Читать книгу Feuer! - Hans Hyan - Страница 5
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ОглавлениеIn allen Sommerfarben glühten die Blumen, und die Rosen dufteten überall. Der Morgen war wie ein Rausch. Aber dann kam mit der emporsteigenden Sonne die Hitze. Die Blumen verhauchten sterbend ihre Seele, die Wasser versiegten, und Menschen und Tiere liessen die Köpfe hängen.
So war der Tag, an dem Klaus Mathiessen die Schicksalsstunde schlug.
Der Lehrer hatte um zehn Uhr seine Klasse entlassen; denn die Hitze lähmte die Kinder, dass sie mit ihren kleinen Köpfen auf die Bänke sanken und einschliefen.
Als der Lehrer aber das Schulzimmer verlassen wollte, kam Erwin Behrendt auf ihn zu und bat mit bittenden Augen um etwas.
„Was hast du denn?“ fragte Mathiessen, der zu diesem besonders gütig war. „So sag es doch, mein Junge!“
Einige von den Schülern wollten neugierig stehenbleiben und horchen; doch Mathiessen winkte ihnen, hinauszugehen.
Erst, wie sie beide ganz allein waren, sagte das Kind:
„Ich glaube, es kommt wieder, Herr Lehrer ...“
„Was denn?“
„Ach, das mit Vater ... er hat nämlich Geld und macht immer so’ne ollen Reden!“
„Du meinst, er spricht Dinge, die du nicht begreifst?“
„Doch, doch! Begreifen tu’ ich’s schon! Er sagt: nu is balde alle mit die Liebe! ... Lass man, sagt er zu meine Mutter, lass man, Lize — sie heisst nämlich Alice, Herr Lehrer! — lass man, Lize, wenn ich erst Jeld habe! Denn jlaube man nich mehr, dass ich mir von euch schurigeln lasse! — Und wir schurigeln ’n doch gar nich, im Gegenteil, er bloss uns! — Dann jeht’s los, sagt er, ab mit ’n Schnellzug!“
„Er war vielleicht wieder nicht ganz nüchtern, dein Vater?“ meinte der Lehrer, dem das Gespräch mit seinem Schüler über den alten Behrendt peinlich war. „Sonst benimmt er sich doch ruhig, nicht wahr?“
„Ja!“ Der Junge frohlockte förmlich. „Er hat ja nu Angst. Auf de Polizei haben se ihm doch jesagt, er kommt in ’ne Anstalt, wenn er so was noch mal macht!“
„Nun, siehst du, mein Junge! Da darfst du aber auch den Vater nicht mehr herabsetzen, auch vor dir selber nicht! Er ist ja auch ein Mensch, und wir irren alle, so lange unser Dasein hier dauert! Er ist dein Vater, das darfst du nie vergessen!“
„Ja, ja, Herr Lehrer, ich denke ja auch daran!“ versicherte das Kind ernst und gläubig. „Aber er hat doch was vor! Er kriegt bestimmt Geld! Von woher weiss ich ja nicht, aber er kriegt was!“
„Sieh mal,“ begütigte der Lehrer, „solche Leute, die sich zu ihrem eigenen grössten Schaden dem Trunk ergeben, die haben oft alle möglichen Einbildungen, sie leiden sogar an sogenannten Sinnestäuschungen und sehen und hören Dinge, die in Wirklichkeit gar nicht da sind ... ich fürchte, dass dein Vater, lieber Erwin ...“
Der Knabe nickte eifrig.
„Gewiss, Herr Lehrer, ich weiss ... aber er hat sich doch sogar schon ’n Eisenbahnfahrplan gekauft!“
Nun lächelte Klaus Mathiessen. Er legte dem Jungen die Hand auf den blonden Kopf und sagte:
„Wir werden ja sehen! Vorläufig steht ihr beide, deine Mutter und du, unter dem Schutz der Behörde! Und auch ich ... ebenso wie der Herr Rektor Kurzmichel wollen euch beistehen! Du hast ja neulich gehört, was der Herr Rektor gesagt hat: sei nur brav und lerne gut, dann wollen wir alles Frühere vergessen sein lassen und wollen dir später, wenn du aus der Schule heraus bist, auch weiterhelfen!“
Der Junge hatte den Kopf gesenkt, aber in der Art, wie er ihn hineinzog zwischen die kräftigen Schultern, sah der Lehrer, der ihn gut kannte, den Trotz und Unwillen über die Erwähnung jener fatalen Gerichtsangelegenheit, über die keiner von Erwins Mitschülern, der nicht Schläge haben wollte, mit ihm sprechen durfte.
Klaus Mathiessen strich über den lockigen Kopf und sagte:
„Still, mein Junge! Auch innen, im Herzen muss man still und demütig sein!“
Und das Kind, das sich erkannt sah, zuckte zusammen und sagte reuevoll:
„Ich will’s ja auch, Herr Lehrer, bloss ...“
„Es ist schwer!“ nickte Mathiessen. „Ja, das weiss ich ... aber gerade darum auch doppelt verdienstvoll ... Andere überwältigen, ist oft sehr leicht; aber sich selbst bezwingen, das ist das schwerste! ... Du wirst es schon noch lernen! Und nun geh und grüsse mir deine Mutter!“
Und indem Lehrer Mathiessen das laut sagte, sah er sich scheu um, als wollte er sich vergewissern, dass niemand seine letzten Worte gehört habe ... Ach, wie klein ist doch das Menschenherz! ... Wie manchmal hatte er schon geglaubt, die anderen hinter sich zu lassen, im Kampf um die letzten und teuersten Lebenswerte ... Und dann blickte er auf, und aus jedem Spiegel, den ein Menschenaug’ ihm entgegenhielt, blickte eine Fratze, ein Bild der Schwäche seines eigenen Ichs und der Verzerrung alles Göttlichen in ihm.
Voll nachdenklicher Wehmut ging Lehrer Mathiessen die kleine Baustrasse hinauf ... Er sah hinüber, wo aus den hohen Schornsteinen, die über die Häuser ragten, die Rauchsäulen kerzengerade in die klare Luft emporstiegen.
Den Hut in der Hand, blieb der Lehrer im schmalen Schatten eines Hauses stehen und dachte nach ... Würde das Leben für ihn immer so düster sein wie heute? Da — sein Sehnen konnte kein noch so fester Wille, zu entsagen, zügeln! — dort drüben, zwischen den Hecken und Blütenbäumen, lag wie in einem verwunschenen Schloss sein Glück verborgen ... Er würde es nie besitzen ... War er zu schwach dazu? Fehlte ihm die Kraft, alles niederzuringen und auf den Trümmern des fremden sein eigenes Leben aufzubauen? Ach, Klaus Mathiessen erkannte wohl: seine Selbstverleugnung, sein ganzes Pflichtgefühl wurde hier auf die erste harte Probe gestellt. Er hatte bis heute nicht gewusst, was die Leidenschaft in einem Herzen wachsen lassen und was sie in einem Menschen zerstören kann ... Seit vierzehn Tagen hatte er es nun nicht mehr gesehen, das Mädchen, in dem für ihn das Letzte und Höchste einer Menschenseele und eines Menschenleibes geborgen war ... Und jeder Tag hatte in Klaus Mathiessens Brust die geheime Unruhe verstärkt; was erst ein kaum sichtbarer Funke gewesen war, das wurde zur Flamme und brannte empor in loderndem Feuer, in dem alle Vorsätze, seine ganze Mannhaftigkeit und alle Tugend zu zerschmelzen drohten ... Er segnete und verfluchte die Entfernung, die ihn von der Geliebten trennte. Das war ja kein Gefühl, das plötzlich, aus unbekannter Ursache, aus einer zufälligen Begegnung vielleicht oder einer haltlosen Phantasie aufgeflammt war! Er hatte Asta Hindorf aufwachsen sehen. Belehrt von ihm und zu manchem Guten geleitet, war aus dem Kinde eine Jungfrau geworden. Manchmal war’s ihm gewesen, als ob sie für ihn erblühte. Aber lange hatte er sich mit seiner ganzen Energie gegen diese Empfindung gewehrt. Und wenn ihre blauen Augen ihn dann anblickten, dann sah er die Neigung und Zärtlichkeit auch in ihrem Herzen wachsen. Und er hatte sich wieder dagegen gewehrt und hatte alles vor sich ableugnen wollen. Bis er bei einem Spaziergang, zuerst ganz unabsichtlich, ihre Hand nahm und in dem Augenblick, wo er sie schon wieder aus der seinen lassen wollte, einen innigen Gegendruck ihrer Finger fühlte.
Kein Wort war gesprochen worden dabei. Kaum ein verschleierter Blick aus einem Auge ins andere war gewechselt worden ... Und doch bestand seit jener Stunde ein Einverständnis, von dem nur ihre Herzen wussten.
Wenn Mathiessen seitdem Astas Vater, den Kommerzienrat Hindorf, sprach, so stieg immer etwas wie Schuldgefühl in ihm auf. Mit Louis Hindorf war er seit vielen Jahren befreundet. Zuerst hatten es die Leute in der kleinen Stadt seltsam empfunden, dass der arme Volksschullehrer hinaufstieg zur „Villa auf dem Berge“ in das feudale Heim des Multimillionärs, der sein ungeheures Vermögen aus den kleinsten Anfängen allein aufgebaut hatte. Mathiessen selbst hatte nie etwas Sonderliches dabei empfunden. Er sah ja nicht den Millionär, für ihn war Louis Hindorf nur der hochbegabte, von eisernem Willen erfüllte und dabei doch so gütige Mensch, der für alles Schöne und Hohe Verständnis, für jede Not eine offene Hand hatte.
Der Lehrer war weitergegangen. Er sah, ohne sich in seinem Träumen der hässlichen Wirklichkeit erst recht bewusst zu werden, einen Mann schwankend aus einer Kneipe kommen und über die Strasse auf ihn zutorkeln. Klaus Mathiessen wollte diesem Menschen, in dem er den Arbeiter seiner Frau erkannte, ausweichen, aber der hatte ihn offenbar auch erkannt und steuerte jetzt in Schlangenlinien auf ihn zu.
Klaus Mathiessen hielt stand.
Der Verwachsene blieb, wie ein Baum im Sturmwind, vor ihm stehen.
„Herr Mathiessen ... Herr Lehrer Mathiessen,“ sagte Karl Behrendt, von häufigem Schlucken unterbrochen, „ick jehe wech, Herr Lehrer ... ick möt rut ... dat is her all nix mehr för mi ... ick wull ma’ Widder ’n beeten nah min Heimat gahn ... lat doch das Wiewetüg un dä oll’ dämliche Jung achtern bliewen! Ick möt wech! ... Ich hew de Näs’ pleng! ... Mi holl’n keene kein Pierd meh’ hier ...“
Er kam immer näher und brachte sein Gesicht mit dem widrigen Schnapsdunst so dicht heran, dass Lehrer Mathiessen sich von Ekel geschüttelt zurückbog.
„Wohin wollen Sie denn gehen?“ fragte der Lehrer, um etwas zu sagen.
„Jo, dat mechst du woll weeten, min Jung!“ Der Kerl grinste und spie aus. „Aber ... dat könn’ di so passen, nech? ... Nä, min Jung, von mi nich ... von mi nich ...“
Klaus Mathiessen wollte beiseitetreten und gehen, doch der Mensch folgte ihm und hielt ihn weiter auf.
„Dat lat di man von annern vertellen, olle Köster!“
Damit wollte der Trunkene dem Lehrer auf die Schulter schlagen, traf aber daneben.
Klaus Mathiessen hatte in diesem Augenblick auf der anderen Strassenseite ein Mädchen gesehen — Asta Hindorf! ... Sofort gab er, der nie die Hand gegen den Nebenmenschen erhob, dem Trunkenbold einen Stoss, dass er gegen die Hauswand flog ... Und dann schritt Klaus Mathiessen, vom Gegröl des Menschen, der weitertaumelte, verfolgt, über den Strassendamm, auf die Dame zu, die ihn wohl jetzt erst bemerkte.
In Astas Gesicht kam und wich das Blut, es kam zurück vom Herzen, wo es sich Mut und Kraft geholt hatte zu den Worten, die sie an ihn richtete:
„Wir haben Sie so lange nicht gesehen ... waren Sie krank, Herr Mathiessen?“
Da war nichts von Liebe, kein Laut sprach von der Glut der Leidenschaft, die an der Seele des Mädchens rüttelte und brach ... Aber er hörte alles, er hörte ihre Küsse, ihre heissen Liebkosungen, ihre letzte, volle Hingabe aus diesen Silben ... Er wusste nicht, was er sagte, was er erwiderte auf die banale Frage, aber er sah ihre Augen aufleuchten wie zwei lichte Sterne, sah ihre rosigen Lippen sich wölben und fühlte nur sich und sie, in grenzenloser Einsamkeit allein, aber beisammen in Liebe für alle Zeiten.
Dann merkte er, dass er und das blonde Mädchen miteinander lachten; und dass ein drittes, was sein, sein ganz allein war, bei ihnen stand, wie etwas Holdes, Schönes und Seliges, das immer da sein und bleiben wird.
Zur Besinnung kam er eigentlich erst, als er sich schon verabschiedet hatte und über den Damm auf sein Haus zuging.
Da sah er, dass gerade der betrunkene Behrendt in den Torweg seines Hauses hineinschwankte.