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KRIEG UND FRIEDEN WEIHNACHTEN 1943

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Als wir im letzten Frühling durch den Wald wanderten, den frühen Abend und die Stille dankbar genießend, da hast du plötzlich zu mir gesagt: Möchtest du mir nicht aus deinem Leben erzählen? Ich habe gezögert und dir geantwortet: Nicht jetzt, Constanze, aber vielleicht später. Dann, wenn ich die Zeit dazu gekommen sehe. Nun fühle ich, sie ist reif, und ich will deinen Wunsch erfüllen. Aber du weißt ja, ich rede manchmal zu viel, ich streue zu viel Spreu ins lockere Gespräch und fabuliere gerne über Gott und die Welt, wie man so sagt. Ich weiß, hast du geantwortet, aber ich möchte doch und gerne erfahren, was du erlebt hast, was du getan und wie du gedacht hast, was für dich wirklich wichtig war? So sind wir damals schweigend zurück ins Haus gegangen. Jetzt, im späten Herbst, sind die langen Abende gerade recht, um, wie Rilke so schön dichtete, lange Briefe zu schreiben – oder eben Geschichten darüber zu erzählen, was war und was bleibt. Ich will versuchen, Constanze, Erlebnisse und Gedanken im milden Licht des Abends so darzustellen, dass du sagst: Jetzt habe ich dich erst wirklich kennengelernt.

Der Anfang ist ernst und traurig, aber er war ungeheuer wichtig für den Eintritt in die Wirklichkeit der Welt. Diese furchtbare Ur-Erinnerung im Alter von drei Jahren hat mein späteres Leben wohl mehr beeinflusst, als mir selbst heute klar ist. Es war der Weihnachtsabend 1943, als mein Vater endgültig in einen Krieg hineingestoßen wurde, den er ablehnte, ebenso wie den „Führer“, der das neue an sich zweifelnde und politisch zerrissene Österreich erst kurz davor „heim ins Reich“ geholt hatte. Er musste einrücken und sich von seiner kleinen, jungen Familie verabschieden, mit der er so glücklich war. Ich erinnere mich lebhaft, dass er nicht und nicht zum Tor hinauswollte, lieber desertieren, sich verstecken, in den Widerstand gehen wie manche Verwandte von uns. Aber meine desperate Mutter, mit zwei Kleinkindern an der Kittelfalte, brachte ihn mit einem schluchzenden Satz von seinem Vorhaben ab, den ich mein Leben lang nicht vergessen kann: Du musst gehen, sonst bringen sie uns alle um! Also ging er. Traurig, gottergeben schloss er das Haustor hinter sich. Und kam nie wieder.

Meine Mutter hatte als Dienstmädchen in einem jüdischen Haus wenige Jahre davor erleben müssen, dass sich ihr Arbeitgeber aus Verzweiflung über den „Anschluss“ am Türstock erhängte. Und am Heiligen Abend 1943, Constanze, wurde eine unschuldige Familie ins Mark getroffen wie so viele andere und wurde eingefügt in dieses reale Bild der Hölle, die dieser „größte Feldherr aller Zeiten“ größenwahnsinnig als Höllenfürst befeuerte.

Mein Vater schrieb jeden Tag Feldpostbriefe voll Hoffnung und Flucht ins Alltägliche, aber mit dem Orgelpunkt einer tiefen Verzweiflung über den Wahnsinn des Krieges. Sein letzter Brief aus Odessa kam Ende August 1944 und enthielt ein kurzes Gedicht über den Soldatentod. Er, der Soldat wider Willen, kam als Kriegsgefangener auf einem Vernichtungsmarsch nach Sibirien um. Wir konnten nie herausfinden, wo und wie er starb, ob er begraben wurde, wo er Ruhe fand. Noch Jahre danach ging meine Mutter, immer wenn Züge mit Heimkehrern angekündigt wurden, zum damaligen Ostbahnhof in Wien, voll des Glaubens, ihren Mann und unseren Vater wieder in die Arme schließen zu können. Sie wartete vergeblich, opferte sich für meine jüngere Schwester Maria und mich auf und war ein Vorbild der selbstlosen Nächstenliebe.

Ich habe auch noch andere Erinnerungen an diesen Krieg. Je näher sein Ende kam, desto öfter kamen die Bomben. Wir waren immer wieder gezwungen, nach dem Alarm der Sirenen in den großen Luftschutzkeller des Wiener Rathauses zu rennen; meine Mutter mit dem Kinderwagen und meiner kleinen Schwester, ich verschreckt daneben her. Wirklich Angst hatte ich nur, als wir es einmal nicht mehr schaffen konnten und im Keller unseres Nachbarhauses eng aneinander gedrängt die Bomben ganz nahe pfeifen hörten. Und deren eine explodierte mit einem Riesenkrach. Das Gewölbe des Kellers bebte und schien einzubrechen; aber es war nur der Mörtel, der uns alle bedeckte, Gott sei Dank. Diese Bombe machte ein großes Wohnhaus ein paar Dutzend Meter von uns entfernt dem Erdboden gleich. Nach Kriegsende, auch daran erinnere ich mich noch, haben wir Kinder in diesem Trümmerhaufen gespielt. So war der Tod, so war das Leben, ganz nahe beisammen.

Wir verstehen heute, dass dieser Krieg gewissermaßen die Fortsetzung des Ersten Weltkrieges war, dessen Friedensverträge viele ungelöste Probleme, größte Anpassungsschwierigkeiten an die neuen Ordnungen und fundamentale Fehler in der Friedenspolitik zu einem explosiven Cocktail mischten. Lord Keynes, der berühmte englische Ökonom, warnte schon damals vor den Economic Consequences of the Peace, den untragbar großen wirtschaftlichen Lasten, welche die Sieger den Besiegten als Kriegsschuld aufluden. Philipp Blom hat Die zerrissenen Jahre. 1918–1938 einen instabilen, temporären Waffenstillstand genannt. Ich bin kein Historiker und kann dir keine Einzelheiten schildern, Constanze. Aber erinnert wurde ich an die weltweite Aufmerksamkeit, die das Jahr 1918 fand, nicht nur wegen der Feiern zum 100. Geburtstag der Republik Österreich am 12. November (1918 offiziell noch Deutsch- Österreich), sondern auch durch die würdige Begehung des Armistice Day in Neuseeland, wo wir uns damals gerade aufhielten. Neuseeland war die englische Kolonie, welche relativ zur Gesamtbevölkerung die meisten Gefallenen unter den Kriegsparteien zu beklagen hatte. Bis heute gedenkt dieses Land von fünf Millionen Einwohnern am ANZAC Day der Landung australischer und neuseeländischer Corps in Gallipoli, dessen Heldenlegenden sich tief ins nationale Gedächtnis eingegraben haben.

Dein Ur-Urgroßvater hieß Thompson, seine Familie war Mitte des 19. Jahrhunderts aus Irland nach Neuseeland gekommen, und er war – zumindest bevor er mich kennenlernte – den Deutschen und Österreichern gegenüber skeptisch eingestellt. Deine Großmutter hat ja Geschichte studiert, aber auch sie lernte die feinen Haarwurzeln des Ersten Weltkriegs erst im Lauf unserer Ehe richtig einschätzen. Das muss ich dir noch einmal sagen, obschon du es oft genug gehört hast – wie gekonnt und souverän sie ihre Rolle an meiner Seite gemeistert hat! Ihre Kenntnisse der europäischen politischen Geschichte sind sehr ausgewogen zwischen der Erziehung in ihrer angestammten und der Erfahrung in ihrer eingelebten Heimat. Wenn du mehr darüber wissen willst, wie diese Wurzeln des Krieges zu bewerten sind, so kannst du im Buch The Sleepwalkers von Christopher Clark eine großartige und spannende Analyse finden.

Meinen Vater kenne ich nur als eine schwankende Gestalt meiner Gefühle aus frühester Kindheit. Aber von all den Erlebnissen als kleiner Knabe mit ihm, die ich aus Erzählungen meiner Mutter kenne, möchte ich dir eines schildern: Meine Mutter hatte den zweijährigen Hansi zum Spaziergang mit dem Vati schön sauber herausgeputzt. Als wir wieder nach Hause kamen, war sie entsetzt. „Wie schaut denn der Bub aus?! Voll bespritzt mit Schlamm!“ Mein Vater antwortete ruhig: „Er wollte in der Pfütze im Park spielen und hat sich so gefreut, ich konnte ihm das nicht verbieten …“ Das sagt über den Charakter meines Vaters sehr viel aus, denke ich. Und ich stellte mir immer wieder vor, was geworden wäre, wenn ihn der Krieg verschont hätte. Aber ich denke auch an die Abermillionen Familien, denen es so oder noch schlimmer ergangen ist als uns. Und wenn ich dann den Sprung in die Gegenwart mache und bedenke, wie viel Krieg und Gewalt seither und bis heute in der Welt passiert ist und gerade passiert, dann – ja, es klingt krass – schäme ich mich fremd für die Menschheit. Sind die Menschen so schlecht, so dumm, so egoistisch, so gedankenlos, ich könnte mit dieser Suada an Schuldzuweisungen an unsere Art fortfahren, dass es ohne Krieg nicht geht!? Dass gar der Krieg als Mutter des Fortschritts oder kalte Dusche gegen die Hybris, wenn nicht geliebt, so im Prinzip doch geduldet werden kann? Oder gar als Mittel der Natur, ein Ungleichgewicht in der Welt zu beheben und einen Neuanfang zu erzwingen? Das sind krause Gedanken eines vorbehaltlosen Pazifisten, der ich durch den erlebten und erlittenen Krieg geworden bin. Glücklich und dankbar bin ich dafür, mehr als siebzig Jahre Frieden in Europa genossen zu haben. Aber deiner Generation muss man in Erinnerung rufen, Constanze, was ein Krieg hautnah bedeutet, damit auch ihr den Frieden schätzen lernt und bereit seid, ihn zu schützen und um ihn zu ringen um jeden Preis!

Was ich dir über den Krieg erzählt habe, hat mich für das ganze Leben eingestimmt. Dieses frühe Erlebnis des Krieges und sein gesamtes Umfeld kann man vielleicht den Kammerton nennen, nach dem sich die orchestrierte Stimmung meines Lebens richtete. Ich war ab da ein Gegner von Krieg und Gewalt; ich sah, was dieser Krieg meiner Mutter abverlangte, die viele Jahre lang hoffte und betete, dass unser geliebter Vater doch noch am Leben wäre. Ich glaube auch, dass ich damals eine Art innere Rüstung anlegte, um mich selbst zu schützen, aber auch, um andere besser zu verteidigen. Vielleicht habe ich auch geahnt, dass ein solches Trauma der Kindheit einen abwehrenden Panzer braucht, will man nicht lebenslang verletzt und verletzbar bleiben. Mit dieser harten Schale ist auch die Abscheu vor der großen Ungerechtigkeit dieses Krieges mitgewachsen. Und damit wohl auch das Empfinden für Gerechtigkeit entstanden, das für mich ein wichtiger Wegweiser geworden ist. Die Suche nach der gerechten Sache, der gerechten Handlung, der gerechten Gesinnung hat mich durch jenes hügelige Sein des Lebens geleitet. Die lebenslange Suche nach dem Wesentlichen, der Wahrheit und der Gerechtigkeit wurde mein charakterlicher Leitstern.

Jenes hügelige Sein

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