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V. Herzensfrühling.
ОглавлениеGraf Berghorst sass in einer Droschke, er wollte nach Lichterfelde hinaus.
Er hatte einen moralischen Katzenjammer, wie nie vorher, und soviel er sich Mühe gab, an etwas anderes zu denken, fielen ihm doch immer wieder seine Schulden ein.
Gert von Berghorst war ehedem vermögend, wenn auch nicht reich gewesen. Aber auch nicht einen roten Deut hatten die Teufelsblätter, die Karten, in seiner Tasche gelassen! Und der Graf gehörte nicht zu den Männern, die der eintretende Mangel aus ihrem Taumeldasein reisst. Es stand längst nicht mehr in seiner Macht, durch ehrliche Arbeit vorwärts zu kommen und vielleicht das Verlorene mit der Kraft seines Geistes wiederzugewinnen.
Vielleicht hätte auch dazu seine geistige Befähigung nicht ausreicht. Aber selbst wenn er fähig gewesen wäre, zu arbeiten und zu verdienen, so würde er doch sicherlich alles Erworbene immer wieder nur dem Spiel geopfert haben, diesem entsetzlichen Moloch, der schon Hekatomben von Menschenleben gefordert hat und nicht aufhören wird damit, solange die Welt steht.
Es gab Momente, wo der junge Aristokrat sich klar darüber wurde, in wie reissender Fahrt der Wagen seines Schicksals bergab rollte.
Aber die Kraft, diese entsetzliche Fahrt aufzuhalten, besass er nicht mehr. Sein ehemals anständiger Sinn wich allen Vorwürfen und Gewissensbissen aus, und so kam es, dass er sich hatte überreden lassen, diesen schmachvollen Handel einzugehen, der ihm eine Frau in die Arme warf, über deren Herkunft niemand etwas wusste, die nichts weiter als seinen Rang und Titel von ihm wollte, und die ihm dafür aus den Schätzen ihres fast märchenhaften Reichtums ein allerdings königliches Almosen zuwarf.
Hunderttausend Mark hatte er dafür erhalten, dass er mit Anna Maria Petersen vor den Altar trat und sie zur Gräfin von Berghorst machte. Und abermals hunderttausend Mark sollte er erhalten, wenn er sich richterlich von ihr scheiden liess.
Vielleicht ward ihm dieser an und für sich peinliche Rückblick noch besonders unangenehm gemacht durch die Dunkelmänner, welche ihm dieses „Geschäft“ vermittelt hatten.
Ja, ja, er, Gert von Berghorst, der hochgeborene Graf, hatte sich gestern wie ein Kesselflicker mit diesen Menschen herumstreiten müssen!
Durch die Fenster der geschlossenen Droschke blickend — die er absichtlich genommen hatte, sah er um eine Anschlagsäule eine Menge Menschen stehen, die eine auf dem bekannten blutroten Papier gedruckte Ankündigung des Polizeipräsidiums las.
Unter dem milden Sonnenschein des Frühlingstages hatten die Leute nicht anderes zu tun, als sich für die schrecklichen Ereignisse zu interessieren, welche sich in den fernsten Winkeln der Grossstadt unter dem geheimnisvollen Schleier der Nacht zutrugen.
von Berghorst, der ja dabeigestanden hatte, als man den Leichnam des alten Mannes fand, dessen Ermordung jener rote Zettel verkündete — indem er eine Belohnung von tausend Mark auf den Kopf des Mörders setzte — Gert von Berghorst fühlte sich durchschauert bis ins Mark.
Mit Menschen von zweifelhaftem Ruf und offenbarer Ehrlosigkeit in einen Topf geworfen, und mit ihnen gemeinsame Sache machend, in einer seiner unwürdigen Umgebung und von den Blutspritzern des Verbrechens besudelt, kam er sich selbst schon entehrt und ausgestossen vor, fühlte er schon, wie die letzten Fäden rissen, die ihn noch mit seiner hochgebietenden und von der übrigen Welt streng abgesonderten Kaste verbanden.
Sicherlich! Eines Tages würde es offenbar werden, woher er sich seine Einnahmen verschaffte ... Einnahmen? ... aber um Gottes willen, es waren ja gar keine! ...
Nachdem sie gestern das Haus verlassen hatten, in dem der ermordete Pfandverleiher, von den Kriminalbeamten bewacht, zurückblieb, war von Berghorst nicht imstande gewesen, das widerwärtige Geschmeiss, das sich durch seine ewigen Geldkalamitäten an ihn festgesaugt hatte wie Blutegel, von sich abzuschütteln.
Zwar die Tuto und der frühere Rittergutsbesitzer entfernten sich nach einer, wie es schien, vorher heimlich getroffenen Vereinbarung. Aber Kretschmar, jener rothaarige Hund — nie in seinem Leben war ihm ein Mensch unsympathischer gewesen — dieser Kerl hatte die Frechheit gehabt, ihm seine Begleitung aufzudrängen.
Der Graf sagte ihm, er würde in seinen Klub fahren. Darauf antwortete der andere, nun gut, dann werde er warten, bis von Berghorst wieder herauskäme.
Natürlich hatte das den Grafen veranlasst, seinen Vorsatz aufzugeben.
„Ja, was wollen Sie denn eigentlich von mir?“ hatte von Berghorst ihn gefragt.
„Das Geld, was ich und die beiden anderen von Ihnen zu kriegen haben,“ hatte jener andere ebenso kühl erwidert.
„Ich kann es Ihnen doch aber jetzt nicht geben!“
„Dann werde ich eben solange, warten, bis Sie in der Lage dazu sind.“
„Ich fahre aber jetzt nach Haus, nach Lichterfelde, nach meiner Villa.“
„Dann bitte ich um Entschuldigung, dass ich Ihre Gastfreundschaft in Anspruch nehmen muss ... O, ich bin sehr bescheiden und begnüge mich mit einem Platz auf dem Kanapee.“
Einfach sprachlos über soviel Unverschämtheit, fragte der Graf ... „Ja, glauben Sie denn, dass ich Ihnen mit Ihrem Gelde durchbrennen werde?“
Mit jenem Lächeln, wegen dessen man ihn hätte erwürgen können, erwiderte der Rothaarige:
„Ich glaube gar nichts, lieber Graf, ich will nur das Geld haben, weiter nichts.“
Was blieb dem Grafen weiter übrig, wenn er nicht einen öffentlichen Skandal provozieren wollte? Er räumte diesem unbequemen Menschen seinen Salon ein und hörte am andern Morgen, noch im Bette liegend, voll heimlicher Wut, wie jener, ohne sich im geringsten zu genieren, mit lautem pfeifen Toilette machte.
Dann waren sie zusammen zur Bank gefahren.
von Berghorst hatte das Geld behoben, und es war, trotz all seine Nachgiebigkeit, in der kleinen Weinstube, in der sie ihre Rechnung begleichen wollten, zu einer wütenden Auseinandersetzung gekommen.
Der Graf zweifelte keinen Augenblick daran, man betrog ihn!
Nicht allein, dass diese Vermittler sich die unverschämt hohe Provision von zehn Prozent, also zehntausend Mark geben liessen, sie hatten ihn auch mit Extravergütungen, Kostenrechnungen und Spesen um weitere zehntausend Mark zu prellen versucht. Da er in ihren Händen war und an ein Bekanntwerden dieser ganzen Angelegenheit nur mit Grauen denken konnte, so war es ihm nicht möglich gewesen, mehr als zweitausend Mark von dieser Summe herunterzuhandeln.
Dann kamen aber die Sichtwechsel, die er der Bande für geleistete Vorschüsse hatte geben müssen.
Er hatte im ganzen vierzigtausend Mark empfangen in vier Raten. Und für jedesmal, wo er zehntausend Mark erhalten hatte, hatte er, dem das Wasser stets bis an den Hals ging, und der, um überhaupt nur Geld zu bekommen, sich zu allem verstanden hätte, einen Wechsel über fünfzehntausend Mark gegeben. Das waren allein schon sechzigtausend Mark, die man ihm jetzt abknöpfte.
Aber auch dabei hatten es die Blutsauger nicht gelassen.
Wie Kretschmar die Wechsel präsentierte, stellte es sich heraus, dass der zuerst gegebene nicht auf fünfzehn, sondern auf fünfundzwanzig lautete ...
Graf Gert wurde totenblass, als er das Papier in die Hand nahm.
Er betrachtete den Wechsel von allen Seiten, hielt ihn gegen das Licht und prüfte, schief darauf hinsehend, die Glätte des Papieres und die Gleichmässigkeit der Buchstaben, während der rote Teufel an seiner Seite ihm mit einem unverschämt gleichmütigen Gesichtsausdruck zusah. Dann legte der Graf das Papier auf den Tisch und sagte:
„Der Wechsel ist trotzalledem gefälscht!“
Nun sprang der Agent mit brillant gespielter Entrüstung von seinem Platz auf und rief:
„Nehmen Sie das zurück, Herr Graf! Mit wem glauben Sie es denn zu tun zu haben?! ... Das ist eine Infamie!“
Graf Berghorst war ebenfalls aufgestanden. Mit der ganzen, vornehm kühlen Ruhe des Guterzogenen stand er dem Agenten gegenüber.
„Alles, was ich tun werde,“ sagte er eisig, „ist, dass ich Sie und Ihre Komplizen verhaften lasse!“
Laut auflachend erwiderte der Agent:
„Das wird ja reizend! Zu dem Termin, wo Graf Berghorst zeugeneidlich über seine Heirat mit Maria Anna Petersen aussagen wird, kommt ganz gewiss tout Berlin!“
Gert von Berghorst’s Lippen zitterten nervös. Vergeblich suchte er nach einer Antwort. Er kam sich vor, als läge er in Fesseln, die ihn so umschnürten, dass er kein Glied rühren konnte, und er musste zusehen, wie dieser „Ehrenmann“ das Geld einsteckte, für das er den letzten Rest seines guten alten Namens hingegeben hatte. Von den hunderttausend Mark, die er auf so wenig schöne Weise erworben hatte, blieben im ganzen zwölftausend Mark — kaum, dass er die notwendigsten Spielschulden davon begleichen konnte.
Mit trüben Augen durch das Fenster der Droschke sehend, erblickte er Hans von Ballenstedt, jenen jungen Offizier, für den die jetzige Gräfin Maria Anna von Berghorst eine so offensichtliche Schwärmerei hatte.
Ein Gefühl von Neid beschlich den in der Droschke Sitzenden; der da hatte sicherlich keine Schulden! Der ging leicht und frei mit einem reinen und unbefleckten Herzen, und mit berechtigtem Stolz auf seinen glänzenden Adelsschild blickend, durchs Leben. Der hatte auch keine Sorgen, und wenn er seinen Dienst getan hatte, so war das Leben für ihn ein Blumengarten.
Der junge Offizier war längst vorüber, und der Graf, den in diesem Augenblick ein ihm sonst fremdes, fast herzliches Gefühl zu dem jungen Manne hinzog, hätte sich beinahe aus der Droschke gebeugt, um ihm noch einmal nachzusehen.
Aber das wäre ganz zwecklos gewesen, denn Hans von Ballenstedt war längst um die Ecke der Anhaltstrasse in die Wilhelmstrasse eingebogen und, seinen an sich hurtigen Schritt heute mehr als sonst beschleunigend, nach dem Brandenburger Tor zugegangen.
Vor einem jener vornehmen Häuser, in deren elegante und umfassende Räume sich nur wenige Mietparteien teilen, blieb der junge Offizier stehen. Er zögerte einen Augenblick ...
War die Entschuldigung, mit der er die Wohnung der Gräfin Berghorst betreten wollte, nicht doch etwas fadenscheinig? Allerdings hatte er seinen Krimstecher dort vergessen, als er neulich vom Dienst kam, und der Graf ihn zu seiner damaligen Braut und jetzigen Frau mitnahm, aber er hätte ja nur eine Karte schreiben brauchen, so wäre ihm der Gegenstand zweifellos sofort übersandt worden.
Die Gräfin und, wie Hans von Ballenstedt annehmen musste, auch Graf Berghorst selber waren verreist. Indessen jemand war zu Hause geblieben, jemand, der nicht zur Dienerschaft gehörte, jemand, der jung, reizend und kaum sechzehn Jahre alt war und der das sonst so ruhige und geordnete Denken des Leutnants die tollsten Sprünge machen liess.
Selbst die Erwägungen hinsichtlich des Grafen und seiner Gemahlin und das schwer erklärliche, darum aber nicht weniger starke Misstrauen, das er gegen die Verbindung dieser beiden Leute hegte, deren Festgast er gestern gewesen war, konnten ihn nicht dazu bringen, seine Sehnsucht zu zügeln.
Dieses Mädchen brachte ihn noch um Sinn und Verstand!
Und trotzdem er noch vor der Haustür hatte umkehren und den Besuch unterlassen wollen, stand er doch, fast ohne zu wissen, wie er dahin gekommen war, plötzlich inmitten des verblüffenden Luxus der von Berghorstschen Wohnung und erwartete den Eintritt seiner Angebeteten.
Das Gemach, in dem er sich befand, schwelgte förmlich in silbergrauen Plüschwogen, zwischen denen überall der schwere, mit seltsamen Arabesken durchwobene Drap d’or hervorleuchtete. An den mit einer Tapete aus steingrauem Rips bekleideten Wänden hingen herrliche Bilder von alten und neueren französischen Meistern, die einen enormen Wert repräsentieren mussten. Besonders ein Meissonnier, eine Fechtszene unter dem Balkon eines Mädchens darstellend, sprang in die Augen durch die Kraft seines wundervollen Kolorits und durch die packende Darstellung des einen von dem Degen des anderen getroffenen Duellanten, der die Arme wie hilfeflehend zu dem verzweiflungsvoll über den Balkon sich herabneigenden Mädchen emporhob und rücklings sterbend zu Boden sank.
Vor diesem Bilde stehend hätte der Leutnant den leichten Schritt des jungen Mädchens fast überhört, das, nach der Mode der Zeit in leichte, weich fliessende Gewänder gekleidet, über den dicken Teppich mit natürlichem Anstande ihm entgegenging.
Luzie Petersen war noch jung. Aber sie hätte kein Weib sein müssen, um die Bewegung zu übersehen, welche sich bei ihrem Anblick des jungen Mannes bemächtigte.
Sie lächelte, und der süsse Reiz, der ihr Gesichtchen bei diesem Lächeln überzog, brachte den jungen Kriegsmann in noch grössere Verwirrung.
„Ich habe meinen Feldstecher bei Ihnen stehen lassen, gnädiges Fräulein,“ sagte er dann und ärgerte sich selbst über sein unvermitteltes Herausplatzen mit dieser Entschuldigung, die keine war.
„Und den wollen Sie wieder haben?“ fragte sie schelmisch.
Er nickte nur. Er war wirklich mit seinem Latein zu Ende.
„Aber so nehmen Sie doch einen Augenblick Platz,“ bat sie und liess sich selbst nieder auf den schimmernden grauen Seidenplüsch eines Fauteuils.
Der Leutnant tat ihr gegenüber dasselbe und zerquälte sich den Kopf nach irgend etwas Geistreichem.
Wäre er mehr Frauenkenner gewesen, so hätte er an den feinen vibrierenden Nasenflügeln des Mädchens gesehen, dass sie innerlich lachte über ihren unbeholfenen, schüchternen Anbeter.
Trotzdem schien er ihr zu gefallen. Und mit dem seinen Takt der gesellschaftlich gut erzogenen jungen Dame half sie ihm über seine Verlegenheit hinweg, indem sie sagte:
„Ich bin Ihnen recht dankbar, Herr Leutnant, dafür, dass Sie gekommen sind, denn jetzt, wo meine Tante verreist ist, fürchtete ich schon, es würde sich niemand mehr um mich bekümmern.“
Hans von Ballenstedt atmete auf ... Dass das gnädige Fräulein seinen Besuch so auffasse, das mache ihn ausserordentlich glücklich. Im übrigen stände er jederzeit zur Verfügung.
Die Kleine quittierte darüber mit einem Neigen ihres liebenswürdigen Köpfchens und erzählte, dass sie ihrer Gesellschafterin, die Verwandte besuchen wollte, für heut Urlaub gegeben habe.
Sofort fragte sich der Leutnant, ob es danach nicht seine Gentlemanspflicht sei, den Besuch kurzerhand abzubrechen. Aber sein Herz fand tausend Entschuldigungen für ein längeres Bleiben, deren vornehmste jedenfalls seine eigene Ehrenhaftigkeit war, welche ihm nicht gestattete, die junge Dame anders als mit dem grössten Respekt zu behandeln.
Luzie Petersen schien dessen auch ganz sicher zu sein. Je mehr die Unterhaltung der beiden in Fluss kam, desto häufiger erklang ihr helles silbernes Lachen, und im Verlauf einer halben Stunde sassen die beiden jungen Menschen beieinander und plauderten, als wäre ihre Bekanntschaft Jahre alt.
Der Leutnant überglücklich, in der Nähe der Geliebten sitzen zu dürfen und sich von dem reinen Hauch ihres jungen Lebens angeweht zu fühlen, fand alle seine Wünsche voll befriedigt.
Sein ernster, streng erzogener Charakter hinderte ihn an jener leichten Auffassung eines schnell begonnenen und ebenso schnell wieder fallengelassenen Verhältnisses, wie er es in den Kreisen, denen er angehörte, fast täglich sah.
Er dachte nicht an die Zukunft.
Aber wenn er daran dachte, so verknüpfte sich für ihn der Gedanke an den Besitz des Mädchens mit der Idee einer unlöslichen und immerwährenden Verbindung. Er sah in ihr reizendes Gesicht, wobei ihm sein eigenes Glück aus den glänzenden Augen Luzie Petersens widerstrahlte, er hörte den Klang ihrer lachenden Worte und fühlte sich in der Nähe dieses sanften, unschuldigen Herzens selbst edler und besser werden.
Das Mädchen aber war selig in der Empfindung, dass ein so schöner, stattlicher und vornehmer Mann sich, ohne das geringste Hehl daraus zu machen, um ihre Gunst bewarb.
Wie ein weisses, zartes Täubchen war ihre Seele bisher durch das Dasein geflattert. Man huldigte ihr und umschwärmte sie; aber in die ersten Empfindungen des Stolzes und der Freude darüber mischten sich doch noch die schalkhaften Wünsche des Kindes, das mit allem, was es erreichen kann und was in seine Nähe kommt, spielen möchte.
Diesem stattlichen, in seiner Uniform so gut aussehenden Jünglinge gegenüber erwachte zum ersten Male das Weib in ihr.
Und als hätten sie ihre Rollen vertauscht, wurde sie jetzt schüchtern und errötete, und wagte die Augen nur dann noch voll zu ihm aufzuschlagen, wenn er die seinigen senkte.
„Sie waren nicht immer in Berlin, gnädiges Fräulein?“ fragte er.
„Nein, ich bin bei meiner Mutter in Hamburg erzogen worden.“
„Ihr Herr Vater?“
„Papa ist leider so früh gestorben, dass ich mich seiner nicht mehr erinnern kann.“
„Aber Sie sind schon lange im Hause Ihrer Tante, der Frau Gräfin?“
„Ja, seit Jahren. Tante Marie kam eines Tages zu uns aus Russland, wo sie damals lebte, und nahm mich mit.“
„Und wurde es Ihnen nicht schwer, Ihre Mutter und Geschwister zu verlassen?“
„Wenn ich ganz offen sein soll, Herr Leutnant, nein ...“
Das junge Mädchen legte nachdenklich die weisse Hand über die Augen, und indem sie an dem Offizier vorüber in die Tiefe des Gemaches schaute, erinnerte sie lebhaft an die Gräfin Maria Anna, die ihre schwarzen Augen mit derselben Gebärde ins Weite richtete, wenn sie sich in Sinnen verlor.
„Geschwister habe ich keine,“ fuhr sie dann fort, „und meine Mutter ... nein, ich will nicht sagen, dass sie meinem Herzen nicht nahe steht, denn es ist ja meine gute Mutter, die mich erzogen hat, und die ich trotz ihrer Strenge und ihres ernsten Wesens immer lieb haben werde; aber die Trennung von ihr hat mich nicht unglücklich gemacht. Ich kann auch nicht sagen, dass ich Sehnsucht nach ihr habe. Tante Marie dagegen, die war kaum in unser Haus gekommen, da wäre ich für sie durchs Feuer gegangen! ... Sie glauben nicht, Herr Leutnant, wie gut meine Tante ist! Ich weiss selbst noch nicht, dass ich einen Wunsch habe, da hat sie mir ihn schon erfüllt ... Mich von ihr auf die Dauer zu trennen, nein, das brächte ich nicht fertig ...“
Luzies Gesicht bekam einen traurigen, fast schmerzlichen Ausdruck, als sie weitersprach:
„Es sind doch noch nicht vierundzwanzig Stunden vergangen, dass sie fort ist, und doch möchte ich mich am liebsten jetzt gleich auf die Bahn setzen und ihr nachreisen ... Sie können sich nicht vorstellen, Herr Leutnant, wie gut ich Tante Marie bin. Und das kann ich Ihnen sagen“ — über das noch eben so ernste Antlitz huschte schon wieder der helle Sonnenschein —, „wenn ich mich einmal verheirate, dann muss mein Gatte zu uns hierher ziehen, oder ich würde Tante Marie einpacken und mit in meine neue Wirtschaft nehmen.“
Da der junge Offizier nicht wusste, was er dem Mädchen erwidern sollte, und sich mit einem Lächeln half, glaubte sie, er lächle über ihre Heiratsideen überhaupt, und erglühte sofort in tiefster Beschämung.
Er fühlte ihr das ganz nach und hätte nichts lieber getan, als sie über das, was ihm durch den Kopf ging, aufzuklären. Aber er fand den Ausdruck nicht, geriet dadurch ebenfalls in Verwirrung, und nun sassen sich die beiden Leutchen mit roten Köpfchen gegenüber und wagten einander kaum anzusehen.
In der Meinung, dass er seinen Besuch schon zu lange ausgedehnt habe und nichts besseres tun könne, als ihn jetzt so schnell wie möglich abzubrechen, erhob sich Hans von Ballenstedt und trat einen Schritt vor.
Auch die junge Dame war aufgestanden, verlegen und eilfertig. Und während ihr voller Busen heftig auf und nieder wogte, liess sie die Arme an ihrem hellseidenen Kleide herunterhängen, und von ihren roten Lippen kam ein Murmeln, das das Ohr des Leutnants vergeblich zu erhaschen strebte.
„Ich will mich jetzt empfehlen,“ sagte Hans von Ballenstedt, „ich fürchte, dass ich das gnädige Fräulein schon zu lange aufgehalten habe,“ um sich gleich darauf zu ärgern, dass er keinen anderen Abschluss als diese nichtige Phrase fand.
„Ja,“ sagte Luzie leise, und gab damit wider ihren Willen das zu, was der, der es gesagt hatte, selbst nicht einmal glaubte.
Nun wusste der Leutnant nicht, ob er es wagen dürfe, ihr die Hand zu geben. Und so machte er denn eine Verbeugung. Aber als ihm Luzie in demselben Augenblick ihr Händchen entgegenstreckte, ergriff er es mit seinen beiden Händen, und ohne recht zu wissen, wie er dazu kam, presste er seine Lippen auf ihre weissen Finger.
Das liebliche Mädchen sah zu ihm auf in seine guten ehrlichen Augen, und wie sein Blick den ihrigen traf, da quoll es empor in ihrer beiden Herzen wie stille Seligkeit ... Sie sprachen nichts, nicht einmal Adieu sagten sie einander mehr, er verneigte sich nur tief vor ihr und verliess schnell das Gemach.