Читать книгу Als Erich H. die Schule schwänzte - Hans-Georg Schumann - Страница 5
03
ОглавлениеHülya hatte den ganzen Vormittag in der Innenstadt verbracht. War durch die Straßen geschlendert, hatte zahlreiche modische Klamottenläden besucht. Kleidung anprobiert, aber nichts davon gekauft.
Geld war in ihrer Familie eher knapp. So hatte Hülya gelernt, sparsam damit umzugehen. Doch gucken und anprobieren kostete nichts.
Viele ihrer Kleidungsstücke hatte sie selbst genäht. Eine Tante von Hülya war Schneiderin, hatte ihr das Nähen beigebracht. »Textil« war auch das einzige Fach, in dem sie eine Zwei oder eine Eins hatte.
Hülya liebte bunte Stoffe. Sie hatte ihren eigenen Stil, daraus Kleider zu machen. Von dem, was bei den meisten ihrer Mitschülerinnen gerade angesagt war, hielt sie nichts. Hülya mochte keine Hosen, die nur knapp am Körper saßen. Oder Shirts, die zu kurz waren.
Hülya war schlank, fast dünn. Hatte lange dunkelbraune Haare, meist hinten zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. So war ihr Gesicht von vorn und von der Seite gut zu sehen. Dass sie von orientalischen Eltern abstammte, war unverkennbar: Ihr Vater Mahsun kam aus der Türkei, ihre Mutter Farida war im benachbarten Irak geboren. Beide waren Kurden.
Ihre bisweilen eigenwillige Kleidung machte Hülya nicht zur Außenseiterin. Viele ihrer Mitschülerinnen schienen sogar eher beeindruckt zu sein, dass sie sich ihre eigene Mode schuf. Und die sich über ihre Kleidung lustig machten, waren vorwiegend Jungs.
Freundinnen hatte Hülya keine. Jedenfalls nach ihren eigenen Maßstäben. »Gute Kumpels« nannte sie die Mädchen, mit denen sie meistens zusammen war.
Was das Fehlen im Unterricht anging, hielt Hülya einen einsamen Rekord. Dennoch war ihre Versetzung nie gefährdet, immer kam sie irgendwie über die Runden. Bei den Klassenarbeiten war sie da und erreichte dort zumindest ausreichende Zensuren.
Ihr häufiges Fehlen wurde durch die Mutter gedeckt. Hülya brauchte sie nur zu bitten, dann unterschrieb sie die Entschuldigungen. Die hatte Hülya selbst verfasst, manchmal auch auf Vorrat, das Datum fügte sie erst später hinzu.
Wenn einige misstrauische Lehrer bei Hülya zu Hause telefonisch nachfragten, war entweder keiner da (denn ihre Mutter ging niemals ans Telefon) oder der Vater bestätigte stets, dass die Entschuldigung schon in Ordnung sei.
Es hatte allerdings nicht nur einmal Probleme gegeben, weil Hülya von Mitschülern und sogar von einem Lehrer in der Stadt gesehen worden war. Beim ersten Mal waren sich die betreffenden Schüler nicht mehr sicher, als Hülya alles vehement bestritt. Im zweiten Fall blieb der Lehrer, der sie gesehen hatte, hartnäckig. Doch Hülya verstand es sehr überzeugend die Reuige zu spielen. So kam sie mit einer Verwarnung davon.
Ihr war bewusst, dass es auf Dauer so nicht weitergehen konnte. Aber was machte es schon, wenn sie von der Schule flog? Hatte ihre Mutter nicht recht, wenn sie in Arabisch sagte: »Hülya soll frei sein, solange sie noch kann. Und wozu lernen, wenn ihr künftiger Mann komplett für sie sorgt? Das verdreht ihr nur den Kopf.«
Ihr Vater Mahsun war ähnlicher Ansicht. Allerdings wollte der, dass alles seine Ordnung haben sollte. Deshalb war er nicht damit einverstanden, dass seine Tochter die Schule allzu oft schwänzte. Die Entschuldigungen seiner Frau verteidigte er trotzdem. Denn auch er war der Meinung, dass seine Tochter keine Schulbildung brauchte.
Wozu auch? Hatte sie doch mehr als das, was für eine baldige Heirat nötig war: Sie war schön, nähte ihre Kleidung selbst, wusste, was in einem Haushalt zu tun war. Und dazu konnte sie fließend Deutsch sprechen – im Gegensatz zu ihren Eltern.
Mahsuns Wortschatz reichte aus, um sich »da draußen« einigermaßen zu verständigen. Bei der Grammatik und Rechtschreibung ließ er sich von seiner Tochter helfen. Arabisch dagegen beherrschte er sehr gut. Das war auch die Sprache, in der er sich mit seiner Frau Farida unterhielt.
Die weigerte sich, diese »schreckliche Sprache« Deutsch zu erlernen. Dennoch blieb es ihr nicht erspart, wenigstens ein paar Worte zu sammeln, um Bruchstücke verstehen und in Brocken antworten zu können.
Selten verließ Farida das Haus. Grundsätzlich trug sie nur weite hochgeschlossene Kleidung und ein eng um den Kopf geschlungenes Tuch. Meistens ging sie dann in einen Laden um die Ecke, in dem arabische Lebensmittel angeboten wurden. Kaufte dort ein, hielt ein kurzes Schwätzchen mit der Frau des Ladenbesitzers – in Arabisch. Wieder zu Hause, kümmerte sie sich dann um den Haushalt. Oder setzte sich vor das Fernsehgerät, um sich dort DVDs mit orientalischen Filmen anzuschauen.
Arabisch war auch die Sprache, die Hülya neben ein bisschen Türkisch gelernt hatte. Sie mochte diese Sprache, wegen ihres Klangs, aber auch wegen ihrer Schrift. Beides hatte im Vergleich zu europäischen Sprachen etwas Märchenhaftes. Auch wenn Mitschüler sich schon einige Male über das Arabische lustig gemacht hatten.
»Das sind ja nur Brech- und Würgelaute«, hatte Urban gelästert, ein Schüler aus ihrer Klasse, der besonders gute Noten in Englisch und Französisch hatte – bei Hoofeller. Der hatte ihn zurechtgewiesen, obwohl Urban sein bester Schüler war.
Hülya mochte Hoofeller gern, obwohl sie bei ihm in Deutsch auf einer Vier stand und in Englisch sogar im Begriff war, auf eine Fünf abzurutschen. Aber Hülya lag nichts an Englisch, sie liebte das Arabische. Einmal hatte sie das zu Hoofeller gesagt. Der wurde nachdenklich und sagte dann: »Vielleicht sollte ich auch Arabisch lernen?«
Als sie ihm vor einigen Stunden in der Stadt über den Weg lief, war sie erst mal ganz schön schockiert. Am liebsten wäre sie gleich weitergegangen. Doch er hatte sie festgehalten und »Warte« gesagt.
Dann hatte er sich vor ihr telefonisch krankgemeldet, also gelogen. Das war schon ein Ding. Ein Lehrer macht es wie die Schüler: Schwänzt die Schule. Und gleich fand sie diesen Typ noch sympathischer.
Was wollte er von ihr, sie als Alibi benutzen? Er hätte doch einfach weitergehen können. Genau so, wie sie es vorhatte. Aber vielleicht war es ihm peinlich. Und er wollte sie dazu überreden, ihn nicht anzuschwärzen? Hatte er aber dann doch nicht gemacht.
Sie könnte also einfach morgen rumerzählen, dass sie Hoofeller beim Schwänzen erwischt hätte. Aber irgendwie tat er ihr leid. Was hätte sie davon, ihn zu verpetzen? Schadenfreude? Am Ende bekam er noch Ärger – wegen ihr. Das wollte sie nicht.
Und wie peinlich es ihm war, als die Leute her guckten! Sie verstand nicht, wie das einem Lehrer peinlich sein kann. Der sich doch traut, seinen Kram vor einer ganzen Klasse auszubreiten. Auch war er offenbar ab und zu mal nicht ganz bei sich. So zerstreut. Typisch Lehrer.
Und einen Grund für sein Schwänzen wusste er auch nicht. »Alter vor Schönheit«, wollte sie eigentlich sagen, als er sich mit »Ladies first« erst mal um eine Erklärung gedrückt hatte. Aber später hatte er auch nichts Richtiges dazu zu sagen.
Da waren ihre Argumente auf jeden Fall besser. Auch wenn sie ihm offenbar nicht gefielen. Doch Hülya hatte keine Lust, jetzt darüber nachzudenken. Dazu war noch ein ganzes Jahr Zeit.