Читать книгу Als Erich H. die Schule schwänzte - Hans-Georg Schumann - Страница 6
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ОглавлениеSein Handy blieb abgeschaltet. Und falls das Festnetztelefon klingelte, würde er nicht drangehen. Sollte das doch sein Anrufbeantworter erledigen.
Nun saß Erich schon einige Zeit in seinem Arbeitszimmer. Grübelte über sein Fernbleiben von der Schule nach, ohne einen Grund dafür zu finden.
Tags zuvor hatte er noch unterrichtet – wie immer. Hatte dann allerdings nur noch physisch an der Konferenz teilgenommen. Lag da bereits der Keim für sein heutiges Schwänzen, wie Hülya es nannte?
Er schüttelte den Kopf. Wie oft war er schon abends nach Hause gekommen und hatte sich ausgebrannt gefühlt. Und war dann doch am nächsten Tag wieder zur Schule gegangen. Nicht nur, weil das sein Job war, für den er bezahlt wurde. Sondern auch weil es ein Teil seines Lebens war, ein für ihn vorwiegend angenehmer Teil.
Denn mit den Schülern kam er meistens gut zurecht. Dafür war es bei ihm nicht so leise wie bei manchen Kollegen. Dafür durften die Schüler während des Unterrichts auch mal »Fachfremdes« tun. Erich hatte nie den Ehrgeiz gehabt, alle Schüler für seinen Unterricht zu motivieren – wie das genannt wurde.
Schließlich waren die Schüler die Kunden, er war nur Dienstleister. Wollten die Schüler Wissen vermittelt haben, stand er zur Verfügung, ihnen Bestmögliches zu bieten. So trugen die Schüler eine Mitverantwortung am Unterricht. Wer nicht wollte, hatte sich nur so zu verhalten, dass andere nicht beim Arbeiten und Lernen gestört wurden.
Das klappte natürlich nicht immer. Denn schon ein Störenfried konnte die ganze »Suppe versalzen«, wie er es nannte. Meist jedoch fand Erich einen Weg, sich auch mit dem Lernunwilligsten zu arrangieren. Dazu gehörten auch eine »dicke Haut« und mehr als ein Quäntchen Sturheit.
Letztlich gab es keinen Grund für ihn, plötzlich zu schwänzen. (Langsam fand er Gefallen an dem Ausdruck.)
»Na ja«, sagte er laut zu sich, »jeder braucht mal eine Auszeit.«
So außergewöhnlich war das nicht. Wer wusste schon, wie viele Leute ihrer Arbeitsstelle fernblieben, einfach weil sie keine Lust zum Arbeiten hatten? Vielleicht hatte das sogar dazu geführt, dass sie schließlich ihre Arbeit wieder mit mehr Elan aufnehmen konnten?
»Rein statistisch gesehen«, sagte Erich wieder laut, »müsste ich mit meinen 60 Jahren viel öfter fehlen.«
Einen Grund hätte er nun: Die Statistik. Nach einem Artikel, den er kürzlich gelesen hatte, war angeblich der Krankenstand bei Lehrerinnen und Lehrern fast dreimal so hoch wie bei anderen Berufen. Außerdem hieß es dort, dass nur 5 Prozent bis zum Pensionsalter durchhielten.
»Rein statistisch gesehen«, ergänzte Erich, »bin ich also einer von 20, die noch dabei sind.«
So beschloss er, es keineswegs zu bereuen, dass er heute nicht zum Unterricht erschienen war. Und er war sicher, dass er in wenigen Tagen wieder unterrichten würde.
Morgen allerdings sollte er noch nicht gleich wieder zur Schule gehen. »Wenn ich mir von meinem Hausarzt ein Attest für mehrere Tage ausstellen lasse, fällt es auch nicht weiter auf.«
Da kam ihm Hülya in den Sinn. Die hatte es doch längst weitererzählt. Sein Schwänzen würde in den nächsten Tagen die Runde machen. Wie sollte er es da als echtes Kranksein kaschieren? Wenn alle wüssten, dass er mit Hülya während des Unterrichts in der Stadt in einem Café gesessen hatte?
So würde er noch während seiner Abwesenheit zum Gespött der ganzen Schule. Und wenn er zurückkäme, würden alle auf ihn schauen und hinter seinem Rücken über ihn tuscheln.
Bisher hatte Hoofeller sich nie etwas zuschulden kommen lassen, war auf jeden Fall immer das, was man als »guten Beamten« bezeichnete. (Ohne dass er wusste, was genau das war.)
Und jetzt das. Wie das aussah: Alter Knacker trifft sich mit einer Schülerin aus seiner Klasse, und beide schwänzen. Er malte sich schon aus, welche Kollegen besonders viel Schadenfreude empfinden würden.
Auffällig genug war Hülya schon immer, seit er sie kannte. Mit der eigenwillig bunten Kleidung, die sie trug. Und auch ihre Stimme war unüberhörbar. Und wenn sie dann noch lauter wurde als normal, dann ersetzte sie jedes Alarmsignal.
Erich war das peinlich gewesen, so die Aufmerksamkeit anderer zu erregen. Ein Auftreten wie das von Hülya hätte er sich in seiner Jugend und bis heute niemals getraut. Er war immer möglichst unauffällig gekleidet, eher in Richtung Grau oder Beige. Und er pflegte leise und deutlich zu sprechen. Nur wenn es im Unterricht zu laut wurde, konnte auch er mal lauter werden.
Wie auch immer. Jetzt jedenfalls würde er sich ein Glas Rotwein genehmigen. Vielleicht ausnahmsweise auch mal ein zweites. Und dazu ein Buch lesen. Es war schon eine ganze Weile her, da hatte er mit »Hundert Jahre Einsamkeit« von Garcia Marquez in Spanisch begonnen. Jetzt war Zeit genug, diese Lesung fortzusetzen.
Er fragte sich, ob er gern 100 Jahre alt werden würde. Dann hätte er noch 40 zu leben. Keine schlechten Aussichten. In 5 Jahren wäre er fertig mit der Schule. (So drückten sich eigentlich die Schüler aus, wenn sie ihren Schulabschluss meinten.)
Dann könnte er noch 35 Jahre lang seine Pension genießen. Aber würde ihn das wirklich ausfüllen? Tagelang immerzu irgendwo in einem Café sitzen und langsam älter werden? Würde ihm nicht der ganze Schulbetrieb fehlen?
Oder war der heutige Tag ein Auftakt für eine radikale Änderung? Hatte heute bereits sein neues Leben als Pensionär begonnen? Denn er hatte ja beschlossen, auf jeden Fall morgen auch noch zu fehlen. Und was war mit Übermorgen?
Da war Freitag. Es wäre also günstig, wenn sein Hausarzt ihn einfach bis zum Ende der Woche krankschreiben würde. Und am Sonntagabend könnte er sich dann entscheiden, wie es weiterginge.
Erich erschrak. Wieso machte er sich darüber Gedanken? Ursprünglich war es doch klar, dass er baldmöglichst wieder in die Schule zurückkehren würde. Womit alles wieder beim Alten wäre. Wieso also zweifelte er jetzt daran?
Zweifelte er daran? Und würde wirklich alles wieder beim Alten sein? Oder würde einiges anders sein? Warum dachte er jetzt darüber nach? Warum hatte er all die Jahre darüber nie nachgedacht?
Mit einem Mal spürte er, dass er ganz gelassen war: Es hatte sich etwas geändert. Es würde etwas anders sein – ganz gleich, wie er sich am Montag entscheiden würde.
Was würde passieren, wenn er von nun an nie mehr in die Schule ginge? Er würde eine Menge Ärger kriegen. Und letztendlich keine Pension mehr. War es das wert?
Was war es wert? Was war dieses »das«? Was war denn geschehen? Er war an der Schule vorbeigefahren und nicht zum Unterricht erschienen. Einmal, das erste Mal in seinem Lehrerleben. Sonst nichts.
Am Montag, wenn er seinen Unterricht fortführen würde wie bisher, wäre alles wieder im Lot. Mal abgesehen davon, was Hülya in der Schule verbreiten würde, könnte alles dann wieder so weitergehen wie bisher. Oder nicht?