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GUT UND BÖSE

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Was fehlt uns noch auf eine vollständige Dreifaltigkeit der Grundwerte, nachdem wir über Wahrheit und Gerechtigkeit dilettiert haben? Meiner Meinung nach, Constanze, ist es jetzt der innerste Kern von Wahrheit und Gerechtigkeit, das Gute. Notgedrungen müssen wir da auch über das Böse reden. Seit Anfang der menschlichen Kulturen in Mythen, heiligen Schriften und Weisheitslehren standen die Spannungen zwischen Gegensätzen im Mittelpunkt der Erklärung, was den Weltenlauf in Gang hält. Ob es Yin und Yang, Götter und Göttinnen oder Himmel und Hölle sind – überall treffen Gegensätze seit je aufeinander, und ihr ständiges Ringen erzeugt erneuerte Lebenskraft. So ist es auch mit dem Scheidewasser Gut und/oder Böse. Adam und Eva aßen die verbotenen Früchte vom Baum der Erkenntnis. Prometheus stahl den Göttern das Feuer und gab es den Menschen. Auch im Mythos von Prometheus büßen diese mit den Übeln, die sein Bruder Epimetheus (das heißt ja, der erst nachher Denkende, im Gegensatz zum vorausdenkenden Prometheus!) aus der Büchse der Pandora unwissend entwischen lässt. Die Kulturgeschichte von Gut und Böse, Constanze, würde ganze Bibliotheken füllen. Ich begnüge mich mit einigen kurzen Gedanken, wenn dir das recht ist?

Wie die Gerechtigkeit und die Wahrheit, so ist auch das Gute schwer zu fassen. Es ist wie alle großen Ideen und Glaubensdinge eine intersubjektive Realität, wie Y. N. Hariri in Homo Deus, einer Kurzen Geschichte von Morgen schreibt. Sie ergänzt das bekannte Duo von objektiver und subjektiver Wirklichkeit als eine gemeinsame sinnstiftende Meinung der Menschen, im Original „fictions that give meaning“. Für Hariri waren das beispielsweise Religionen oder sind heute andere, irdische Wertvorstellungen, die als gemeinsam erdachte und gelebte soziale Motivation funktionieren, wie ich es interpretieren würde.

Auch das Ringen zwischen Gut und Böse ist eine solche uralte Fiktion, die Sinn schafft, um die Definition von Hariri zu verwenden. Dieser Kampf wird in der biblischen Überlieferung durch den Höllensturz des verstoßenen abtrünnigen Engels Luzifer vom gottestreuen Erzengel Michael für das Gute entschieden: die Anbetung und Anerkennung Gottes und seiner Gebote. Der Diábolos (griech. Verworfene) war ehedem ein Luzifer (lat. Lichtträger) und wurde zum bösen Deibel (man erkennt noch die griechische Herkunft) als Höllenfürst. Der Engel Mammon in John Miltons Paradise Lost stürzt, weil er das Gold der Himmelsstraßen mehr schätzte, als er Gott fürchtete. Diese Schilderungen sollen uns den Sieg des Guten durch Gottesfurcht und Glaubenstreue bestätigen, aber auch warnen, dass das Böse nicht verschwindet, nein, sondern als mächtiger Dämon im Reich der Hölle ein ständiger Verführer auch der Allerbesten bleibt. Du weißt sicher, dass die Bibel sogar von den Versuchungen Christi durch den Teufel spricht. Freilich weiß sich dieser zu verteidigen. Aber wir Menschen haben nicht alle und nicht immer die moralische Kraft, die Versprechungen des Bösen so zurückzuweisen wie Er, die Inkarnation des Guten.

Was ist also das Gute? Was ist das Böse? Versuchen wir’s wieder mit den Griechen. Platon erzählt im Dialog Phaidros, wie die ungeborenen Seelen die Urbilder alles Wirklichen erblicken und sich daraus die Sehnsucht und das Streben der Sterblichen erklärt. Wie steht es bei Platon zu lesen? Zeus, der Fürst des Himmels, zieht über das Himmelsgewölbe. Er lenkt seinen geflügelten Wagen, ihm folgen die Götter und Dämonen und danach die unsterblichen Seelen. Sobald sie nach riskanter Fahrt den Zenith des Himmels erreicht haben, blicken sie hinaus und können im Universum das wahrhaft Existierende sehend erfassen, die Idee des Guten, Schönen und Wahren. Idee kommt ja von sehen (gr. eidón, das Gesehene). Nach Platon versucht der Mensch dann, die seiner Seele eingeprägten Bilder als Lebensplan zu verwirklichen. Manche Seele hat Schwierigkeiten, das Himmelsgewölbe zu durchstoßen. Warum? Die zwei gefiederten Pferde, die jeder Seele vor den Wagen gespannt sind, haben ein konträres Naturell. Das eine ist willig und gut, das andere widerspenstig und böse. Das gute Pferd zieht den Seelenwagen hinan, das böse will hinab. Wenn die Seele dieses unbändige Pferd nicht zügeln kann, wird sie es nicht zum Zenith des Firmaments schaffen. Du siehst, Constanze, diese Ambivalenz des menschlichen Wesens ist in allen Mythen und auch in diesem platonischen Dialog (der eigentlich von Liebe und Schönheit handelt) als ständiger Kampf von Gegensätzen dargestellt. So kommt es, dass die gute Seele einen guten Menschen ausmacht, der vor seiner Geburt schon die Idee des Guten erfahren durfte. Nicht, dass diese Geschichte dem heutigen Stand des Wissens entspricht; aber sie enthält sicher mehr als ein Körnchen Wahrheit. Heute werden gute Menschen zuweilen als Gutmenschen bespöttelt. Sei stolz, wenn dich jemand so schimpft! Allerdings heißt das nicht, total naiv vor dem Bösen in der Welt die Augen zu verschließen und ihm schnurstracks in eine seiner überall aufgestellten Fallen zu laufen. Die Menschen haben neben dem Trieb der Selbsterhaltung, also Egoismus, sehr wohl seit Anbeginn ihrer nachweisbaren Existenz auch natürlichen Altruismus gezeigt. Das haben unter anderem Grabungen gezeigt, die schon den Neandertalern eine Fürsorge für Mitmenschen bestätigen, deren physische Beeinträchtigungen sonst schon viel früher zum Tod geführt hätten. Und die Nächstenliebe ohne Gegenleistung ist der beste Beweis für „das Gute im Menschen“.

Schon sehr früh haben sich die großen Denker der Menschheit auch ohne religiöse Deutung mit den Tugenden befasst, die den freien Willen der Menschen zum Guten leiten sollten. Die Wörter in verschiedenen Sprachen für einen tugendhaften Charakter verraten gewisse kulturelle Nuancen: Die Griechen sprachen schlicht von areté (Gutheit), die Römer von virtus (Mannhaftigkeit); das englische virtue und das französische vertu leiten sich davon ab. Das deutsche Wort Tugend hängt mit taugen zusammen; die Herkunft des Wortes erhellt die tiefere Wurzel der taugenden Tüchtigkeit. Fasst man nur diese drei Deutungen zusammen, so wird aus (guter) Tugend in der westlichen Philosophie ein tapferes und taugliches und daher auch gutes Verhalten. Tugend, das kaum mehr verwendete Wort, ist beinahe ein uncooles Unwort wie Gutmensch geworden. Der Universalgelehrte des griechischen Altertums, Aristoteles, hat die areté den wahren Weg zur eudaimonía genannt, ungenau meist mit Glückseligkeit übersetzt. Besser ist die wortgetreuere Übersetzung mit Erfülltheit von gutem Geist. Ein gutes Leben ist von einem guten und damit glückhaftem Geist erfüllt. In einer Zeit des Kampfes und der hervorragenden Kämpfer waren die nützlichen Fähigkeiten eines Kriegers „tugendhaft“. List, Kampfesstärke, Geschicklichkeit und eine (schwankende) Unterstützung der Besten durch miteinander verfeindete oder rivalisierende Götter zeichneten die Helden der Ilias und Odyssee, des Nibelungenlieds und vieler anderer Sagen aus. Auch in den Kriegen unserer Epoche gab es Helden, gute wie böse. Wenn an einem Krieg überhaupt etwas Gutes sein kann!

Ich glaube an das Gute im Menschen, Constanze, den überwiegenden Hang dazu in den meisten Menschen, den Ansatz zum Guten in fast allen. Mein Menschenbild ist positiv geblieben, trotz aller Attacken, die es aushalten musste. Alle Menschen haben meiner Meinung nach einen Funken des Guten in sich, der angefacht werden kann, am besten durch Vorleben.

Wir haben jetzt ausführlich und doch nicht intensiv genug über eine Kernfrage der Ethik gesprochen, Constanze. Die Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit, das Streben nach dem Guten in uns, ich halte das für wichtige Gedanken. Aber was nützen die besten Gedanken, wenn sie nicht zur Tat werden! Die schillernden Werte von wahr, gerecht und gut müssen nicht nur erkannt, sie müssen gelebt werden! Da werden wir nicht nur persönliche Erfolgsgeschichten erfahren, sondern auch Niederlagen und Enttäuschungen. Davon hat es auch in meinem Leben einige gegeben. Aber ich denke, du möchtest noch ein wenig mehr aus meiner Schulzeit hören. Einmal hast du mich schon gefragt, warum ich so gerne lese?

Jenes hügelige Sein

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