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Karin Straub stand gebeugt vor dem Bügelbrett und faltete sorgfältig einige Hemden zusammen, die frisch gebügelte über der Stuhllehne hingen. Sie trug eine weite Leinenhose und ein schlabberiges T-Shirt. Ab und zu schaute sie zum Fernseher rüber. Dann warf sie mit einer kurzen Handbewegung ihre langen, blonden Haare über die Schulter.

Sie hatte den Film schon einmal gesehen, ein amerikanischer Thriller, in dem eigentlich immer nur eine Frau vor einem Serienmörder weglief und in dem viel geschrien wurde. Gleich würde die Szene kommen, wo sie zurück in das Haus ging, in dem der Killer auf sie wartete. Die Frau war etwa so alt wie sie, Mitte dreißig, und stellte sich ausgesprochen dumm an.

Der Film wurde durch einen Werbeblock unterbrochen. Sie ging zum Fenster und schob die Gardine zur Seite. Ihre runde, randlose Brille spiegelte sich in der Glasscheibe. Mechanisch drehte sie eine Haarsträhne zwischen den Fingern und sah hinunter. Es regnete noch. Einige Fußgänger eilten mit aufgespannten Schirmen vorbei. Zwei, drei Autos fuhren die Straße hinunter. Das Kino würde gleich aus sein.

Sie huschte zur Regalwand und rückte eine Reihe englischsprachiger Taschenbücher gerade. Dann schaltete sie den Fernseher aus, klappte das Bügelbrett zusammen und verstaute es in einem Einbauschrank im Flur.

Es war nur ein verhaltenes Knarren. Gerade so laut, dass sie es durch die Wohnungstür hören konnte. Sie sah durch den Spion. Kargers Fußmatte lag schief auf dem abgestoßenen Dielenboden. Sonst konnte sie nichts entdecken. Sie wollte sich gerade abwenden, als in einem der unteren Stockwerke eine Tür ins Schloss fiel. Sie öffnete die Tür und schaute ins Treppenhaus. Sofort bemerkte sie den Miniaturbesen neben ihrer Tür. Er kam von Pezic, wie immer. Eigentlich hätte sie ihn längst holen müssen. Morgen wäre sie mit der Kehrwoche dran. Natürlich hätte sie auch ohne diese lächerliche Gedächtnisstütze gefegt. Man brauchte sie nicht daran erinnern! Sie schloss die Wohnungstür etwas lauter als sonst.

Der Geschirrspüler hatte das Programm beendet. Sie öffnete die Klappe. Heißer Dampf strömte ihr entgegen. Sie konnte das Geschirr auch morgen ausräumen. Sie lehnte sich gegen den Griff. Nach kurzem Widerstand knallte die Tür zu.

Im Radio dudelte Popmusik. Sie achtete nicht darauf. Sie öffnete den Kühlschrank und holte einen mit Frischhaltefolie verpackten Teller heraus, auf dem ein Stück Käse, eine geviertelte Gurke und eine Scheibe Brot lagen. Sie riss die Folie herunter und stellte den Teller zu der Bierflasche auf den Küchentisch. Im Radio wurde der zweite Platz der Hitparade bekannt gegeben. Monotoner Sprechgesang schepperte aus dem Lautsprecher. Sie schaltete das Gerät aus, ging zum Küchenschrank und zog die Besteckschublade heraus. Bedächtig legte sie die Hände auf die Ecken. Ihre Finger wippten wie bei einer Flipperspielerin. Energisch schob sie ihr Becken nach vorne und kickte die Schublade in den Schrank.

Sie bückte sich und öffnete den Geschirrspüler. Mit einer kurzen Handbewegung warf sie ihre Haare über die Schulter und räumte das Geschirr aus.

Sie hatte gerade das Käsemesser auf den Tisch gelegt, als es an der Tür klingelte.

»Sie, entschuldigen Sie, dass ich so spät noch störe, aber ich hätte es jetzt fast vergessen.« Hilde Karger deutete auf einen weißen DIN-A4-Umschlag. »Es ist wohl wichtig für Ihren Mann?«

Karin Straub starrte in das erwartungsvolle Gesicht der 60-Jährigen. »Danke«, sagte sie knapp.

Wie immer trug Hilde Karger eine farblose Kittelschürze und ausgetretene Pantoffeln über den von der Hitze geschwollenen Füßen. Die schlohweißen Haare wurden mit zwei Haarklemmen hinter den Ohren festgehalten.

»Von der Allianz. Hat sich Ihr Mann dort beworben?« Sie tastete den Umschlag ab; ihre schwabbeligen Oberarme zitterten. »Er hat nicht in den Briefkasten gepasst. Das Mädel wollte ihn gerade knicken. Sie, das ist doch schade, man kann doch die Sachen noch gebrauchen. Ihr Mann hat mir erzählt, wie teuer die Bewerbungsmappen sind. Aber natürlich, es soll ja auch alles schön aussehen. Ist Ihr Mann nicht da? Na, ich kann ihn auch Ihnen geben.«

Karin Straub zog ihr den Umschlag aus den Händen. »Danke für die Mühe.«

Er kam tatsächlich von der Allianz. Eine Blindbewerbung. Für meinen Alibi-Aktivitäten-Nachweis-Ordner, hatte Martin gesagt. Das war vor acht Wochen gewesen.

»Das wird schon werden, Frau Straub. Ich habe neulich noch zu meinem Mann gesagt, der Herr Straub, der läuft immer so korrekt gekleidet herum, dem würde ich auch eine Versicherung abkaufen.«

»Mein Mann ist Mathematiker.«

»Sehen Sie? Dann muss es doch was werden.« Sie beugte sich vor und flüsterte: »Und weitergehen kann es so ja nicht.«

»Wie meinen Sie das?«

»Na, die haben wir ja nun auch im Haus. Die weiß aber ganz genau Bescheid. Wann sie ein neues Sofa kriegen kann, zum Beispiel. Das gibt es nämlich nach fünf oder sieben Jahren. Nach fünf Jahren eine neue Couch, ich bitte Sie.« Sie schaute sie streng an. »Haben Sie alle fünf Jahre eine neue Couch? Ich nicht! Couch! Da kommt man aus dem Osten und sagt Couch. Als wenn Sofa nicht langen tät! Da war aber jemand da und hat gesagt, sie hätte ja immer im Wohnzimmer auf der Couch geschlafen, dann ist die natürlich durchgesessen und dass sie im Bett schlafen könnte und es keine neue Couch geben würde.« Sie ging einen Schritt auf Karin zu. »Und das zweite Kind kam natürlich passend. Nicht wahr? Darum ist doch kein Geld da, für jemand, wo immer gearbeitet hat.«

Karin Straub bemerkte, dass sie zustimmend nickte. Wie diese junge Verkäuferin in der Bäckerei, wenn sie die Bestellung wiederholt.

»Zwei Tafelbrötchen, bitte.«

»Zwei Tafelbrötchen, gerne.«

»Und ein Laugenbrötchen noch.«

»Ein Laugenbrötchen, gerne.«

Sie hasste das.

Hilde Karger sah sie eindringlich an. »Frau Straub, jetzt passen Sie mal auf.« Ihr Atem ging stoßweise. »Ist Ihr Mann denn handwerklich begabt? Mein Mann hat doch den Garten in Gablenberg. Jetzt sagt er zu mir, kannst du nicht mal zum Großmarkt fahren und einen Polen holen, der mir die Beete umgräbt? Jetzt kommen Sie. Da denkt doch jeder, wenn ich da hingehe, was will die Frau von mir? Und da fiel mir ein, wenn Ihr Mann sich was dazu verdienen will, das wäre doch eine Gelegenheit. Oder was sagen Sie?«

Karin Straub tippte auf den Briefumschlag. »Also, dann noch mal vielen Dank, Frau Karger. Ich werde es ihm einfach mal sagen.«

»Sie, Frau Straub, also das war doch das Mindeste.« Sie versuchte, in die Wohnung zu schauen. »Ihr Mann ist gar nicht da?«

»Er ist im Kino.«

»Na, das ist Recht. Gönnen Sie sich ruhig was. Und Sie haben gar keine Lust ins Kino?«

»Nein. Und dann ist es auch teuer.«

»Versteh’ ich schon, Frau Straub. Sie, da brauchen Sie gar nicht weiter zu reden. Also dann hoffen wir mal. Dass Ihr Mann nicht so nass wird. Herrje! Wer hätte das gedacht. Dabei war gar kein Regen angesagt.«

»Er fährt mit dem Bus.«

Die Treppenhausbeleuchtung erlosch.

»Mein Gott, jetzt ist es schon wieder aus. Ich muss morgen unbedingt den Verwalter anrufen. Man kommt kaum mehr im Hellen in die Wohnung.«

Hilde Karger wollte gerade auf den Schaltknopf drücken, als das Licht wieder anging. Der Türöffner summte im Parterre. Dann knallte die Haustür ins Schloss. Sie beugte sich über das Treppengeländer. Jemand sprang leichtfüßig die Treppe herauf. Im ersten Stock ging eine Tür auf.

»Besuch für Kaluza. Konnte jetzt nicht sehen, wer. Mir soll’s egal sein.« Sie trat einen Schritt zurück. »Aber ich rede und rede. Gleich kommt ihr Mann, ich wollte auch nur wegen dem Brief. Hätte ja was Wichtiges sein können.«

»Ja, das ist auch sehr nett, Frau Karger. Gute Nacht.«

Sie wartete nicht auf eine Antwort und schloss die Tür. Martin würde gleich hier sein. Sie legte den Umschlag auf den Küchentisch und öffnete den Kühlschrank. Es war kein Bier mehr oben. Sie musste noch in den Keller.

Als sie die erste Etage erreicht hatte, erlosch das Licht. Aus Jutta Strehlows Wohnung drangen dumpfe Bassrhythmen herauf. Wahrscheinlich war Maik mal wieder zu Hause. Es war ihr egal, sie hörte den Krach oben nicht. Energisch drückte sie auf den Lichtschalter. Kurz darauf knallte Maik Strehlow die Tür zu. Sie hatte ihn zuletzt vor einem halben Jahr gesehen, da war er gerade von der Schule geflogen und jobbte in einem Getränkeshop. Jetzt trug er Springerstiefel und hatte sich eine Glatze rasiert. Sie erwartete, dass er seine Wut an der Hautür ausließ. Er tat es nicht. Vielleicht hatte er etwas Besseres vor.

Im Keller brannte Licht. Abwartend stieg sie die Treppe hinunter.

Zoran Pezic drehte sich abrupt zu ihr um. »Bitte, haben Sie das Licht im Treppenhaus angemacht?« Er war Mitte sechzig und hatte eine kurze Turnhose und ein enges Unterhemd an, das seiner Brustbehaarung kaum Herr wurde. Dazu trug er Badelatschen.

Ihr fiel dazu nur ein knappes »Ja« ein.

Pezic wandte sich wieder dem Schaltkasten zu. »Ich weiß nicht, wer das immer verstellt. Das zahlen wir alle, verstehen Sie das?«

Sie wusste, dass er keine Antwort hören wollte. »Es sollte so lange brennen, dass man unversehrt in den Keller kommt«, sagte sie und fügte hinzu, "und wieder hinauf."

Pezic sprach quälend langsam: »Genau. Und was weiß man, wie lange ist in Keller?« Er hob die Stimme um mindestens eine Oktave. »Fünf Minuten? Zehn Minuten?« Leise fuhr er fort: »Und immer brennt Licht in Treppenhaus, wo keiner ist.«

»Das sollte natürlich nicht passieren, Herr Pezic.«

»Vielleicht Wäsche aufhängen?«

»Ich will nur was zu trinken holen.«

»Sie haben Kehrwoche!«

Sie schloss ihren Kellerraum auf. »Ich weiß!«

»Schauen Sie, niemand wischt den Keller, verstehen Sie?«

»Wissen Sie, Herr Pezic, ich fege draußen, fege und wische die Treppe, fege und wische den Keller und die Waschküche. Mich interessiert nicht, was die anderen machen.«

Pezic musterte sie. »Ist zweieinhalb Minuten okay?«

»Das wissen Sie am Besten, Herr Pezic.« Sie ging in ihren Keller und fischte eine Flasche aus einem mit schmutzigen Preisschildern beklebten Bierkasten. Unwillkürlich zählte sie die Kronkorken. Später würde sie sich daran erinnern, dass einige Verschlüsse verbogen waren.

»Ich habe auf zwei Minuten gestellt«, rief Pezic. »Es ist natürlich nur ungefähr. Dazu müsste man haben digitale Uhr. Hat dieses Gerät nicht. Mechanisch. Darum ungenau.«

Karin Straub schloss ab. »Dann einen schönen Abend noch, Herr Pezic.«

»Gleiches Ihnen.«

Er beschäftigte sich wieder mit dem Schaltkasten. Sie ging die Treppe hinauf.

»Bitte schalten Sie Licht nicht ein. Muss probieren.«

»Ich lass die Tür auf«, sagte sie, oben angekommen.

»Danke verbindlichst«, schallte es aus dem Keller. »Zwei Minuten? Ist das in Ordnung?«

Sie antwortete nicht. Durch das geöffnete Fenster über der Haustür hörte sie den Regen. Sie öffnet die Tür. Dicke Tropfen prasselten auf die Straße. Martin würde jetzt im Bus sitzen oder sich schauern. Viele Möglichkeiten gab es nicht. Bei der Tankstelle konnte er sich nicht unterstellen, dann waren da der Supermarkt und einige Hauseingänge. Sie überlegte, ob sie ihm mit einem Schirm entgegengehen sollte, aber im Moment hätte das nicht viel Sinn.

Sie war gerade an der Treppe angekommen, als es dunkel wurde. Der Lichtschein aus dem Keller taugte nur zur Orientierung. Die Schalter waren nicht beleuchtet, was sie schon immer gestört hatte. Außerdem waren sie im Parterre anders angeordnet als auf den Etagen. Sie nahm die Hand vom Geländer. Rechts, wo der pensionierte Lehrer Werner Grünner wohnte, war ein Schalter. Egal, was Pezic jetzt dachte, sie würde nicht im Dunkeln hier warten. Es dauerte ein wenig, bis es klackte und hell wurde. Aus dem Keller kam kein Laut. Dafür ging neben ihr die Tür auf. Vor ihr stand ein von Altersflecken gezeichneter Mann. Die spärlichen Haare waren sorgfältig über den Hinterkopf gekämmt. Er trug einen schwarzen Anzug.

»Oh, Frau Straub.« Werner Grünner schien überrascht zu sein. »Wollen Sie zu mir?«

»Das Licht war plötzlich ausgegangen.«

»So, das Licht war ausgegangen. Plötzlich, sagen Sie?« Er spitzte die blassrosa Lippen.

»Ja, Herr Pezic ist unten am Basteln.«

»Ah ja, Herr Pezic, selbstverständlich.«

Sie sah ihn missbilligend an. »Neben Ihrer Tür ist der Lichtschalter.«

»Da ist der Lichtschalter, in der Tat.« Er starrte auf ihre Haare, die in dicken Strähnen über ihrem Busen hingen. »Möchten Sie hereinkommen? Ich meine, bis Herr Pezic seine Arbeit beendet hat?«

»Nicht nötig.«

»Darf ich Ihnen eine Taschenlampe anbieten?«

»Es ist ja kein Notfall, Herr Grünner. Ungeduldig drehte sie eine Haarsträhne zwischen den Fingern.

»Dann bleibt mir nur, Ihnen einen guten Heimweg zu wünschen.« Reflexartig zog er seine rechte Hand aus der Jackentasche. Die krebsrote Haut glänzte feucht.

»Danke!«, sagte sie und ging zurück zur Treppe.

»Frau Straub? Ich bleibe hier, falls das Licht wieder ausgehen sollte.«

»Nicht nötig, Herr Grünner.«

»Gehen Sie nur hoch. Gehen Sie nur.«

Als sie die Treppe hinaufstieg, achtete nicht mehr darauf, ob er noch unten stand. Sie vermutete es auch nicht.

Sie stellte die Bierflasche auf den Küchentisch. Regentropfen schlugen gegen die Fensterscheiben. Sie ging auf die andere Seite der Wohnung und schaute aus dem Wohnzimmerfenster. Unten spannte Werner Grünner umständlich seinen Schirm auf und ging rechts die Straße hinauf. Er trug einen grauen Regenmantel. Nach wenigen Schritten kehrte er um und wechselte die Straßenseite. Er hielt den Schirm dicht vor das Gesicht. Die rechte Hand hatte er tief in der Manteltasche vergraben.

Totenschuhe

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