Читать книгу Jenes hügelige Sein - Hans Haumer - Страница 11
SCHILLERNDE GERECHTIGKEIT
ОглавлениеDie Suche nach der gerechten Sache, der gerechten Handlung und der gerechten Gesinnung hat mich ein Leben lang geführt und begleitet. Gerechtigkeit ist ein gedankliches Gebirge, Constanze, an dem sich der Mensch seit je die Hirnzähne ausbeißt. Es ist kaum jemandem gelungen, dieses Scheidewasser unseres inneren Kompasses ohne Anleihe bei den Überirdischen zu erklären. Objektive Gerechtigkeit bräuchte einen unverrückbaren Bezugspunkt, den wir Idee der Gerechtigkeit nennen könnten. Eine lange Reihe großer Geister rang und ringt seit tausenden Jahren mit dieser notgedrungen abstrakten Idee. Die Ergebnisse dieses Nachdenkens sind schwierig zu verstehende Lehrsätze, die auf Annahmen beruhen, etwa Gerechtigkeit sei „im Prinzip“ Gleichheit.
Das berühmteste moderne wissenschaftliche Werk über Gerechtigkeit hat der Amerikaner John Rawls 1971 veröffentlicht. Seine Theory of Justice vertritt zwei Konzepte der Gerechtigkeit als Fairness eines sozialen Systems. Du wirst gleich sehen, Constanze, wie theoretisch das klingt. Das erste: Jeder soll gleiches Recht auf das umfangreichste System gleicher Grundfreiheiten haben, das mit dem gleichen System für alle verträglich ist. Erinnert ein bisschen an Kants Kategorischen Imperativ vom individuellen Verhalten, das zum allgemeinen Gesetz werden könnte. Das zweite: Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten sind so zu gestalten, dass sie nach vernünftiger Annahme zu jedermanns Vorteil dienen und sie mit Positionen und Ämtern verbunden sind, die jedem offenstehen. Soviel zur Idee der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Gerechtigkeit. Ein wenig schwer zu verdauen, nicht?
Die Realität der Gerechtigkeit sieht ganz anders aus. Eine Vielheit von subjektiven Gerechtigkeiten mit ihren beliebigen Bezugspunkten sucht nach dem gesellschaftlichen Kompromiss im Dialog oder nimmt den Kampf auf. Wenn es um einen großen gerechten Wert wie Freiheit geht, dann kennen wir aus der Geschichte und bis heute die Bereitschaft der Menschen, dafür sogar ihr Leben aufs Spiel zu setzen. Die Proteste gegen politische Unterdrückung in Russland, Hong Kong, Venezuela oder im Iran sind aktuelle Beispiele dafür.
Eine endgültige Belohnung in der göttlichen, überirdischen Gerechtigkeit zu suchen und auf die Bestrafung der Ungerechten dieser Welt zu hoffen, das war immer wieder auch Zuflucht und Trost für jene, die mit der irdischen Ungerechtigkeit anders nicht zu Rande kommen konnten. Ist aber Gott selbst gerecht? Wie sollte diese Gerechtigkeit einer höheren Ordnung denn aussehen?
Die Theologen nennen die Frage von Gottes Gerechtigkeit mit dem griechischen Namen Theodizee (theodikía). Wie kann ein barmherziger, guter Gott unbarmherzig so viel Übel in der Welt zulassen? Ich habe die Antwort von Kardinal Schönborn auf diese Frage gehört und nur in Erinnerung, dass auch er als ausgewiesener Theologe keine für Laien schlüssige Antwort geben konnte. Der Mensch hat von Gott, folgt man den Schriften, den freien Willen zum Widerstand auch gegen ihn, Gott selbst, erhalten, also auch die Fähigkeit und Bereitschaft zum Bösen. Und warum lässt Gott die Menschheit gewähren für die kaum erheblichen Bruchteile von Sekunden ihrer Existenz im an Ewigkeiten gemessenen Zeitmaß des Universums, stellt sie ständig auf die Probe, bleibt der „unbewegte Beweger“, wie schon Aristoteles ihn nannte? Die Antwort der Religionen ist überall ähnlich. Bei den alten Ägyptern etwa das Totengericht, ein überirdischer, gerechter, unanfechtbarer Richtspruch über Gut oder Böse, ewiges Licht oder ewige Finsternis für die unsterblichen Seelen der Verstorbenen. Ich meine, dass dieses von Menschen entworfene Gottesbild uns Trost zu Lebzeiten spenden soll. Ob der Gott aller Universen uns wirklich während unserer flüchtigen Existenz im Kosmos ernst nimmt?
Man sieht, Constanze, wie der Mensch mit seinem Denken an die Tür von Geheimnissen klopfen kann, die sich vielleicht sogar öffnet. Aber sicher wartet dahinter eine weitere und noch eine und wieder eine, was ihn in diesem kafkaesken Schloss ziellos herumirren lässt. Wir werden noch mehr solcher Mysterien zu knacken haben, aber wahrscheinlich an den vielen Türen scheitern, die sie vor ihrer Entdeckung schützen.
Es gibt eine Mysterianismus genannte Schule der Philosophie, welche die Grenzen unseres Geistes zum Maß vieler Dinge macht. Nach dieser Denkschule werden sich manche Rätsel der Natur möglicherweise für immer jenseits unseres lösungshungrigen Verstandes verbergen. Der Mensch ist einfach nicht gescheit genug, er ist ein Produkt der Evolution, und das allein beweist: Es gibt auch eine höhere Stufe der Intelligenz als die des Menschen! Die größten Wissenschaftler waren meist sehr demütig, wie auch die größten Philosophen. Isaac Newton verglich sich mit einem Knaben am Strand, der immer wieder eine schönere Muschel oder einen glatteren Kiesel findet, „… aber der große Ozean der Wahrheit liegt noch unentdeckt vor mir“, schrieb er. Und Sokrates’ Spruch, „Ich weiß, dass ich nichts weiß“, kennt bei uns jedes Kind. Diese Dualität von Demut vor dem Wissen und von Respekt auch vor dem Nichtwissen sollten wir uns aneignen! Ich werde dir sicher noch vom Tao erzählen, das viel zum Verstehen von Gegensätzen beitragen kann. Soll ich dir Gusto darauf machen? Warte ab. Warum Wasser härter als Stein sein kann, das ist die Frage!
Wenn wir nunmehr wieder in unsere irdische Wirklichkeit eintauchen, so nimmt auch die Gerechtigkeit menschliche Züge an. Die Gerechtigkeit, von der man so respektvoll als platonische Idee der Seele spricht, ist in der Realität vergleichbar mit einem Gefäß, in dem der reine Wein der Gerechtigkeit mit dem Wasser des Lebens verdünnt wird. Probieren wir das an einem wichtigen politischen Begriff aus: Was ist soziale Gerechtigkeit? Oft wird darunter nur die Verteilung von materiellen Gütern zwischen Arm und Reich verstanden, was natürlich zu simpel ist. Was ist mit der ungleichen Verteilung der Gene und Begabungen, der unterschiedlichen Geburtsorte und Familienherkunft, der empfangenen Liebe und Zuwendung in der Kindheit, ganz allgemein der Lebenschancen, wie das Ralf Dahrendorf nannte? Er, den ich während meines Postgraduate-Jahres in Tübingen als jungen Professor kennenlernen konnte, sah mehr Lebenschancen für möglichst viele Menschen als Ideal einer liberalen und demokratischen Politik und Gesellschaft an. Chancengleichheit ist ein politisches Ziel, das breite Zustimmung finden kann. Aber wie viel Wein, wie viel Wasser definiert diese Gleichheit von Möglichkeiten für jeden? Noch weniger einig ist man sich darüber, wie solidarische, die ungleichen Startchancen mildernde Eingriffe ausschauen sollen. Hier meldet sich wieder das Eigeninteresse der Bevorzugten, da sitzt wieder der Teufel im Detail und freut sich am Streit um mehr finanzielle Zuschüsse oder den leichteren Zugang zu mehr Bildung. Und da rede ich nur von den so genannten entwickelten Ländern, wo man bereits ein halbwegs funktionierendes Bildungssystem und ein geknüpftes soziales Netz vorfindet, das Schwächere grundsätzlich auffängt. Mit Lebens- und vor allem Bildungschancen sind wir der Suche nach wahrer sozialer Gerechtigkeit schon nähergekommen, aber eine klare begriffliche Bestimmung dieses Wieselworts entgleitet mir. Zum Beispiel hatte ich einen Start ins Leben, Constanze, der zwar auf den ersten Blick nicht günstig war; aber gerade deswegen gute Lebenschancen, weil alle Muskeln und Sehnen des Lebendigen in mir frühzeitig trainiert wurden! Gibt es so etwas wie eine gerechte Gesellschaft, einen gerechten Staat, eine gerechte Politik überhaupt? Das ist eine spannende Frage und verdient eine kurze Erörterung.