Читать книгу Als Erich H. die Schule schwänzte - Hans-Georg Schumann - Страница 8
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ОглавлениеErich war früh aufgestanden. So wie immer, wenn er zur Schule musste. Heute hatte er frei. Sein zweiter Schwänztag, schmunzelte er vor sich hin. Schon gestern, gleich nach dem Gespräch mit Hülya, war er bei seinem Hausarzt gewesen. Anschließend hatte er nochmals in der Schule angerufen und sich bis zum Freitag einschließlich krankgemeldet. Das Attest würde er am Montag mitbringen.
Es erschien es ihm noch immer unverständlich, warum er nicht in der Schule war. In der ersten Stunde hatte seine Neunte Deutsch. Wahrscheinlich würden sie die ausfallen und die Schüler eine Stunde später kommen lassen.
Ob Hülya heute erschienen war? Oder schwänzte sie ebenso wie er und trieb sich gerade wieder in der Stadt herum?
Erich hatte beschlossen, um den See herum spazieren zu gehen. Zumindest einen Teil des knapp fünf Kilometer langen Rundwegs könnte er abwandern. Dabei hatte er fast ständig einen Blick aufs Wasser. Viele Abschnitte des Rundwegs verliefen im Schatten, allerdings war auch der größte Teil nicht befestigt. Er würde sich also seine Wanderschuhe mit den dicken Sohlen und der Luftfederung anziehen.
Ehe er losging, zögerte er noch einmal kurz. Und was, wenn ihn jemand von den Kollegen sehen würde? Die waren nämlich nicht alle in der Schule, einige hatten erst später Unterricht, teilweise erst am Nachmittag.
Da war Erich pingelig. Immer wenn er einmal krank war – was selten der Fall war – blieb er zu Hause. Verließ nur seine Wohnung, um zum Arzt oder zur Apotheke zu gehen. Niemand sollte ihn irgendwo herumbummeln sehen und daraus falsche Schlüsse ziehen können.
Bisher hatte Hoofeller es sorgfältig vermieden als Schwänzer zu gelten. Aber heute war das etwas anderes. Er lächelte in sich hinein. Es machte ihm nichts aus. Sollen sie doch denken was sie wollen. Wenn ihn überhaupt jemand sehen würde.
Dann legte er sich doch eine passende Antwort zurecht: Der Arzt habe ihm Spaziergänge verordnet. Das hätte er früher auch schon sagen können. Aber da traute er es sich nie. Jetzt dagegen machte es ihm seltsamerweise nichts aus.
»Wenn ich schon schwänze«, begann er zu lachen, »dann richtig!«
Er ging aus seiner Wohnung, die im ersten Stock lag, die Treppe hinunter. Verließ das Haus, und musste dann noch einige Straßenabschnitte laufen, ehe er am Seeweg angekommen war.
Einen Moment blieb er stehen. Er genoss den Anblick des Sees, der an seiner weitesten Stelle fast anderthalb Kilometer breit war. Die Sonne spiegelte sich im Wasser und färbte es in einem seltsamen Grüngelb.
Wie oft hatte er schon dieses Wasser betrachtet. Als ob er unter der Oberfläche irgendetwas suchen würde. Natürlich wusste Erich, dass dort weder ein Schatz verborgen war noch ein Ungeheuer wie angeblich in Loch Ness lebte. Doch ihn faszinierte der Gedanke, dass man sich alles vorstellen konnte, solange man nur auf die Oberfläche schaute. Selbst wenn man dort schon einmal eingetaucht war und dann den Raum darunter kannte. Beim bloßen Anblick der Wasseroberfläche konnte man sich erneut vorstellen, dass es darunter etwas gab, das man noch nicht entdeckt hatte.
Vielleicht ist es den Schatzsuchern so gegangen, die immer und immer wieder dieselbe Stelle abgesucht haben. In der Meinung, sie hätten vielleicht etwas übersehen. Es gab hier tatsächlich einmal Schatzsucher, an diesem See.
Es rührte von einer Geschichte her, die man sich noch heute erzählte. Vor über hundert Jahren wurde die damals recht schlecht geschützte Bank von Seeberg überfallen. Die Täter kamen jedoch nicht weit, denn der Überfall wurde schnell bemerkt. Und die Verfolger waren den Bankräubern dicht auf den Fersen. Die rannten zum See, fanden dort ein Boot, ruderten damit bis etwa zur Seemitte, und ließen die Beute hinein plumpsen. Nach einiger Zeit versanken die schweren Säcke mit den Geldstücken offenbar im weichen Boden des Sees, zwischen allerlei Unterwasserpflanzen.
Die Täter wurden zwar allesamt erwischt. Doch das Diebesgut hatte man nie gefunden. Und mit der Zeit wurde daraus ein Schatz. Wie viel Geld es gewesen sein mag – wenn die Geschichte stimmte – wusste man bis heute nicht. In alten Quellen hieß es, es habe sich um höchstens hundert Goldstücke gehandelt. Ihr heutiger Wert wurde auf über 100 Euro pro Münze geschätzt.
Im Laufe der vielen Jahre jedoch wuchs der Schatz in der Überlieferung von Mal zu Mal immer weiter an. Nach heutiger Erzählversion sollten es bereits mehrere tausend Goldstücke im Wert von insgesamt fast einer Million Euro sein. Damit würde es sich also schon lohnen, nach diesem Schatz zu suchen.
Und so waren bis noch vor etwa zwanzig Jahren zahlreiche Gruppen von Tauchern im See von Seeberg unterwegs, zum Teil sogar nachts. Doch gefunden hatte nie jemand etwas.
Hoofeller lächelte. Vielleicht hätte auch er früher an einer solchen Tauchaktion teilnehmen sollen? Einfach so, zum Spaß. Denn noch heute erzählten sich die Leute die tollsten Geschichten, was es alles unter Wasser zu sehen gab. Natürlich waren auch einige Seeungeheuer dabei, die den mutigen Tauchern dort begegnet sein sollen.
Aber Erich traute sich bis heute nicht, tiefer als etwa zwei Meter zu tauchen. Er schwamm damals zwar gerne, hatte sogar den See an einer etwas engeren Stelle einige Male komplett durchquert. Doch beim Tauchen bekam er nach einiger Zeit Angst, dass er vielleicht nicht mehr rechtzeitig die Wasseroberfläche erreichen würde. Ehe ihm die Luft ausging. Außerdem sah man hier ab etwa zwei Metern Tiefe so gut wie nichts mehr unter Wasser. Deshalb hielt er sich beim Schwimmen und Tauchen immer nur in der Nähe der Oberfläche des Sees auf.
Heute schwamm er schon lange nicht mehr hier. Das konnte zwanzig oder mehr Jahre her sein, dass er das letzte Mal in diesem See geschwommen war. Wenn Erich schwimmen ging, dann zuletzt nur noch ins Hallenbad von Seeberg. Und seit er sich einen Bauch hatte wachsen lassen, der längst unübersehbar geworden war, traute er sich überhaupt nicht mehr öffentlich ins Wasser.
Inzwischen war Erich wohl einen ganzen Kilometer weiter gegangen. Er erkannte dies an einer Markierung. Früher einmal hatte er sich bei der kompletten Umrundung des Sees Stellen gemerkt, die jeden der etwa fünf Kilometer kennzeichneten. Mal war es ein bestimmter Baum, mal eine Gruppe von bemoosten Steinen oder auch ein Wegweiser, der zufällig eine Strecke von drei Kilometern markierte. Die einzelnen Stellen hatte er vor Jahrzehnten schon mit Fahrrad und Tacho genau abgemessen.
›Bis zu dem Café‹, dachte er, ›in dem ich immer einen Cappuccino trinke, ist es also noch einen halben Kilometer hin.‹ Er beschleunigte seine Schritte, und es dauerte nicht lange, bis er bei dem besagten Café angekommen war.
»Geschlossen«, sagte er enttäuscht. »Hatte ich vergessen. Dass dieses Café nicht wie die anderen am Montag zu haben kann!«
Er ging langsam weiter. ›Macht nichts‹, dachte er bei sich, ›trink ich eben einen zu Hause.‹ Und er beschloss, nicht umzukehren, sondern den ganzen Rundweg zu gehen. Das hatte er schon länger nicht mehr getan.
Seit Jahren besuchte er dieses Café regelmäßig auf seinen wöchentlichen Spaziergängen, die allerdings immer nur am Wochenende stattfanden. Trank dort einen Cappuccino, und machte sich dann auf den Rückweg.
Er kannte den Besitzer des Cafés, wechselte ab und zu ein paar Worte mit ihm. Und hatte dessen Sohn sogar schon wiederholt Nachhilfe in Englisch gegeben. Bezahlung wollte er dafür keine. Alessandro – so hieß der Vater des Jungen – revanchierte sich aber damit, dass Erich jeden Sonntag seinen Cappuccino kostenlos bekam. Den heutigen hätte er natürlich bezahlt, dachte er bei sich, aber am Donnerstag war das Café ja geschlossen.
Als Erich weiterging und nach längerer Zeit den Wegweiser als Dreikilometermarke hinter sich gelassen hatte, sah er die längst verfallene Hütte und blieb stehen. Wie immer, wenn er dort vorbeikam.
Sie lag nicht direkt am Rundweg, sondern ein bisschen abseits, war aber vom Weg aus sogar bei Dämmerung gut zu erkennen.
Früher als Kind hatte er dort einmal Zuflucht gesucht, zusammen mit einem älteren Jungen. Der hatte ihm weismachen können, dass im Wald um den See ein geheimnisvoller Mann sein Unwesen trieb. Er ernährte sich angeblich von kleinen Kindern, die ihm über den Weg liefen.
Beide rannten schnell zur Hütte, als der betreffende Mann sich zu nähern schien. (Dabei war sich der kleine Erich nicht einmal sicher, ob das Geraschel, das sie hörten, wirklich Schritte waren.)
Die Jungs versteckten sich im Hohlraum unter der Sitzbank, als tatsächlich jemand hereingestapft kam, sich sogar an den Tisch setzte, und dort eine Weile schnaufend saß. Wer es war, erfuhr Erich nie.
So aber hatten sie damals bestimmt eine Stunde unbequem unter der Bank gekauert, möglichst ohne einen Laut, bis dieser Jemand sich endlich laut stöhnend erhob und wieder entfernte.
Erst als es dann eine Weile völlig still war, trauten die beiden sich wieder aus der unbequemen Lage heraus. Lange Zeit konnte Erich seine Beine nicht richtig bewegen. So waren sie zwar eilig nach Hause unterwegs, aber mehr gehumpelt als gerannt. Und der kleine Erich ließ sich die nächsten Monate nicht mehr zu einem Besuch des Seewegs überreden.
Später, einige Jahre älter geworden, umrundete er den See oft mit seinem Fahrrad. Dabei wagte er auch Abstecher in den dichteren Wald, nicht ohne sich immer wieder an das Erlebnis zu erinnern. Das lag mittlerweile weit zurück. Es machte ihm seit langem nichts mehr aus. Inzwischen wusste Erich, dass es in diesem Wald keine Menschenfresser gab. Ebenso wie keine Ungeheuer im See. Und offensichtlich auch keinen Schatz.
Zwischen Kilometer Vier und Fünf gab es eine weitere Stelle, die in Erich Erinnerungen weckte. Hier lagen viele entwurzelte oder gefällte Bäume, wegen der starken Unwetter im letzten Monat. Für Erich sah es hier fast aus wie Ruinen, die ein Krieg hinterlassen hatte. ›Alles wie ausgestorben‹, dachte er, ›aber man kann ja scheinbar totes Holz wieder zum Leben erwecken, wenn man Möbel daraus macht.‹
Früher hatten sie hier zu fünft oft ein Lagerfeuer angezündet. Erich mochte so um die elf bis zwölf Jahre alt gewesen sein. Es gab damals eine kleine Lichtung und der Boden war weiträumig sandig. Die Jungs hatten größere Steine gesammelt und diese nach und nach hierhergebracht.
Als ihr erstes großes Feuer niedergebrannt war und in der Glut die Kartoffeln rösteten, beschlossen sie eine Bande zu gründen. Jeder musste einen Schwur ablegen, dessen Text sie sich vorher zurechtgelegt hatten. An den genauen Wortlaut konnte Erich sich heute nicht mehr erinnern. Es ging unter anderem um Zusammenhalt und auch der Satz »Einer für alle, alle für einen« kam darin vor. Den hatten sie im Film »Die drei Musketiere« gehört und er gefiel allen so gut, dass sie ihn auch in ihren Schwur einbauten. Was er bedeuten sollte, wussten sie nicht so genau. War aber nicht schlimm, Hauptsache der Schwur klang gut.
Zum Abschluss musste jeder von ihnen noch in die Glut pinkeln. Und Erich erinnerte sich, dass er damals keinen Tropfen herausbekam. Anschließend bemerkten die fünf, dass sie vergessen hatten, die gerösteten Kartoffeln vorher aus der Glut zu nehmen. Erich musste schmunzeln.
Lange hatte die Bande dann nicht gehalten. Danach gab es noch zahlreiche Neugründungen. Jede Bande hatte zuerst mindestens drei Mitglieder, die meisten bestanden am Schluss nur noch aus einer Person, was natürlich die sofortige Auflösung zur Folge hatte. Die Lebensdauer solcher Banden reichte von einigen Tagen bis zu mehreren Monaten.
Erich ging weiter, machte den Rundgang komplett. Nun war er wieder am Anfang des Seewegs, der ja unendlich viele Anfänge (und Enden) hatte – aber einer davon war Erichs Anfang.
Heute empfand er den ganzen See mit dem ihn umgebenden Wald als wahren Schatz. Man konnte sich dort erholen, konnte frische Energie für kommenden Unterricht tanken.
Von seiner Wohnung aus war es nicht weit. Oft ging er direkt nach der Schule nur bis ans Seeufer, und blieb an seinem Anfang des Rundwegs. Setzte sich dort auf eine Parkbank, schloss die Augen. Und saß einfach nur da. Atmete die Luft ein, die vom Wasser kam, gemischt mit den Düften des nahen Waldes.
So manches Mal war Erich dort eingeschlafen, um erst bei Dämmerung wieder aufzuwachen. Dann blieb er noch eine ganze Weile sitzen, die es dauerte, bis die Sonne untergegangen war. Auch das war etwas, das dieser See bot: Den Untergang der Sonne, die ihn immer mehr mit hellem Blut zu tränken schien, bis sie schließlich ganz versank und dem See ein dunkles Tintenblau hinterließ.
Nach diesem Naturschauspiel erhob sich Erich von seinem Logenplatz, um nach Hause aufzubrechen. Dort verbrachte er dann den ganzen restlichen Abend.
Diesmal zögerte er. Es war noch früh am Tag. Ob er den ganzen Weg noch ein zweites Mal rund gehen sollte?