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Müde Sonnenstrahlen krochen durch das blitzblanke Treppenhausfenster. Vereinzelt klatschten dicke Regentropfen auf den Sims. Akkermann lehnte sich gegen das Geländer. Regina Lindner war gegen viertel vor elf nach Hause gekommen, anschließend hatte sie geduscht. Dann ging sie in den Keller. Warum?

Polizeiobermeister Wolz tippte mit dem Finger auf seinen Notizblock. »Ich komme gerade aus der Wohnung unter der Toten. Martin Straub, Versicherungsmathematiker, arbeitslos, war gestern im Kino, wie Regina Lindner, aber nicht im selben, sagt er.«

Akkermann nickte beiläufig.

»Seine Frau Karin ist Übersetzerin für Englisch, arbeitet halbtags beim Mahle.«

»Was Technisches?«

»Eigentlich ein Sekretärinnenposten.«

»Hat sie das so gesagt?«

Wolz nahm sein Buch zur Hilfe. »›Ein Sekretärinnenposten‹, genau das hat sie gesagt.«

»Und wie hat sie es gesagt?«

Sie gingen die Treppe hinunter.

»Wie man etwas beschreibt, das so ist, wie es ist. Können nicht alle Shakespeare übersetzen.«

»Nein.«

Wolz klappte sein Notizbuch zu. »Gehört haben sie angeblich nichts.«

Akkermann legte seine Hand auf Wolz’ Schulter. »Diese Frau Pezic erwähnte noch jemanden, der gestern im Keller war.«

»Kaluza?«

»Ja, so heißt er wohl. Kaluza. Der Mann von der Pezic hat diesen Zettel angebracht mit den Energiespartipps, wussten Sie das?«

Wolz schüttelte den Kopf. Er wollte gerade sein Notizbuch aufschlagen, als er den Beamten von der Spurensicherung Platz machen musste.

»Noch etwas«, sagte Akkermann, »die sollen einen Abdruck vom Klingelknopf machen. Kümmern Sie sich drum?« Wolz nickte und ging wieder die Treppe hinauf.

Es waren nur noch vier Stufen bis zur zweiten Etage. Akkermann musste sich bücken, um das Namensschild entziffern zu können. Es bestand aus einem mit Schreibmaschine getippten Papierstreifen, der hinter einem Tesastreifen in Höhe der Türklinke klebte.

Er drückte auf den Klingelknopf. Die Glocke antwortet mit einem lauten Schnarren. Der Mann, der ihm öffnete, suchte mit einer langsamen Kopfdrehung die Fußmatte ab. Dann riss er erstaunt den Kopf hoch. Wässrige Augen starrten ihn hinter dicken Brillengläsern an.

»Herr Kaluza?« Akkermann zeigte ihm seinen Dienstausweis. »Akkermann, Mordkommission«, fügte er hinzu. Mit einer schnellen Bewegung riss der Mann seine Hand zum Kopf und ließ die Finger über eine lange Haarsträhne tänzeln, die sorgfältig von einem tief sitzenden Seitenscheitel aus über den runden Schädel gekämmt war. Der Mann schwitzte stark. Er nickte kurz.

»Ich darf reinkommen«, stellte Akkermann fest. Er betrat einen langen Korridor, von dem geradeaus eine Tür in das Schlafzimmer führte. Rechts daneben war das Wohnzimmer. Gleich links hinter dem Eingang ging es in die Küche. Hinter der Tür befand sich der Küchenschrank. Die linke Schranktür war offen. In dem Fach standen einige Weingläser. Davor lag ein Stapel Briefe. An der Wand gegenüber der Küchentür war ein Fenster. Es führte zum Hof. Auf dem Tisch vor dem Fenster stand eine schmutzige Kaffeemaschine. Neben der Küche war das separate WC, dahinter das Badezimmer.

Auf der rechten Seite befand sich ein verdunkelter Raum, der wahrscheinlich als Kinderzimmer gedacht war. Die Tür war halb geöffnet. Vor dem Fenster stand ein abgewetzter Schreibtisch mit einem Computermonitor und einem Drucker. Akkermann ging direkt ins Wohnzimmer. Hinter sich hörte er, wie Kaluza die Wohnungstür schloss und bemüht war, ihm zu folgen. Im Wohnzimmer standen eine Schlafcouch, ein Sessel und eine Schrankwand mit einem Fernseher. Auf der Couch lag eine mehrfach gefaltete, abgenutzte Wolldecke. Die Mitte des Raumes war von einem schmutzigen Teppich bedeckt. An der Decke hing ein mehrflammiger Leuchter, in dem nur zwei Birnen steckten. Vor der Schlafcouch stand ein niedriger Tisch. Auf ihm lagen einige Kreuzworträtselhefte, eine angebrochene Schachtel Schmerztabletten, Fernbedienung, TV-Zeitschrift, mehrere Scheiben Wurst und ein Kerzenständer mit zwei Kerzen. An den dünnen Tischbeinen lehnte eine unverschlossene Aktentasche, in der ein paar Hefte steckten. Das Zimmer roch leicht nach Urin.

Akkermann setzte sich in den Sessel. »Sie wissen, warum ich hier bin?«

Kaluza drückte die knöchernen Schultern durch das verschwitzte Hemd. »Frau Lindner?«

Akkermann nickte.

»Sie suchen ihren Mörder?« Kaluza drehte sich um und schloss die Schlafzimmertür. »Wenn ich helfen kann?« Er setzte sich auf die Couch, dort, wo die Decke lag.

»Das können Sie sicher.« Akkermann senkte die Stimme. »Sie heißen Kaluza.«

»Kurt Kaluza, ja.«

»Geboren?«

»1938. In Königsberg.

Kerzengerade, die Hände auf das Polster gestützt, beobachtet er Akkermann. Die dünnen, feuchten Lippen schienen zu einem spöttischen Grinsen gespitzt. Akkermann sah, wie dahinter die Zähne mahlten.

»Sie beziehen Rente?«

»Ja.«

»Vorher waren Sie –.«

Kaluza zeigte sein ganzes Gebiss. Der rechte obere Schneidezahn fehlte. »Beim Amerikaner!«

Akkermann hob die Augenbrauen. Kaluza lächelte. Kleine, spitze, braungelbe Zähne stachen zwischen den Lippen hervor. »Zivilangestellter«, sagte Kaluza, »ich habe im Kartenraum gearbeitet. Wie in der Schule, wissen Sie?«

Akkermann hatte das Gefühl, das es vermehrt nach Urin roch. Er versuchte, so wenig Platz auf dem Sessel einzunehmen, wie möglich. Plötzlich sprang Kaluza auf.

»Darf ich Ihnen was zu trinken anbieten? Vielleicht einen Kaffee oder ein Wasser?«

»Ein Wasser wäre gut. Es ist doch immer noch sehr schwül.«

»Ja, der Regen bringt kaum Abkühlung.« Er stand auf und ging zur Tür. »Ein Wasser, wäre das Recht?«

»Gerne.«

Kaluza war ins Bad gegangen. Kurz darauf rauschte die Toilettenspülung. Als er Kaluza in der Küche lärmen hörte, griff er unter den Tisch und zog die Aktentasche hervor. Sie enthielt eine Vielzahl pornografischer Hefte und Briefe.

»Mit Zitrone?«, rief Kaluza.

»Gerne!«

Bevor Kaluza mit einem Tablett und zwei Gläsern hereinkam, war die Aktentasche wieder an ihrem Platz. Akkermann ging ihm entgegen.

»Behalten Sie doch Platz«, bat ihn Kaluza.

Er nahm ein Glas von dem Tablett und stellte es auf den Tisch. »Wann haben Sie Regina Lindner zuletzt gesehen?«

»Regina?« Kaluza stellte das Tablett ab. »Ich wusste nicht, dass sie Regina hieß. Sehen Sie, Herr Kommissar, so wenig kannte man sich.«

Akkermann setze ein geschäftsmäßiges Lächeln auf. »Regina Lindner«, sagte er, »wann haben Sie sie zuletzt gesehen?«

»Gestern Abend.«

»Wann genau?«

»So gegen halb elf. Ich wollte gerade in den Keller gehen.«

»Um halb elf?«

»Ich wollte eine Flasche Wein holen. Wissen Sie, wann trinkt man schon mal ein Glas Wein. Den hat man nicht oben. Außerdem ist es ein spezieller Diabetikerwein.«

»Wo ist die Flasche jetzt?«

»In der Küche, glaube ich. Warten Sie, ich kann sie holen.« Er ging, sich immer wieder umschauend, zur Tür. »Interessiert Sie die Marke? Ich meine, er ist schon süß. Nicht, dass sie denken, man könnte ihn nicht trinken. Man bekommt ihn aber nicht überall. Ich lasse ihn mir schicken.«

Akkermann starrte das Wasserglas an. Es sah aus, als hätte jemand jahrelang Tee daraus getrunken.

Kaluza war schnell wieder zurück. Er lächelte verlegen und stellte eine gelbe Plastikzitrone auf das Tablett. »Die Zitrone«, sagte er, »ich hätte sie beinahe vergessen. Nehmen Sie sich selbst?«

»Danke, danke. Ist das die Flasche? Sie ist leer.«

»Ja, tatsächlich. Es ist ein französischer Wein, wissen Sie?«

»Haben Sie die Flasche alleine ausgetrunken?«

Kaluza zögerte. »Ja.«

»Bevor oder nachdem Sie Frau Lindner gesehen hatten?«

»Hinterher, ich sagte es schon. Ich habe sie auch nur ganz kurz gesehen. Sie war gerade nach Hause gekommen. Es regnete, wissen Sie. Sie war ganz nass. Sie hatte es eilig. Sie war ja auch ganz nass.«

»Sonst ist ihnen nichts aufgefallen?«

»Nein. Sie ist dann die Treppe hinaufgegangen. Nein, aufgefallen ist mir nichts. Das Kleid, das klebte richtig an ihr, wissen Sie?« Er zeigte seine spitzen Zähne und stellte die Plastikzitrone neben Akkermanns Glas. »Nehmen Sie!«

»Dann haben Sie den Wein geholt. Das dauerte nicht lange.«

Kaluza nickte. »Ich habe nur die eine Sorte.«

»Und die steht griffbereit.«

Kaluza runzelte die Stirn. »In einem Regal, ja.«

»Sie sind dann wieder in Ihre Wohnung und haben den Wein getrunken. Die ganze Flasche. Wie lange hat das gedauert?«

»Das muss gegen halb zwei gewesen sein. Ich habe noch einen Film gesehen. Aber die genaue Zeit?« Er hob entschuldigend die Schultern.

»Welchen Film haben Sie gesehen?«

»Da muss ich schauen.« Er blätterte in der Fernsehzeitschrift und schob sie dann Akkermann rüber. Mit einem scharfkantigen, schmutzigen Fingernagel tippte er auf eine Programmspalte. »Hier.«

Akkermann nickte.

»Natürlich, ich bin dabei eingeschlafen.«

»Haben Sie sonst noch etwas gesehen oder gehört?«

»Außer dem Film?«

»Nicht den Film. Irgendwelche Personen.«

»Nein, nur die Frau Pezic, aber die wohnt ja hier. Sie kam gerade in den Keller, als ich wieder hinauf wollte. Sie hatte einen Wäschekorb in der Hand. Ja, und dann habe ich noch Herrn Straub gesehen.« Er rieb sich die Stirn. »Der war wohl auch gerade nach Hause gekommen. Sein Anzug war ganz fleckig.«

»Vom Regen.«

Er nickte. »Wir sind zusammen hochgegangen.«

»Woher wissen Sie, dass er gerade nach Hause gekommen war?«

»Ich hörte, wie er mit Frau Pezic sprach.«

Akkermann erhob sich. »Frau Lindner haben Sie dann nicht mehr gesehen?«

»Nein, ich bin gar nicht mehr raus.«

»Sonst ist Ihnen nichts aufgefallen? Denken Sie nach.«

»Nein, das heißt doch. Warten Sie. Sie hatte keine Schuhe an. Ja, Frau Lindner war barfuß.«

»Keine Schuhe? Das fanden Sie nicht merkwürdig?«

»Nun, jetzt, wo Sie das sagen?« Er lächelte ihn hilflos an. »Vielleicht waren sie in dem Rucksack. Sie hatte so einen kleinen Rucksack dabei. Einen für die Stadt, nicht zum Wandern. Vielleicht waren die Schuhe dort drin. Dass sie nicht nass werden.«

Mit einer flüchtigen Handbewegung hieß er Akkermann endlich auszutrinken. Er selbst knabberte gedankenverloren an dem Rand seines Glases.

Hinter den vergrauten Gardinen hing ein regennasser Himmel, der jegliche Farbe aus den gegenüberliegenden Häuserreihen gewaschen hatte. Hier drinnen war es nicht viel freundlicher. Akkermann kratzte mit dem Handrücken über das unrasierte Kinn. Diesem Mann mit der lächerlichen Frisur, den Pornoheften und einem Sexfilm als Alibi wären zehn Morde zuzutrauen. Halb Stuttgart dann aber auch.

Kaluza schien sein Schweigen als das Ende des Verhörs zu begreifen. Er stützte sich mit beiden Händen auf dem Couchtisch ab und erhob sich.

»Sehen Sie, jetzt konnte ich Ihnen doch noch helfen.« Er klopfte mit dem Zeigefinger gegen die Stirn. »Die Schuhe, wer hätte das gedacht. Darauf muss man erst einmal kommen.« Er schüttelte den Kopf. »Die Schuhe! Achtet man auf so was?«

Akkermann hob die Schultern. Langsam ging er zur Wohnungstür. Zwischen Bad- und WC-Tür stand ein schmaler Schrank mit dem Telefon. Auch bei Regina Lindner war an der gleichen Stelle ein ähnlicher Schrank. Helle Kiefer mit auffälligen Astlöchern. Dieser war aus Buchenfurnier. Er war sich jetzt sicher, dass sich in jeder Wohnung an dieser Stelle ein solcher Schrank befand. An den Wänden hingen in loser Reihenfolge verstaubte Wechselrahmen mit Gesichtern von asiatischen Mädchen, dazwischen waren zwei Vulkanbilder und eine knallbunte Zeichnung mit einem rot-weißen Ballon und pummeligen Menschen in einer Fantasielandschaft — alles Titelbilder einer TV-Beilage der Stuttgarter Zeitung. Er hatte die Reisereportagen immer gerne angeschaut. Irgendwann gab es die Zeitschrift nicht mehr. Er hatte nie gefragt, warum.

Als er vor dem Arbeitszimmer stand, hatte Kaluza ihn eingeholt. Akkermann drehte sich um und verschob dabei einen ausgeblichenen Fleckerlteppich. Darunter verlief ein Telefonkabel, von dem kleinen Schrank bis zur gegenüberliegenden Wand, wo es mit Krampen oberhalb der Fußbodenleiste befestigt war. Das Kabel führte in das Arbeitszimmer.

»Internet!«, stellte Akkermann fest.

»Ich bin Mitglied in einer Diabetiker-Selbsthilfegruppe.«

»Schön«, sagte er.

»Es hilft. Wissen Sie? Man ist nicht so allein.«

»Und das drucken Sie alles aus?«

»Nein, warum?«

»Ich dachte nur.« Er wolle noch hinzufügen, »weil da ein Drucker steht«, ließ es aber bleiben. Er sagte: »Herr Kaluza, erst einmal vielen Dank. Wenn noch etwas sein sollte, melden wir uns.«

»Gerne, das habe ich ja gesagt. Vielleicht wieder so was wie mit den Schuhen. Wenn ich da nicht aufgepasst hätte. Haben Sie die denn schon gefunden?«

Akkermann drückte die Türklinke hinunter. »Wiedersehen, Herr Kaluza.«

»Ja, also dann, ade, Herr Kommissar.«

Akkermann hörte noch, wie die Tür hinter ihm zugesperrt wurde. Die Schuhe, dachte er, wo waren die Schuhe?

Totenschuhe

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