust eines Idylls für Richard Wagner, nach dem nicht nur er ein Leben lang rastlos suchen sollte.