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Es war ein sanfter Abendregen, der den fauligen Atem keimender Erde von den Weinbergen in sommerheiße Straßen trug, über die kein Stern mehr leuchtete.

Martin Straub wartete unter dem Erker eines gesichtslosen Mietshauses und starrte in den glitzernden Lichtbogen, der sich aus den grellen Straßenlaternen ergoss. Leise klopfte er mit dem Hinterkopf gegen die Hauswand. Für eine Zigarette würde er noch Zeit haben. Die letzte für heute.

Knisternd biss die Flamme in den trockenen Tabak. Er lockerte seine Krawatte und blies den Rauch in den Schein der Straßenlaterne. Auf seiner Jacke glitzerten kleine Regentropfen. Er wischte sie mit einer kurzen Bewegung ab.

Er hatte noch nicht aufgeraucht, als auf der anderen Straßenseite die Seitentür des Kinos geöffnet wurde. Die wenigen Besucher gingen nach einem kurzen Blick in den regennassen Abendhimmel eilig weiter. Nur ein Mann in einem grellbunten Hemd blieb neben der Tür stehen. Regina Lindner, die als Letzte das Kino verließ, beachtete ihn nicht. Sie trug ein kurzes, enges Kleid mit schmalen Trägern, von denen einer über die rechte Schulter gerutscht war. In der linken Hand baumelte ein kleiner Rucksack.

Nach einigen Schritten streifte sie hüpfend die Schuhe von den Füßen, hängte sich den Rucksack um und schlenderte zur Bushaltestelle. Straub schnipste im hohen Bogen die Zigarette auf den nassen Asphalt und stieß sich mit dem Fuß von der Wand ab.

Er hatte die Fahrbahn fast erreicht, als hinter einer Reihe parkender Wagen ein schwarzer Kombi mit aufgeblendeten Scheinwerfern in die Straße bog. Straub kniff die Augen zusammen. Der Wagen beschleunigte und hielt mit unverminderter Geschwindigkeit auf eine ölige Pfütze zu, die sich im Rinnstein gebildet hatte. Sekunden später zerfetzte der rechte Vorderreifen den Ölfilm. Straub riss abwehrend die Hände hoch und stolperte einen Schritt zurück. Gierig sprang ihn die Pfütze an. Noch im Fallen streckte er seinen Mittelfinger aus der wütenden Faust.

Der Kombi, ein älterer, kantiger Mercedes, stoppte an der nächsten Ecke. Krachend schob die Gangschaltung die Zahnräder des Getriebes auseinander. Mit einem schrillen Heulen setzte der Wagen zurück.

Über der Bar neben dem Kino flackerte hektisch ein blauer Neonflamingo. Ein Mann mit einem kleinen, stämmigen Hund drückte sich die Hauswand entlang. Er sah kurz herüber und zog das Tier an einem Pärchen vorbei, das eng umschlungen unter einem Regenschirm die Speisekarte des Chinarestaurants studierte. Straub bückte sich und klopfte wütend seine Hose aus. Links von ihm hielt der Lieferwagen eines Pizzaservices. Ein dunkelhäutiger Mann sprang heraus und verschwand mit einigen Pappschachteln im Nachbarhaus.

Der Mercedes stoppte genau vor ihm. Ein zerbissener Zigarettenfilter rollte vor seine Schuhe.

»Probleme?« Ein hagerer Mann in einem ärmellosen T-Shirt lehnte sich aus dem Wagenfenster. Seine abgekauten Nägel strichen nervös um den zerkratzten Hals. Er spuckte ein dünnes Lachen aus und wandte sich an den Fahrer. »Der Typ scheint Probleme zu haben.«

Der glatzköpfige Mann hinter dem Lenkrad starrte auf die Straße. Ein dünnes Bärtchen umrahmte sein fettes Kinn. »Jetzt mach hin!«, raunzte er zurück. Er ließ die Seitenscheibe heruntersurren und schnäuzte sich mit den Fingern die Nase.

Der Mund des Hageren zuckte. Blitzschnell packte er Straubs Krawatte. »Ich mache mir echt Sorgen um dich«, knurrte er.

Straub stützte sich an der Tür ab. »Nicht nötig.«

»Jetzt hör dir den an.« Pfeilschnell schnipste der Hagere gegen Straubs Nase. »Mit dem Zinken wäre ich vorsichtiger. Der kann auch schnell ab sein.«

Straub versuchte, den Kopf wegzudrehen.

»He!«, fauchte der Hagere, »willst was in die Fresse?«

Straub konzentrierte sich auf den Fahrer, dessen Finger ungeduldig einen Radiosender suchten. Grelle Zahlenkolonnen jagten über das Display. In kurzen Abständen drangen Musikfetzen aus dem Lautsprecher. Wütend schlug der Dicke auf die dahinfliegenden Arme der Digitalanzeige.

Der Hagere hustete trocken. Es roch faulig nach Döner und Bier. »Ich hab dich was gefragt.«

Kleine Speicheltropfen flogen gegen Straubs Mund. Seine Lippen zitterten. Er spürte, wie ihn der Hagere in die Wange kniff, dann jagte der Dicke den Motor hoch. Sein fettes Kinn zitterte: »Da geht Tom!" Drei, vier Schritte stolperte Straub neben dem Wagen her, bis der Hagere den Schlips losließ.

Der Auspuff spuckte rußige Wolken auf den glänzenden Asphalt. »Wir sehen uns noch«, bellte der Hagere. Zwanzig Meter weiter überquerte ein Mann in einem grellbunten Hemd die Straße.

Straub lockerte den Schlips und massierte seinen Nacken. Als er sich umdrehte, stand Regina Lindner vor ihm. Sie war immer noch barfuß.

»Was wollten die denn, Herr Straub?«

»Ich weiß es nicht.«

»Ihre Jacke ist ganz schmutzig! Machen Sie mal so!« Energisch rieb sie über ein imaginäres Revers.

Straub blickte in die Richtung, in die der Wagen verschwunden war, und säuberte den Aufschlag seines Sakkos. »Sie verpassen ihren Bus«, sagte er beiläufig.

»Der kommt erst in fünf Minuten.« Sie beugte sich vor und zog die Pumps an. »Waren Sie auch im Kino?«

Er nickte und starrte, solange sie mit den Schuhen beschäftigt war, in den Ausschnitt ihres Kleides.

»Ich habe Sie gar nicht gesehen.« Entschlossen wischte sie eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht.

»Ich war in dem anderen Film.«

Der Pizzabote klapperte an ihnen vorbei. Straub zündete sich eine Zigarette an und hielt ihr die Packung hin. Sie schüttelte den Kopf. Aus ihren Haaren flogen kleine Wassertropfen. Lachend stupste sie seinen Arm. »Jetzt kriegen sie auch noch eine Dusche von mir.«

»Das macht nichts.« Er hob den Kopf und ließ den Regen über sein Gesicht rinnen. »Arbeiten Sie morgen?«

Sie nickte.

»Dann werde ich meine Brötchen bei Ihnen kaufen.«

»Zwei Stück, wie immer?«

»Ich weiß nicht. Vielleicht.« Er starrte auf ihre nackten Schultern. »Sie werden ganz nass.«

»Das bin ich schon.« Sie legte den Kopf auf die Seite und lächelte ihn an. »Der Bus kommt.«

Er drehte sich um und sah den 61er heranfahren.

»Ich gehe jetzt. Wenn Sie mitwollen?« Sie deutete auf sein durchnässtes Sakko. »Sie müssen das wissen.«

Straub klopfte die Asche von der Zigarette, dann warf er sie ungeraucht weg. »Warten Sie!«

»Sehr vernünftig«, lachte sie.

»Ja«, sagte er. Er wusste nicht, wie er ihr Lachen einschätzen sollte.

Der Bus hatte mittlerweile kurz hinter der Haltestelle gehalten. Im Laufen öffnete sie ihren Rucksack und holte eine Mehrfahrtenkarte heraus. »Wir müssen vorne einsteigen.«

Straub suchte geschäftig in seinen Taschen. »Ich fürchte, Sie müssen ohne mich fahren.«

Sie wartete neben dem Fahrer, der sich mehr für ihren Hintern als für ihre Fahrkarte interessierte, und winkte ihm zu. »Kommen Sie, ich stemple für Sie mit.«

Mit vier, fünf Schritten war Straub in der Tür. »Die Fahrkarte kriegen Sie aber wieder«, rief er in den Bus.

Der Fahrer lag halb auf dem Lenkrad, um den Bus aus der Haltebucht zu bugsieren. Straub musste sich mit beiden Händen festhalten. Von der letzten Sitzreihe winkte Regina Lindner. Er hob die Hand und ging nach hinten. Sie nahm den Rucksack und legte ihn auf die andere Seite, sodass er sich neben sie setzen konnte. Erst jetzt merkte er, dass seine Wange schmerzte. Vorsichtig tastete er sie mit den Fingerspitzen ab.

»Aber wirklich, die Karte kriegen Sie zurück«, sagte er.

Sie lächelte. »Okay.«

Sie hatten zwei Haltestellen hinter sich gelassen, ohne dass jemand zugestiegen war. Der Busfahrer hatte den Aufenthalt auf das Nötigste beschränkt. Straub blickte auf die Uhr. »Der ist aber überpünktlich.« Es war kurz vor 22.00 Uhr.

Selbstvergessen ordnete Regina Lindner ihre Haare. Straub stellte fest, dass sie sich die Achselhaare ausrasierte. Er steckte seine Hand in die Jackentasche und spielte mit der Zigarettenschachtel. Ihr Kleid spannte sich über den Schenkeln. Er war sich sicher, dass er nicht länger als zwei Sekunden draufgestarrt hatte, als sie ihre Beine übereinanderlegte, und der Saum dadurch noch höher rutschte.

»Steigt auch wieder keiner zu«, sagte er beim nächsten Halt. Er beugte sich zu ihr rüber und schaute aus dem Fenster. Fast hätte er ihre Haare berührt. Der Duft von Maiglöckchen drang in seine Nase.

Der Bus ruckelte durch die menschenleere Straße, vorbei an einigen parkenden Autos. Auf der linken Seite standen Lagerhallen und dunkle Bürohäuser, rechts hoben sich einige kleine Wohnhäuser schemenhaft von den Weinbergen ab.

Er lehnte sich zurück und starrte auf die Haltestellenanzeige. Plötzlich schlug er mit der flachen Hand gegen seine Stirn. »Jetzt habe ich auch noch mein Kinoprogramm verloren.«

Regina Lindner starrte auf die Regentropfen, die im Fahrtwind von der Scheibe flogen. »Sie können meins haben«, sagte sie.

»Nicht doch.«

»Aber ja.« Sie öffnete ihren Rucksack und gab ihm ein kleines Heft. »Ich habe zu Hause bestimmt noch eins. Ich nehme die immer aus Gewohnheit mit.«

»Ich auch«, beeilte er sich zu sagen. Für einen Moment schien sie zu lächelte.

Sie fuhren unter einer Eisenbahnüberführung durch und kamen in eine breite Straße, die von wuchtigen Mietshäusern gesäumt wurde. Straub rollte das Programmheft zusammen und deutete damit auf die Tür.

»Die Nächste müssen wir raus.«

»Oh ja, da hätte ich fast nicht aufgepasst.«

Sie stand auf und zog mit einer Hand ihr Kleid hinunter. Straub sah noch, dass der Busfahrer sie im Rückspiegel beobachtete. Dann stiegen sie aus.

Regina Lindner lächelte ihn an. »Ich finde es schön, dass man noch einige Schritte zu Fuß gehen muss.«

»Wenn’s nicht regnet.«

»Ist doch egal.« Sie nahm seinen Arm und hängte sich bei ihm ein. Sachte zog er sie an sich. Sie schien es nicht zu bemerken. Rechts, in der hell erleuchteten Tankstelle, sah er das Auto. Ein älterer Mercedes-Kombi.

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