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Die Schule war zu Ende. Ein Schwall heiteren, jungen Lebens, ergoss sich der Schwarm der Kinder auf die Strasse. Ein Ochsengespann der nahen Zuckerfabrik kam mit seinen vier gelbbunten Stieren die Gasse herauf. Und um die Tiere herum, die mit ihren kolossalen Körpern über die jungen Köpfe hinwegragten, brandete für Augenblicke mit lautem Getöse diese lebendige Flut.

Lehrer Mathiessen, für den ein Kind das Schönste war, was es auf der Welt gibt, der jedes so liebte, als hätte er selbst, der Kinderlose, es von seinem Weibe geschenkt bekommen, sah lächelnd den Davoneilenden nach, die er alle kannte und deren freundliche Eigenschaften ihm stets mehr in der Erinnerung waren als ihre Fehler.

Klaus Mathiessen wartete hier vorm Tor des Schulhauses, über das ein alter Nussbaum seine dunkelschattenden Zweige wölbte, auf Rektor Kurzmichel. Der Gestrenge hatte wohl noch zu tun; es mochte auch sein, dass er hinten im Hof nur seine weissen Pfauentauben fütterte; denn vom Hochgefühl seiner Autorität ganz durchdrungen, galt es ihm nichts, einen seiner Untergebenen warten zu lassen, bis er selber Zeit und Lust fand, sich ihm zu widmen. Mit anderen, mehr streitbaren Naturen unter den Kollegen hatte es deshalb schon tüchtige Auseinandersetzungen gegeben. Lehrer Mathiessen hatte nur ein Lächeln für solche Überhebung; er wusste zu sehr, wie die Menschen in ihre Schwächen hineinwachsen, als dass ihm mit der Erklärung dafür nicht auch die Entschuldigung gekommen wäre.

„Sie träumen wohl wieder, mein Lieber?“ hörte er auf einmal das harte Organ des Vorgesetzten an seinem Ohre.

Und sich umwendend und verlegen grüssend, beeilte er sich, mit dem Rektor, der schnell weiterging, Schritt zu halten.

„Na, Sie sehen also doch ein, wie falsch meine Milde diesem Strick, dem Behrendt, gegenüber war?“ sagte der Rektor, offenbar in wenig guter Laune.

„Aber wieso? ... weil er heute nicht in der Schule war?“

„Na, allerdings! Oder halten Sie die Tatsache, dass ein Junge vollständig unentschuldigt die Schule versäumt, für nichts Besonderes? ... Für mich steht es ausser jedem Zweifel, dass der Schlingel wieder mal geschwänzt hat ... Oder wollen Sie etwa bestreiten, dass der Bengel das auch früher schon getan hat?“

Der Ton, in dem Rektor Kurzmichel sprach, war derart unangemessen, dass selbst Klaus Mathiessen, so sehr er stets nachzugeben bereit war, sich in seiner Manneswürde gekränkt zu fühlen anfing. Und in solchem Falle zeigte es sich, dass die Güte und immergleiche Freundlichkeit dieses Mannes doch weit weniger Schwäche als eine wirklich hohe Überlegenheit über die Fehler anderer bedeutete. Er sah den Rektor mit seinen grossen, graublauen Augen fest an und sagte:

„Darf ich Sie daran erinnern, dass wir Kollegen sind, Herr Rektor, und dass ich Ihnen nie einen Anlass gegeben habe, das auch nur einen Augenblick zu vergessen!“

Der Rektor war im ersten Moment perplex. Wollte denn der auch schon anfangen, zu rebellieren? Er hatte eine noch gröbere Antwort auf der Zunge, aber er besann sich rechtzeitig: der Mann an seiner Seite sah auf einmal gar nicht mehr so aus, als würde er eine weitere Grobheit ruhig einstecken ... Natürlich, für einen verkappten Revolutionär hatte er diesen Mathiessen längst gehalten. Da hiess es aufpassen! Und den Schuldiener Prützel scharfmachen! Der kam diesen Welt- und Schulverbesserern am besten auf die Hacken! Und dann, wenn man erst ein genügendes Material gegen Mathiessen hatte, ihn dann sich vornehmen, ah! das sollte eine Lust für Rektor Kurzmichel sein!

„Ich habe also heute vom Kollegium Bescheid bekommen, dieses Behrendt wegen ... den die Behörde danach in ihrer schwerbegreiflichen Langmut noch auf der Schule belassen haben und nicht in Fürsorge gegeben wissen will ...“

Herr Kurzmichel sagte das trocken und ohne den neben ihm herwandernden Kollegen eines Blickes zu würdigen. Er wartete scheinbar auf eine Entgegnung des Lehrers, die aber ausblieb. So fuhr er denn mit einer vernichtenden Schärfe fort:

„Da nun aber der Schüler dadurch, dass er heute, wie auch schon früher, wieder hinter die Schule gegangen ist, da er dadurch, sage ich, sich jeder Milde und jeden Mitleids unwert gezeigt hat, so werde ich heute noch an die Behörde berichten und die Überführung des Jungen in ein Fürsorgehaus von neuem beantragen.“

„Verzeihen Sie, Herr Rektor,“ sagte Mathiessen noch ebenso bestimmt und ruhig, „vorläufig liegt nach meiner Überzeugung dazu nicht der geringste Grund vor. Und eine derartige Massregel wird das Provinzialschulkollegium kaum gutheissen, ohne den Bericht des Klassenlehrers des Jungen geprüft zu haben. Ich selbst aber müsste von einer solchen Massnahme in bezug auf Erwin Behrendt ganz entschieden abraten. Es liegt, wie gesagt, vorläufig auch nicht der geringste Anlass dafür vor.“

Der Rektor wollte wieder aufbrausen, aber er besann sich; die Überlegenheit des anderen war, in diesem Punkte wenigstens, zu augenfällig. Die Sache, das sah der Rektor wohl ein, liess sich in seinem Sinne erst durchkämpfen, wenn Beweise gegen den Schüler vorlagen.

Indessen sprach Lehrer Mathiessen so gelassen weiter, als gäbe es gar keine Meinungsverschiedenheit zwischen ihm und dem Rektor ... Er hätte sich lange Zeit gerade mit diesem Kinde eifrig beschäftigt und hätte gefunden, dass wirklich gute Anlagen vorhanden seien. Erwins schlimmes Erbteil, das er offenbar von dem Vater, einem Gewohnheitstrinker, habe, sei seine Abenteuerlust, sein romantischer, übertriebenen Vorstellungen nur allzu leicht zugänglicher Sinn. Sonst sei er trotz der dummen Räubereien draussen in den Gärten, wegen deren er vor dem Jugendgericht gestanden habe, ein ordentlicher und recht sympathischer kleiner Kerl; voller Dankbarkeit für erwiesene Güte und, wenn auch zu Flunkereien geneigt, doch einer freundlichen, ernsten Mahnung gegenüber im ganzen aufrichtig ... Mitleidig und hilfsbereit sei er sicher, das hätte sich in der Schule mehr als einmal gezeigt.

Mit einem Lächeln voller Ironie hatte der Rektor zugehört.

„Also Erwin Behrendt ist ein Produkt der Vererbung, wollen Sie sagen, und seine Anlagen ...“

„Ja,“ fiel Lehrer Mathiessen rasch ein, „allerdings kommen dazu die Lebensumstände, in denen er aufwächst. Seine Mutter, der er leidenschaftlich zugetan ist, ist eine zarte, schwache Frau, die ein wahres Höllenleben zu führen scheint an der Seite dieses Behrendt.“

„Nun, es heisst ja, Sie geben sich die grösste Mühe, die arme Frau zu trösten, Herr Mathiessen?“

Der Lehrer blieb stehen, er sah den Rektor voll an.

„Wer behauptet das?“

Die Stirne, die Wangen wurden allmählich ganz licht in dem so gesunden Gesicht des blondbärtigen Mannes, nur der Glanz in seinen Augen verstärkte sich.

Der Rektor, etwas verwirrt, wollte sich mit einem Scherz aus der Affäre ziehen.

„Na, man sagt so ... Sie wissen doch, wenn unsereiner mal ’ne Minute länger bei einer hübschen Frau stehenbleibt und wenn die dann noch obendrein die Mutter eines Schülers ist ...“

Mit einer Handbewegung, die glatt durch die Luft strich, unterbrach ihn der Lehrer.

„Ich habe mich nie in meinem Leben um die Frau eines anderen gekümmert, und ich selber bin verheiratet — das muss Ihnen und muss jedem anderen genügen.“

Der Rektor biss sich auf die Lippen. Es war die zweite Niederlage, die er heute erlitt. Aber er hatte noch einen Trumpf in petto. Und über den letzten Disput hinweggehend, als habe er gar nicht stattgefunden, sagte er leichthin:

„Also hinsichtlich des Jungen stehen Sie vollkommen auf dem Prinzip der Erblichkeit ... Sie sagen einfach: der Mensch ist von dem Vater und der Mutter geboren, er wächst auf unter diesen und jenen Umständen — also ist er so, wie er ist! muss so sein! ... kann gar nicht anders! ... Nicht wahr? Von einer Erbsünde im Sinne der christlichen Religion haben Sie scheinbar nie etwas gehört? Dass jeder Mensch seinen freien Willen als das höchste Gottesgeschenk mit ins Leben bekommt, davon wissen Sie offenbar nichts oder wollen vielleicht auch gar nichts davon hören, Herr Lehrer Mathiessen? ... Sie sollen der Jugend ein Beispiel von Gottesfurcht und von echter wahrer Religiosität geben! ... Und wie das sich noch mit ihren Anschauungen vereinigen lassen soll, das, das sag’ ich Ihnen offen, Verehrtester, das ist mir rätselhaft!“

Der Rektor hatte mit der Zeit immer lauter gesprochen; er sah den ruhig neben ihm hergehenden Lehrer an, als ob er glaube, dass er nun zum Schluss doch noch Sieger über ihn geblieben sei ... Da sagte Klaus Mathiessen, ohne sich überhaupt zu einer Erwiderung auf die Worte des anderen zu verstehen:

„Ich gehe jetzt hier die kleine Baustrasse hinunter, Herr Rektor, da wohnen Erwin Behrendts Eltern ... Ich will mich mal erkundigen, warum der Knabe heute der Schule ferngeblieben ist.“

„So?“ Herr Kurzmichel war unschlüssig, ob er seines Weges gehen oder seinem Begleiter weiter bis an dessen Ziel folgen sollte, entschied sich aber schnell dafür, mitzugehen. Doch war er viel zu sehr erbittert über Klaus Mathiessen, besonders über dessen stillschweigende Abfertigung seines letzten Angriffs, als dass er nicht auch hier die Gelegenheit erfasst und noch einmal versucht hätte, den anderen zu ärgern.

„Ist diese Mutter von dem Behrendt, mein’ ich, nicht ein uneheliches Kind ... von einem Fräulein ... einer früheren Gouvernante, was weiss ich?“

Lehrer Mathiessen nickte.

„Ja, das ist Frau Behrendt.“

„Nu also!“ hohnlachte Rektor Kurzmichel. „Da kann man sich doch nicht weiter wundern! ... Der Vater ein Säufer!“ — Er bedachte wohl nicht, dass er jetzt den Theorien des Lehrers selber beipflichtete. — „Die Mutter von solcher Abstammung, was kann daraus werden?“

„Von der wissen wir ja eben nichts Sicheres ... von der Abstammung!“ sagte Klaus Mathiessen mit einem feinen Lächeln. „Soviel ich gehört habe, ist der Vater von Frau Behrendt eine sehr hochgestellte, adlige Persönlichkeit gewesen, in deren Hause das alte Fräulein, die Mutter der Frau Behrendt, die Stelle einer Gouvernante bekleidete ...“

„So,“ der Rektor machte eine wegwerfende Gebärde, „na, für solche Sachen interessiere ich mich nun grundsätzlich nicht! ... Aber was ist denn da los? ... Da stehn doch soviel Leute!“

Lehrer Mathiessen ging auf einmal schneller: der Menschenauflauf war ja vor dem Hause, in dem Behrendts wohnten! Er ging nicht, er rannte förmlich, so dass der Rektor ihn am Arme zog mit den Worten:

„Aber Kollege, man sieht auf uns ... Wir müssen doch daran denken, was wir unserer Stellung schuldig sind!“

Doch Klaus Mathiessen hörte nicht, er nahm so lange Schritte, dass der Rektor mit seinen kurzen Beinen ihm kaum folgen konnte.

Vor einem geringen und ziemlich baufälligen Hause, aus dem wüster Lärm tönte, standen die Leute ... Mathiessen übersah die Situation mit einem Blick: im Parterre, wo die Fensterscheibe, deren Splitter auf den Kopfsteinen der Strasse lagen, zerbrochen war, da wohnten Behrendts.

„Er hat wieder mal seine Tour!“ sagte der Barbier, dessen Laden gegenüber offen stand. „Mir dauert bloss die arme, kleene Frau!“

Indem tönte ein neues Geschrei und Gebrüll aus der Wohnung, und wieder splitterte eine Fensterscheibe. Die Umstehenden wichen schimpfend aus. Dann hörte man eine Frauenstimme hinter den Gardinen, die zugezogen waren, bitten und flehen; doch das heisere Gekreisch des Trunkenen übertönte ihre Klagen.

„Wenn das die Familie Behrendt ist, dann wundert mich nichts mehr!“ meinte der Rektor und blickte sich vergeblich nach seinem Kollegen um.

Klaus Mathiessen war schon hinein in den Flur des Hauses. Aber er fand die Tür zur Behrendtschen Wohnung verschlossen. Da er die Frau im Interesse des Jungen einmal beim Waschen auf dem Hofe aufgesucht hatte, wusste er, dass die Wohnung noch einen zur Küche hineinführenden Hintereingang hatte. Den suchte er, und der stand offen.

Schnell in das einzige Zimmer tretend, sah er sich einem hässlichen, mitleidswürdigen Bilde gegenüber. Die Frau sass oder lag vielmehr, ihrer Sinne kaum noch mächtig, mit zerrauftem Haar und zerrissenen Kleidern auf dem kleinen, verbrauchten Sofa ... Im Zimmer, dessen armselige Einrichtungsgegenstände umgeworfen und zerbrochen auf dem Estrich verstreut waren, tobte und heulte der Trunkenbold in immer neuen Anfällen des Deliriums ... Und aus der Kammer hervor, gegen deren Tür seine kleinen Fäuste hämmerten, schluchzte und schrie das Kind, das seiner Mutter hatte zu Hilfe eilen wollen und das von dem wütenden, berauschten Vater da hineingestossen worden war.

Als Klaus Mathiessen von der Küche her eintrat, stutzte der Säufer einen Augenblick. Dann ging er mit vorgereckten Fäusten auf ihn los ... Der Lehrer musste nach einem Stuhl greifen und, diesen vor sich hinhaltend, den Elenden abwehren. Dabei redete er auf ihn ein, versuchte ihn zu begütigen, und in seine dringlichen Ermahnungen flocht das arme, gequälte Weib, dessen misshandeltes Angesicht dick verschwollen war, sein Flehen und Bitten ... Wie ein Tiger stürzte sich der Arbeiter, dem Schaum vorm Munde stand, dessen Augen aus ihren Höhlen hervorquollen, von neuem auf die zarte Frau. Klaus Mathiessen sprang dazwischen, wehrte den Schlag ab und empfing den Stoss, der ihr gelten sollte. Indem hatte Frau Alice in ihrer Herzensangst die Kammer aufgeriegelt, in die Erwin eingeschlossen war.

Wie ein wütendes kleines Tier, dessen Toben man vermehrt hat, dadurch, dass man es so lange festhielt, stürzte sich das Kind auf seinen Vater und stiess ihn hinterrücks über den Haufen, dass er lang hinschlug zwischen die zerbrochenen Möbel und Geschirre ... Und der Knabe liess auch nicht ab von dem Mann, der für ihn kein Vater, der nicht einmal Mensch mehr schien für den eigenen Sohn!

Der Lehrer sprang von neuem hinzu und riss das Kind zurück in dem Augenblick, wo ebenfalls von hinten durch die Küche der Rektor hereindrang mit einem Stadtpolizisten, den er rasch aufgetrieben hatte.

Nun sass der Trunkene auf dem Boden und starrte blöde auf die Männer, unter denen ihm die obrigkeitliche Uniform wohl am meisten imponieren mochte. Er wehrte sich wohl noch, aber er setzte seiner Abführung durch den Beamten keine ernsten Schwierigkeiten mehr entgegen.

Dann bat der Rektor die Leute, von denen inzwischen immer mehr in die Stube sich hineingedrängt hatten, wieder fortzugehen, und trat an die Frau heran, die weinend und nicht imstande, ihre Fassung wiederzugewinnen, noch auf dem Sofa sass. Neben ihr am Boden hockte der Junge und murmelte Worte und drückte die feinen Hände der Mutter, denen alle Arbeit den Adel nicht hatte rauben können, an sein tränenvolles Gesicht.

Da nahm der Rektor, dessen kühler Bürgersinn dieser Trauer gegenüber nicht standhielt und der nebenbei ein vermögender Mann war, ein Geldstück aus seinem Portemonnaie und legte es neben die Arme hin, die ihm nur mit ihren Augen danken konnte.

Feuer!

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