Читать книгу Jenes hügelige Sein - Hans Haumer - Страница 14

LOGIK DES HERZENS

Оглавление

Meine Leselust war groß und ist es bis heute geblieben. Das fing schon in der Volksschule an, mit Karl May. Die ersten Helden des Guten, denen ich mit sieben oder acht begegnete, waren Winnetou und Old Shatterhand alias Kara Ben Nemsi (das war doch die arabische Version seines Namens, der deutsche Karl, nicht wahr?) und sein Begleiter Hadschi Halef Omar, den Kara Ben Nemsi letztendlich zum Christentum bekehrt, wie dann auch den sterbenden Winnetou. Ich kletterte langsam die Bücherleiter hinauf und entdeckte ständig Neues.

Schon in der ersten Klasse Gymnasium lehrte uns Richard Bamberger die Liebe zum Lesen. Er war unser Deutschprofessor, nebenbei Generalsekretär des Buchclubs der Jugend, und schleppte jeden Samstag einen Stoß Bücher in die Klasse, hinter dem der kleinwüchsige Mann fast verschwand. Wir sollten sie nach Gusto lesen und bei der Rückgabe in wenigen Sätzen den Inhalt zusammenfassen. So brachte er uns die Bücher als unsere Freunde nahe und machte viele von uns zu Leseratten, wie man damals sagte. Es gab ja weder Fernsehen noch Facebook, wir konnten nicht googeln, sondern bestenfalls im Lexikon nachlesen. Die Küche des Wissens war immer noch in erster Linie unser eigenes Gedächtnis, nicht das Blättern im iPhone. Bis heute bin ich dem Motto treu, Reads statt Tweets, wenn man es so salopp sagen kann. Oh, du sollst jetzt nicht glauben, dass ich gegen dein Handy oder meinen Laptop antrete! Ich meine nur, dass man heute viel Kraft braucht, um sich das eigenständige Denken zu bewahren und die notwendige Zeit zum Nachdenken nicht stehlen zu lassen. In der Ruhe liegt die Kraft, das ist eine der östlichen Weisheiten, die ich verinnerlichte und bis heute zu beachten versuche. In das Denken Ruhe zu bringen, ist ein wichtiger Beitrag zur Kraft, die du zum Leben brauchst!

Der Reichtum im geschriebenen Wort der Weltliteratur ist unerschöpflich, und in einem Menschenleben ist nur Zeit für einen kleinen Schritt auf der Suche nach immer neuen Schätzen. Was die Kunst der Worte vermitteln kann, ist nicht nur Wissen. Es ist Gefühl, individuelle Gefühlslogik. Das ist nicht die strenge Logik eines Aristoteles oder eines Wittgenstein. Es ist eine, die runder und weiter ist als die des Verstandes und der Vernunft. Es ist eine Logik des Herzens. Von Blaise Pascal stammt der Satz: „Le coeur a des raisons que la raison ne connait point.“ Man kann das nicht so wortspielerisch übersetzen, wie es im Original klingt, aber du verstehst: Das Herz hat Gründe, welche die Vernunft nicht kennt. Jetzt betreten wir den Tempel der Gefühle, Constanze, und verharren zunächst in schweigender Nachdenklichkeit.

Es gibt außergewöhnliche Destillate des menschlichen Geistes, die mehr noch als Wissen und Weisheit enthalten. Einer der großen Sätze der menschlichen Kultur ist dieser:

Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer

und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht,

je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit

beschäftigt. Der bestirnte Himmel über mir und das

moralische Gesetz in mir. Ich sehe sie beide vor mir

und verknüpfe sie unmittelbar mit dem Bewusstsein

meiner Existenz.

Geschrieben hat dies einer der großen Denker der Aufklärung, der Philosoph Immanuel Kant als die summa seiner Kritik der praktischen Vernunft. Um wirklich zu wissen, was ein tiefer Blick in den bestirnten Himmel im Innersten bedeuten und auch bewegen kann, solltest du einmal in einer sternklaren Nacht den Himmel betrachten und dich hinaustragen lassen in die unendliche Ewigkeit des Universums – und dabei das eigene Herz schlagen hören. Ich habe dieses Gefühl einer gewaltigen überirdischen Ordnung, eines Kosmos, der die Welt des Ich mit dem Universum verknüpft, in einer Winternacht in den Bergen empfunden. Damals war ich noch etwas jünger als du heute, scheu verliebt in ein Mädchen unserer Gruppe von Schisportlern, also richtig eingestimmt auf große Gefühle. Die unvorstellbare Ferne der Milchstraße ist mir bewusst geworden, aber ich kann sie bis heute nicht begreifen, nur bewundern. Dabei ist unsere Galaxie nur eine von unendlich vielen! Heute sagen uns die Astronomen, sie wüssten nicht genau, wie viel Sternlein am Himmelszelt stehen. In unserer benachbarten Galaxie, der Milchstraße, sind es schätzungsweise um die 200 Milliarden. Im ganzen Universum möglicherweise 10 Trilliarden (als Mathematikerin wird dir 10 hoch 22 mehr sagen), die in geschätzten tausend oder mehr Milliarden von Galaxien verteilt strahlten und strahlen. Und das wissen wir Menschen oder ahnen es, und können wieder nur staunen und staunen und wieder staunen über dieses Geheimnis des Menschen auf der winzigen Erde inmitten dieser riesigen noch kaum erforschten Unendlichkeit?!

Hast du übrigens gewusst, dass die Überlegungen Kants schon in den Upanischaden (den gehörten Überlieferungen) des alten Indien Eckpunkte des Welt- und Menschenbildes waren? Die höchste Wirklichkeit des Universums, der Urgrund von allem (Brahman) und das Innerste des Menschen, die ewige Seele (Atman), hingen engstens zusammen als Weltgeist und Selbst. Und auch die alten Chinesen kannten mit der aus Tibet kommenden Idee des Tao den Weg (des Lebens), der gleichzeitig das Ziel ist. Gemeinsam mit dem Konfuzianismus, dessen Tugendlehre jener der Griechen ähnelt, formte der Taoismus über Jahrtausende die asiatische Seele mit ihrer Passivität und Gelassenheit gegenüber der Welt, die wir heute meist mit den Lehren Buddhas verbinden. Aber auch das ändert sich, wenn wir das moderne Asien betrachten. Auch dort werden alte Traditionen genau wie bei uns von der modernen Zivilisation ab- und allmählich aufgelöst.

Die Idee der Weltseele erlebt eine erstaunliche Wiederkehr, wie Eduard Kaeser in einem kleinen Essay in der Neuen Zürcher Zeitung ausführt. Er sieht die Ursache dafür in einem wachsenden Bedürfnis nach metaphysischem Trost; da kann ich ihm nur beipflichten. Neu ist das ja nicht, denk an die jahrtausendealten Religionen, die sich alle in verschiedenen Bildern mit diesem Urwunsch des Menschen nach sicherem Wissen und Geborgenheit, gerne würde ich hinzufügen nach Weltvertrauen, sehnen. Jetzt entdeckt man den Panpsychismus: Seele ist überall. So wie der Pantheismus sagt: Gott ist in allem. „Eine Welt, die von einer Seele durchwirkt und durchweht wird, spendet existenzielles Grundvertrauen, das Gefühl eines Zuhauseseins“ (Eduard Kaeser). Und was sagt Hariri dazu? Die Wissenschaft tendiert immer mehr zu einer einheitlichen Auffassung: Das Leben ist (nichts als) Datenverarbeitung. Diesen interessanten Satz werden wir später nochmals aufgreifen, Constanze.

Die Welt begreifen heißt für mich zunächst, die persönliche innere Wirklichkeit ordnen. Ich würde noch lieber sagen: der inneren Wirklichkeit die rechte Logik des Herzens lehren. In der chinesischen Philosophie jener (von Karl Jaspers) so genannten Achsenzeit vor zweieinhalbtausend Jahren wurde die Grundfrage nach dem Ursprung des Seins mit der Rätselfrage nach dem Tao beantwortet. Die Menschen sollten einfach leben und auf das Tao vertrauen. Dieses sei der Weg und das Ziel ihrer sittlichen Vervollkommnung und gleichzeitig die Urkraft des Universums. Glück erreiche ein Mensch, wenn er sich frei macht von Ruhmsucht, Egoismus und Gewalt. Und es ist der ewige Austausch zwischen dem Licht, der gestaltenden Kraft des Yang, und dem Dunkel, der erhaltenden Macht des Yin, dem sich der Mensch fügen müsse.

Ich möchte gerne mit dir dieses Gefühl der Unerklärlichkeit des Seins teilen, Constanze, wie sie in vielen Sprüchen des Tao te king (Buch vom Sinn und Leben) oder des I Ging (Buch der Wandlungen) – zwei wichtige schriftliche Quellen aus der Frühzeit dieser transzendenten Philosophie – zum enigmatischen Ausdruck kommt. So höre:

Nichts auf der Welt ist so weich

und so formbar wie das Wasser.

Beim Angriff auf das Harte und das Starre

ist dennoch nichts so überlegen.

Wegen dessen, was es nicht ist, wird ihm dieses leicht.

Das Weiche überwindet das Harte,

das Biegsame überwindet das Starre.

Niemand auf der Welt ist ohne dieses Wissen

und niemand vermag es anzuwenden.

In diesem berühmten 78. Spruch des Tao te king wird klar, dass die Gegensätze nur Schein und nicht Sein sind. Alles hängt mit allem zusammen. Und nur die Zeit macht den Unterschied, ob Wasser dem Stein ausweichen muss oder ob der stete Tropfen den Stein höhlt. So sollten wir auch die Welt verstehen: Sie funktioniert, wie ich schon von Gut und Böse sagte, als Ergebnis ewiger Gegensätze, die in immerwährendem Zusammenhang stehen! Denn aus diesem Krieg und Frieden zwischen Yin und Yang entsteht die Lebensenergie Ch’i.

Der Taoismus glaubt an die moralische Beeinflussbarkeit des Menschen und ist in dieser Hinsicht dem christlichen Denken sehr verwandt. Eines seiner Gebote heißt: Behandle den Guten gut, behandle aber auch den nicht Guten gut, und so erlangt er Güte. Behandle den Wahrhaftigen wahrhaftig und den nicht Wahrhaftigen auch wahrhaftig, und so erlangt er Wahrhaftigkeit. Wir fühlen uns an die Bibel erinnert, in der nicht nur ein ähnliches Gebot der Nächstenliebe verkündet, sondern auch die Bereitschaft verlangt wird, die linke Backe hinzuhalten, wenn die rechte geschlagen wurde. Eine äußerst unangenehme moralische Forderung! Aber die Lehren der Ethik und Moral sind ja keine Beschreibung des Seins, sondern eine des Sollens. Ich möchte dir eines mitgeben, Constanze, neben dem Wissen, seinem Erwerb und seiner Verwendung muss auch der Charakter gebildet werden. Und der folgt den Gefühlen mehr als dem Verstand. Also muss man auch dem Gefühl ein gewisses Wertekorsett anbieten, das uns in einem bewegten Leben Halt geben kann. Das ist letztlich die Logik des Herzens, die mehr verstehen kann als der Verstand. Entwickle sie und vertrau ihr!

Jenes hügelige Sein

Подняться наверх