Читать книгу Als Erich H. die Schule schwänzte - Hans-Georg Schumann - Страница 10
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ОглавлениеEr erschrak, als es klingelte. Zuerst glaubte Erich, er hätte sich verhört, dann ordnete er das Geräusch verwirrt dem Telefon zu. Schließlich realisierte er, dass es sich wirklich um die Türklingel handelte.
Er würde einfach nicht öffnen. Denn offiziell war Erich schließlich krank. Doch das Klingeln wollte nicht verstummen. Schließlich ging er zum Türspion und schaute hindurch. Er wollte es nicht glauben, aber draußen stand wirklich Hülya.
Nach kurzem Zögern öffnete er die Tür. »Hallo«, sagte sie. »Hallo«, gab Erich zurück. »Darf ich reinkommen?«, fragte Hülya. Erich nickte und trat zur Seite. Sie ging durch den kurzen Flur ein Stück geradeaus.
Dann blieb sie stehen und zögerte. Zog ihre Jacke aus, die Erich ihr abnahm und in der Garderobe aufhängte. Er zeigte auf die offene Wohnzimmertür. Und Hülya ging nickend hinein.
»Setz dich irgendwohin«, wollte er sagen, aber sie hatte bereits Platz genommen. Ausgerechnet in seinem Sessel. Den er eigentlich nur für sich beanspruchte. Normalerweise gelang es Erich immer, Besuch (der ohnehin selten war) aufs Sofa zu platzieren. Diesmal jedoch nicht.
Er ließ es geschehen und blieb einen Augenblick stehen. »Was führt dich zu mir?«, fragte er Hülya.
»Ich wollte nur mal vorbeischauen, wie's Ihnen geht«, erwiderte sie und grinste ihn an. »Wie man sieht, sind Sie wenigstens nicht todkrank.«
Erich sah sich kurz um, dann setzte er sich auf einen Sofaplatz. Nun saßen sich beide eine Weile schweigend gegenüber. Keiner wusste so recht, was er oder sie sagen sollte.
Schließlich hielt es Erich nicht mehr aus, stand ruckartig auf und fragte: »Willst du was trinken?« »Ne Cola, wenn Sie haben.«
Erich schüttelte den Kopf. »Ich habe Wasser und Saft.« »Was für Saft?« »Komm mit und such dir was aus«, forderte er sie auf.
Hülya erhob sich und folgte ihm in die Küche. Erich zeigte auf eine Ecke neben dem Büfett. Dort standen mehrere Getränkepackungen. Hülya ging in die Hocke, schaute einen Moment, und entschied sich dann für Apfelsaft.
»Ist zwar was ganz anderes als Cola, aber soll ja gesund sein«, sagte sie süßsauer lächelnd. Erich nahm eine Schere, schnitt die Packung auf, holte zwei Gläser aus der Anrichte und goss sie jeweils dreiviertel voll.
»Wir können uns auch hier in die Küche setzen, wenn du willst«, meinte er und schaute sie an. Hülya nickte kurz, trug die beiden Gläser zum Tisch und setzte sich auf einen der beiden Küchenstühle. Erich nahm ihr gegenüber Platz.
»Du willst wissen, wie es mir geht?«, fragte er. Und als sie nickte, sagte er: »Gut. Mir geht es gut.«
»Haben Sie inzwischen den Grund gefunden?«, fragte Hülya. »Für mein Schwänzen?« Erich lächelte: »Nein, aber es gibt bestimmt einen. Ich kann ihn bloß nicht entdecken.«
»Dann suchen Sie ihn«, meinte Hülya und Erich hörte auf zu lächeln. »Wieso«, fragte er, »ist es für dich wichtig zu wissen, warum ich nicht zur Schule gehe?«
Und als Hülya darauf nichts sagte, sondern nur mit den Schultern zuckte, gab er selbst eine Antwort: »Weil du selber keinen Grund für dein Fehlen hast.«
»Doch, hab ich«, entgegnete sie trotzig, »Ich brauche die Schule nicht. Ich bin jetzt über 15, und in nicht mal einem Jahr werde ich heiraten. Ich kenne den Typ, er ist nett, und er wird gut verdienen.«
»Und er wird für dich sorgen«, meinte Erich. Sie nickte.
»Und er wird für dich denken«, meinte er weiter. Diesmal nickte Hülya nicht. »Ich denke für mich selbst«, erwiderte sie.
Erich hob sein Glas, trank es leer, und behielt es dann in der Hand.
»Was wirst du nach deiner Heirat tun, all die Jahre?«, wollte er wissen. »Das weiß ich nicht«, gab Hülya zu, »Ich habe noch nicht drüber nachgedacht. Werd ich dann schon sehen.«
»Du hast dir keine Gedanken darüber gemacht, wie deine Zeit während der Ehe aussehen soll?«
Hülya schüttelte den Kopf. »Nein, warum? Interessiert mich jetzt nicht.« »Was interessiert dich denn jetzt?«, fragte Erich und setzte das leere Glas ab.
Hülya überlegte. Dann huschte ein Lächeln über ihr Gesicht: »Jetzt interessiert mich immer noch, warum Sie geschwänzt haben. Gestern und heute. Wollen Sie morgen auch aus der Schule wegbleiben?«
Erich nickte. »Ich werde bis zum Wochenende nicht zur Schule kommen. Was dann nächste Woche ist, weiß ich noch nicht.«
»Und wenn ich Sie verpetze?« »Dann hab ich Pech gehabt«, versetzte er.
Hülya sah ihn an: »Nein, nein. Sie brauchen keine Angst zu haben. Ich werd Sie nicht verraten.«
Dann wurde sie nachdenklich: »Aber Sie als Lehrer müssten mich doch melden, wenn ich schwänze.«
Erich zuckte mit den Schultern: »Und wenn ichs nicht tue?« Hülya lachte. »Wir sind eben beide keine Verräter.«
Und Erich ließ sich von ihrem Lachen anstecken und lachte mit: »Nein, wirklich nicht.«
Dann wurde er wieder ernst: »Warst du heute in der Schule?«, fragte er.
»Ja«, sagte Hülya, »wir hatten die blöde Lippmann als Vertretung.« »Wieso blöd?«
»Die ist immer so streng. Achtet auf jedes bisschen. Und ihre Lieblingssätze sind ›A little bit louder, please‹ und ›A little bit clearer, please‹. Nie passt ihr unsere Aussprache.«
Erich musste loslachen. Er lachte über die Art, wie Hülya das Ganze erzählte. Und über ihre Mimik beim Erzählen.
»Warum lachen Sie?«, fragte sie. »Ich lache über dich. Über die Art, wie du erzählst. Es gefällt mir.«
»Sie machen sich über mich lustig?« Irritiert schaute Hülya ihn an. »Nein«, sagte er, »Ich finde es lustig. Aber ich mache mich nicht lustig.«
Als Erich sah, dass er ihre Verwirrung offenbar vergrößert hatte, versuchte er eine Erklärung: »Sich lustig machen heißt jemanden lächerlich finden. Ich finde dich nicht lächerlich.«
Er machte eine kurze Pause, ehe er weitersprach: »Im Gegenteil. Mir gefällt die Art, wie du erzählst. Ich finde es lustig, wie du über meine Kollegin sprichst. Obwohl ich als Kollege eigentlich nicht darüber lachen sollte.«
Hülya schien mit dieser Erklärung zufrieden. Aber sie führte sie zu einer neuen Frage: »Wieso dürfen Sie nicht über Kollegen lachen?«
»Darf ich schon. Aber manche Kollegen oder Kolleginnen verstehen eben keinen Spaß. Die haben dann das Gefühl, man macht sich über sie lustig.«
»So wie bei mir eben?« Erich nickte und lächelte sie an.
»Nicht ganz«, sagte er dann, »Es war eher ein Kompliment an dich.« Hülya schwieg dazu und lächelte nur zurück.
Nun entstand wieder eine längere Pause, in der beide sich schweigend gegenübersaßen.
»Eigentlich«, sagte Hülya auf einmal mehr zu sich als zu Erich, »bin ich ja wegen dem Schwänzen gekommen.«
»Dir geht das nicht aus dem Kopf«, meinte Erich, »Warum schwänzt man?« »Weil man etwas nicht will«, antwortete Hülya.
»Warum will man etwas nicht«, fuhr Erich nachdenklich fort, »das man schon so lange tut?«
»Warum fragen Sie mich das?«, fragte Hülya, »Müssen Lehrer das tun? Immerzu anderen Fragen stellen?«
Erich schaute sie verdutzt an. »Ich habe das eigentlich mich gefragt«, wollte er sagen, aber Hülya war schon bei ihrem nächsten Satz: »Warum versuchen Sie nicht mal, Ihre eigene Frage zu klären, nämlich wieso Sie schwänzen?«
»Ich bin gerade dabei«, wollte er sagen, aber er schwieg erneut und ließ sie weiterreden. »Wieso geht ein Lehrer nicht zum Unterricht, obwohl es sein Job ist, obwohl er dafür bezahlt wird?«
Nun konnte er sich nicht mehr zurückhalten. »Wieso dürfen Arbeiter blau machen, wieso dürfen Schüler schwänzen«, fragte er, »und warum Lehrer nicht?«
»Da ist was anderes: Schüler müssen in die Schule. Und keiner fragt, ob sie es auch wollen, es gibt ja Schulpflicht. Sie kriegen nichts dafür außer der Drohung, dass sie sonst später keinen Job bekommen. Aber wenn sie dann endlich wieder draußen sind, sehen sie, dass die Drohung gar nicht stimmt. Sie kriegen auch dann nur vielleicht einen Job. Und wenn, dann meistens einen schlechteren als den, von dem sie geträumt haben.«
»Die Schule«, versuchte Erich dagegen zu halten, »kann nichts dafür, wenn du nach deinem Abschluss nicht den Beruf erwischst, den du gern möchtest. Die Schule kann nur versuchen, dir möglichst viel Grundwissen zu vermitteln, damit du bessere Karten ...«
Hülya unterbrach ihn und er ließ es zu.
»Ich wollte nie in die Schule. Na gut, eine Zeit lang wollte ich. Aber dann wurde es immer öder und langweiliger. Es war immer weniger zum Aushalten. Da fing ich an zu schwänzen. Erst mal nur ganz selten. Keiner hat was gemerkt. Damals nahm es mein Klassenlehrer nicht so genau mit dem Fehlen, er kontrollierte die Entschuldigungen nicht oft. Und inzwischen ist es eben eine ganze Menge Zeit geworden, die ich schwänze.«
Erich hatte keine Lust, Hülya von irgendetwas zu überzeugen. Er kannte den Spruch »Man lernt nicht für die Schule, sondern für das Leben« und wusste, dass genau das Gegenteil der Fall war.
Als Mitglied der Gruppe, die dafür zuständig war, dass Schüler möglichst viel aus der Schule fürs Leben mitnahmen, wusste er sich nicht zu verteidigen. Und so machte er einfach nur »Hm.«
»Ich weiß, warum ich schwänze«, fuhr Hülya inzwischen fort, »Weil es für mich Zeitverschwendung geworden ist, in die Schule zu gehen. Andererseits: Ich gehe eigentlich gern in die Schule. Irgendwie ist es da schön. Ich treffe Menschen, mit denen ich was anfangen kann, reden, Probleme klären, Spaß haben. Ich gehe in die Schule wegen den Schülern und einigen Lehrern, nicht wegen dem Unterricht.«
Hilflos ließ Erich zu, wie Hülya ihm ein Armutszeugnis ausstellte. Er kam sich plötzlich wie ein begossener Pudel vor. Jahrzehnte hatte er unterrichtet. Und dann kam eine Schülerin und erzählte ihm, dass sie auf den ganzen Unterricht verzichten könne.
Das Schlimme war, dass sie nicht die einzige war, die so dachte. Sie gab nur eine Meinung wieder, die sich unter Schülern weit verbreitet hatte. Das Schlimme war, das er es die ganzen vielen Jahre über wusste.
»Da war also mein ganzer Unterricht überflüssig«, versuchte er zu witzeln. Doch obwohl er die folgende Antwort erwartet hatte, musste er doch kräftig schlucken, als er sie wahrnahm. Sie war sehr kurz: Hülya nickte nur, aber mehrmals.
Doch dann milderte sie ihre Antwort ab: »Nicht alles, aber vieles«, sagte sie und schaute ihn an. »Zu viel«, erwiderte Erich niedergeschlagen.
Hülya schien seine Stimmung zu bemerken und war nun sichtlich bemüht, irgendetwas Tröstendes zu sagen.
»Ich meine, der meiste Unterricht ist nutzlos, aber nicht die Lehrer. Nicht alle, besonders Sie nicht. Ich gehe in die Schule auch wegen einigen Lehrern, also auch wegen Ihnen.«
Sie schwieg einen kurzen Moment, dann fuhr sie fort: »In der Schule ist Leben, es ist sogar oft schöner als das da draußen. Ich glaube, dass viele Schüler gern länger in der Schule bleiben würden. Auch wenn sie nach ihrem Abschluss so tun, als wären sie froh, endlich draußen zu sein.«
Erich war da nicht so sicher. »Meinst du?«, fragte er nachdenklich. Bisher hatte er eher das Gefühl, die Schüler wären froh, mit ihrer Schulausbildung fertig zu sein, um sich ins echte Leben zu stürzen – was immer das war. Jedenfalls hatte er in Elterngesprächen weder einen Vater noch eine Mutter gehört, die sich nach ihrer Schulzeit zurücksehnten.
»Ist doch klar«, sprach Hülya weiter, »was kann einem in der Schule schlimmstenfalls passieren? Man kriegt eine Fünf, oder sogar eine Sechs. Oder gleich ein paar von jeder Sorte. Man bleibt sitzen, muss ein Schuljahr in einer anderen Klasse wiederholen. Und? Im wirklichen Leben kann man seinen Job verlieren, muss dort wahrscheinlich ganz schön schuften. Und vielleicht hat man bei der Arbeit sogar mal einen schweren Unfall.«
»Da malst du das wirkliche Leben aber schwarz«, hielt Erich jetzt dagegen, »Denn die meisten Menschen sind nicht in der Schule, und viele von ihnen kommen eigentlich da draußen, im wirkliche Leben, ganz gut zurecht. Ich als Lehrer möchte mit keinem Schüler tauschen.«
Hülya zuckte mit den Schultern, schwieg aber.
»Und was ist mit Geld?«, sprach Erich weiter, »Immer nur Schüler bleiben heißt auch, kein eigenes Einkommen haben. Irgendwann muss man das Gelernte ja mal einsetzen. Und dabei kann man eine Menge Geld verdienen. Als Schüler jedoch ist man auf das Geld seiner Eltern angewiesen.«
Hülya schwieg noch immer. Irgendwie verunsicherte sie das, was Hoofeller sagte. Dazu fiel ihr auf, dass sie die Schule als Lebensraum verteidigte und gleichzeitig häufig schwänzte.
»Was ist?«, fragte Erich, dem ihr nachdenkliches Schweigen auffiel. »Ich muss mir da einiges durch den Kopf gehen lassen«, sagte sie langsam und stand auf. »Außerdem muss ich jetzt gehen.«
»Du kannst gern wiederkommen«, meinte Erich. »Wenn du willst«, fügte er dann eilig hinzu.
Hülya nickte. Erich begleitete sie zur Tür und half ihr in die Jacke. »Auf Wiedersehen, Und gute Besserung«, meinte sie augenzwinkernd, sodass Erich schmunzeln musste. »Komm gut nach Hause!«, sagte er.