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GERECHTE POLITIK?

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Vor rund zweieinhalbtausend Jahren hat der Denker und Lehrer Platon mit Der Staat (Politeia) einen philosophischen Markstein gesetzt; im Untertitel heißt diese Schrift Über das Gerechte. Es lohnt sich, über ihre vielleicht bekannteste Aussage zur politischen Gerechtigkeit nachzudenken: Die Könige sollten Philosophen oder die Philosophen sollten Könige sein, damit der Staat gerecht und daher gut regiert werde. Du fragst mich natürlich zurecht, Constanze, wieso die Regierenden oder im weiteren Sinn die führenden Eliten gerade den esoterischen Touch der Philosophen haben sollten? Wären da nicht ganz andere Eigenschaften notwendig, um ein Staatswesen gut zu lenken oder wichtige gesellschaftliche Aufgaben erfolgreich zu erfüllen? Nun, Platon meint, nur die Philosophen könnten die Wahrheit finden, weil das ja ihre Berufung sei, den Dingen auf den Grund zu gehen. Und die Wahrheit sei die Mutter der Gerechtigkeit, sie solle das Szepter der Macht in Händen halten. Ist diese Vorstellung nicht total weltfremd, wirst du fragen? Ja, in der bisherigen Geschichte der Menschheit schon, denn die große Welt und ihre vielen kleinen Abbilder und Probebühnen in unser aller Leben werden von Streit um Macht und Besitz entstellt.

Der klarste Widerspruch zu dieser Meinung Platons kommt von einem ebenso großen Geist, denke ich, nämlich Immanuel Kant. Macht, schreibt er, würde die Vernunft stören, sie also nicht mehr rein sein lassen. Daher wäre es gar nicht wünschenswert, wenn Könige auch die Gerechtigkeit und Wahrheit als Philosophen kontrollierten. Sehr weitblickende Gedanken aus Kants Essay Zum ewigen Frieden! Darum greifen Tyrannen ja seit eh und je ungeniert nach der Macht über die Meinung! Wir können das heute in Amerika deutlich sehen, wo die Fake News eine Fake Reality zu schaffen trachten und damit ziemlich erfolgreich waren und sind. Der Hauptdarsteller Trump hat seit Amtsantritt in steigendem Ausmaß gelogen und bis Mitte 2020 viele tausende Fehl- und Falschaussagen auf dem Gewissen. Autokratenlehrlinge wollen auf dem Weg zur Herrschaft die im Weg stehende Wahrheit kontrollieren.

Nach langem Zögern wurde es den Demokraten zu viel, und sie leiteten das Impeachment des Präsidenten ein, das Amtsenthebungsverfahren zum Schutz der Verfassung gegen undemokratische Akte des Präsidenten. Die zwei formellen Anklagepunkte der demokratischen Mehrheitspartei im Repräsentantenhaus waren: Erpressung einer ausländischen Macht (Ukraine) zur Schädigung eines politischen Konkurrenten (Joe Biden) sowie bewusste Missachtung von Beschlüssen des Kongresses. Das „Vorspiel“ dazu war die Untersuchung einer möglichen russischen Beeinflussung der Präsidentenwahlen 2016. Der Special Counsel Robert F. Mueller III. deckte die unglaublichsten Vorkommnisse von kriminellen Attacken gegen Recht und Staat auf, die nach gängiger Rechtsauffassung Hochverrat wären. Aber dem geübten Entfesselungskünstler gelang es, die Anschuldigungen zu verkehren, seine Anhänger zu betören und seine Ankläger zu verstören. Der Versuch, den Präsidenten abzusetzen, scheiterte knapp an der starken Hand des Senatspräsidenten und dem biegsamen Gewissen der republikanischen Senatoren – mit Ausnahme des Mormonen Mitt Romney. Er hatte zur Jahreswende 2018/19 einen Beitrag in der New York Times verfasst, in dem er konstatierte, Trump „has not risen to the mantle of the office“, er sei der Würde dieses Amtes nicht gewachsen. Und stimmte als einziger Republikaner für das Impeachment.

Manchmal gewinnt man aus dieser Entwicklung den Eindruck, Constanze, Trump möchte es Putin gleichtun und Herrscher auf immer als Begründer einer Dynastie sein. Wir können nur darauf hoffen, dass Mitch McConnell – der die Einvernahme von Zeugen in der Verhandlung über die Amtsenthebung verhinderte und diese zur Farce degradierte – seine Mehrheit von Mitläufern verliert.

Glücklicherweise gibt es in diesem ideell gespaltenen Land auch freie und mutige Medien, die sich dieser Entwicklung beharrlich entgegenstemmen, auch wenn sie noch so oft als Feinde der Demokratie (!) beschimpft werden. Auf ihnen lastete es, das Impeachment so darzustellen, wie es wirklich war, worum es da tatsächlich ging: um die Grundfesten des politischen Hauses Amerika, um seine Verfassung und deren zentrale Frage nach der Sicherung des Rechtsstaats vor den Übergriffen der Macht. Der französische Historiker Alexis de Tocqueville bereiste Anfang des 19. Jahrhundert die junge Republik der 25 noch nicht vereinigten Staaten. Seine Studie Über die Demokratie in Amerika ist eine weit vorausblickende Beurteilung der Gefahren, welche die Demokratie bedrohen; aber auch Beschreibung der vorbildlichen von Bürgern getragenen privaten Initiativen als Urbild der modernen Zivilgesellschaft. Gar herrlich weit hat es das große Vorbild gebracht!

Die neuseeländische Zeitschrift Listener zeigte auf ihrem Titelblatt Anfang 2019 das Bild Donald Trumps als Westernheld mit dem im Wilden Westen seinerzeit gebräuchlichen Fahndungsplakat und der Aufschrift: WANTED for Crimes against Democracy. Wie kann ein Land wie Amerika von einem „narzisstischen Psychopathen“ – so der Befund einschlägig tätiger amerikanischer Ärzte – derartig in Geiselhaft genommen werden und zulassen, dass aus der Führungsmacht des Westens ein großes Sorgenkind der einst von ihr Behüteten wurde? Und viele Amerikaner selbst sagen Schlimmeres, da ist Lachnummer noch schmeichelhaft.

Apropos Lachnummer. Die amerikanischen Politshows haben mit zahlreichen Veräppelungen Trumps ihre Zuschauer zu schallendem Gelächter gebracht. Ich hätte eine für intellektuelle Musikfreunde parat. Das interessiert dich? Dann gebe ich dir eine Variante der Wirtshausszene im 3. Akt des Rosenkavalier von Richard Strauss mit dem wunderbaren Text Hugo von Hofmannsthals zum Besten: Der als Mariandl verkleidete Oktavian hat eine grobe Störung des Schäferstündchens ausgeheckt, das sich der Ochs auf Lerchenau mit „ihr“ erwartet. Unter grellen Dissonanzen, die plötzlich in die lyrische Melodik der Musik hereinbrechen, erscheinen aus Fenstern und Vorhängen (in der Jahrhundert-Inszenierung unseres genialen Otto Schenk) Fratzen und Masken. (Donald) Ochs muss schließlich die Wirklichkeit zur Kenntnis nehmen. Das Mariandl (Pelosi) hat ihn ausgetrickst, seine Geldheirat mit Sophie (America) ist geplatzt, er muss sich „retirieren“. Jetzt können wir wieder lachen, gell? Aber das war nur ein Traum, oder, wie es im Original treffend heißt, eine Farce. Noch wird der Wähler im November 2020 das letzte Wort haben, ob es Traum oder Wirklichkeit war …

Wenn wir von Wahrheit reden, fällt mir spontan ein großer dänischer Wissenschaftler des 20. Jahrhunderts ein, der eigentlich durch seinen Beitrag zur Atomwissenschaft berühmt wurde, aber auch einer war, der die Weisheit liebte: Das Gegenteil einer großen Wahrheit, sagte Niels Bohr, kann wieder eine große Wahrheit sein. Gerade in der Politik können Freiheit und Gerechtigkeit, das ständig präsente Power Couple, als Leerformel mit allen möglichen Inhalten unguter Provenienz gefüllt werden! Die eine und einigende Idee der Wahrheit wird die Menschheit leider ewig suchen und nicht finden, genau so wenig wie die eine verbindende Idee der Gerechtigkeit. Aber die wirklich große, geradezu herkuleische Aufgabe guter Politik ist ein ständiger Dialog in gutem Glauben. Weißt du, wie ich Dialog gerne übersetze, Constanze? Diese Kombination von diá (in diesem Fall etwa hin und her) und logos (mehr als Wort, auch Vernunft und Sinn) ist: Der Austausch von Vernunft und Sinn! Dieser Denkansatz fordert viel von jedem von uns. Streng durchdacht, kann man die Brücke zwischen Ungerechtigkeit und Gerechtigkeit nur so nennen oder gar betreten: zum Dialog in gutem Glauben. Sich in die Haut oder, besser, die Gehirnwindungen des Gegenübers zu versetzen, ist kein Spaziergang im Park. Es erfordert zähe und zähmende Arbeit an den vielen kleinen Ichs, welche unser großes Wir behindern, es fesseln wie böse Liliputaner einen guten Gulliver. Ein gerechter Staat als Ergebnis gerechter Politik kann nur einer sein, der diese Wahrheit für möglichst viele als „Mantra“ immer wieder in ehrlicher Auseinandersetzung sucht. Das setzt voraus, dass die Eliten der Politik Menschen sind, die sich selbst diesem Prozess der Wahrheitsfindung stellen. Das ist nicht leicht, wusste Karl Popper, es geht nur in vielen kleinen Schritten, die er piecemeal engineering nannte. Mit anderen Worten, es hängt wieder an uns allen, den Bürgerinnen und Bürgern, für die uns gerechte Politik mit noch so viel kleinen Schritten ständig wachsam zu sorgen!

Jenes hügelige Sein

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