Читать книгу Der Massenmörder - Hans Hyan - Страница 8
Asylisten.
ОглавлениеNa, wo jeht’s heile hin? Wieder raus nach de Vororte, wo’t ooch nischt jibbt un wo de Putze1 womechlich noch besser kneisten, wie in’s Mokkum2, ja? ... Na redt’ doch! Macht doch de Luke uff! ... Ick weess nich, wenn ihr frieh aus de Palme3 kommt, dann seid a’ immer wie vabiestert! ... Red’ doch eena! Mach’ doch’s Maul uff!“
Der Sprecher schlug sich in der nebelkalten Nacht, die noch finster in den Strassen hing, die Arme um den Leib. Sie standen zu vier unter einer Gaslaterne, er und seine Elendsbrüder, und froren an allen Gliedern.
Aber die „Äppelmarie“, eine ehemalige Obsthändlerin aus der grossen Halle, die fand sich zurecht.
„Zuerst tippeln wa ’raus bei meine Schwester nach ’n Viehhof ... Wenn die ooch noch so ville dibbert und schmust4, ’n paar Pimperlinge5 uff Schluck, die spuckt se doch aus!“
„Och nee,“ meinte nun hüstelnd, sich räuspernd, langsam mit asthmatischer Stimme der alte „Knoppmeyer“, der verbrauchteste von den vieren, aber seiner Gebrechlichkeit wegen auch der erfolgreichste Klinkenputzer6, „och nee! ... Da jeh ick nich! ... Die jibbt ja doch nischt! ... kommt man mit nach den Keller in de Hirtenstrasse. Da sitzen wa scheen warm, un Nejel knabbern tun wa da ooch nich! ... ’n paar Kanten7 un de netijen Fettigkeiten8 ...“ Das Asthma kam, die Atemnot, er hustete und röchelte schaurig in den rötlichen Nebel ... „die ... die hol ick ooch noch zusamm’ ...“
Die Äppelmarie widerstrebte. Aber Zappelwilhelm, der zuerst gesprochen, machte die Veitstanzbewegung, die ihm den Arm hochriss, ohne seinen Willen, wie ein Warnungssignal; und der „Schlanke“, ein magerer, dürftig gekleideter, erbärmlich aussehender junger Mensch schwenkte mit ab in die Gollnowstrasse.
Sie kamen, mit ihren unsicheren und müden Schritten um die schmutzigen Lachen herumgehend — denn das Wasser fand im löchrigen Schuhwerk gleich ihre nackten Füsse — bald an das Haus, auf dessen Hof der Alte bei seinen Bettelfahrten einen Keller entdeckt hatte, einen verlassenen, unbenutzten Raum. Dort stand ein zerbrochener eiserner Ofen, auf dem liess sich noch gut Feuer machen ...
Feuer! ... Ah! ... Ein Seufzer der Erleichterung, fast der Lust stieg auf aus den vier vertrockneten und verkümmerten Herzen ... Und rasch, aber einzeln, jeder für sich und in Abständen, krochen sie in ihren Schlupfwinkel.
Ein paar zerbrochene Kisten waren da — die schönsten Sitze! Und dann hatte Knoppmeyer in seine Höhle geschleppt, was er an Lumpen, alten Säcken und Unzeug nur auf den Kehrichthaufen und Stätteplätzen aufgabeln konnte.
Sie sassen und lagen. Nur der „Schlanke“ hatte sich schaudernd von den stinkenden, schmutzstarrenden Fetzen gewandt, ehe er sich auf eine Kiste niederliess.
Der Ofen brannte. Koks war da. Woher? Keiner fragte. Der alte Mann hatte so oder so, in der Not und mit dem Recht des Elenden, dafür gesorgt ... Aber er musste sich wieder erheben von seinen Lumpen, der Greis; denn wo das Ofenrohr in die Wand ging, quoll immer wieder Rauch und Dunst, der alle störte und dem Alten reinweg die Kehle würgte.
„Na, biste noch nich fertich mit deine Töpperei, Knoppmeyer,“ sagte Zappelwilhelm und warf den Arm mehrmals in die Höhe — oft tat er’s zur Belustigung der anderen, so halb und halb mit Absicht. Und wenn er vor Gericht stand wegen Bettelns, dann malträtierte er den Richter in seiner Erregung fortwährend damit. „Du wirst uns noch alle schmoren mit deine olle Räucherpfanne ...! Na, de Hauptsache is nu, wer holt Soff?“ — „Ja, haste den Minzen?9“ — „Ach, Mietze!“ er schlug der Frau auf das geschwollene, unförmige Bein, dass sie aufschrie, „du bist de Beste! Du sollst ooch mitfahren, wenn de andern alle loofen! Wat wer’ ick denn keen Jeld nich haben, olle Dame! ... Und wenn wa keens haben, na, dann ham wa ebent keens! De Hauptsache is doch Kredit, wah? ... Kredit, det is de Hauptsache! Un den ham wa! Den ham wa immerzu! Da verlass da druff, sag ick dir, mein Schnuteken!“ — Es kam aber doch heraus, dass es auch mit dem „Kredithaben“ bei Zappelwilhelm nicht weit her war.
Der Alte sagte:
„Ick kenne dir nu schonst ins — watte mal,“ — er hüstelte im Nachrechnen, „in ’t achte Jahr kenn wa uns nu schon ... äh he’! ... äh he’! ... aba det du mal irjendwo wat angeschafft hast, ick meene Zaster10 un so, davon is nie nich die Rede jewesen ... äh he’! ... äh he’! ... Det is bei dir immer detselbe, Zappelwillem, du lässt dir schleppen ... äh he’! ... un du findst ooch immer eenen, der dir schleppt ... Du hast ...“ Nun kam ein neuer Hustenanfall, der riss alles fort, was der Alte noch auf dem Herzen hatte für den verkommenen Talfer11 und Tippelbruder12 den sein zappelnder Arm früh aus der Reihe der Arbeitenden herausgerissen hatte, auf die Landstrasse ... Freilich, Zappelwilhelm, dem war’s gleich! Ihn kümmerte das ebensowenig wie alles andere, was in seinem lumpigen Dasein geschah.
Der Alte stand schliesslich auf und ging die Winde stossen13, wie er sagte. Er hatte es aber in Wirklichkeit gar nicht einmal nötig, zu betteln; in seiner Beinkleidtasche fand sich vierfach eingewickelt ein kleiner Schatz, dem entnahm er ein Fünfzigpfennigstück und liess beim nächsten Planschapotheker14 die vier Finnen15 füllen. Die grösste, die sein war, mit „grüner Eiche“; die der Äppelmarie mit „Kleene-Kinder-Tränen“; Zappelwilhelm hatte sich „Juchtelfuchtel mit Pferdebittern“ bestellt und der Schlanke, der keinen Ton gesagt hatte, der bekam „Rosalinde“, einen schön-rosaroten Schnaps, der wenig scharf war und nach Anis duftete.
„Aber jem Se ma keen Menthyl!“ hatte der Alte gemeckert, wie ihm der starke Mensch hinter dem Schanktisch, der trotz Kälte und offenstehender Tür in Hemdsärmeln ging, die Flaschen füllte.
„Na erst recht,“ meinte der, „bei mir wern die Gäste alle vajuften ... doogen dut ihr ja doch nischt! ... un for euch is’t besser, wenn a janich mehr da seid!“
Der Alte lachte und nahm Platz zwischen den Gästen, nahe beim Ofen; die tranken alle aus ihren Flaschen und liessen sie oft wieder füllen.
Gleich nach Knoppmeyers Fortgang hatte sich auch die Äppelmarie aufgemacht. Die Halle war ja doch nicht weit, und da bekam sie immer was von den Markthelfern geschenkt, von denen der und jener wohl auch noch Reize an ihrem armseligen, gedunsenen Körper entdeckte. — „Wat bist du denn nu eintlich?“ fragte Zappelwilhelm mit obligater Armbewegung seinen jungen Gefährten, als sie beide allein waren, „det ick dir in de Palme jedroffen habe und det de Kohldampf schiebst, wie wir alle, un det de vor de Polente ausreisst, det besagt doch allens noch nischt! Dadran kann man dir doch nich erkenn’ in dein friehern Beruf! ... Det sehste doch in, nich wahr? Oder willste dir in ’n sojenanntes Geheimnis hillen, wat? ... Na, Mensch, rede doch mal! Jibb mal de Wahrheet de Ehre! ... Entweder — oder! Denn wat de bist, det biste doch! Und wat de wahst, det wahste ebent! Undadrum bist ’et jetz’ doch nich mehr! ... Also los! Von wo kommste jewesen?“
Der junge Mensch sah erschrocken aus, er sträubte sich noch; seine Seele, blutig geschlagen von der Not und in den letzten, tiefsten Schmutz getreten während seiner Gefängnisstrafe, bäumte sich noch einmal vor der rohen Schamlosigkeit dieser Gesunkenen. Dann, als der andere nicht nachliess mit seinem Drängen und Fragen, sagte er wütend, trotzig: er hätte gesessen!
„Ach so!“ ... Der Tagedieb neben ihm auf der Kiste warf nicht einmal seinen St. Veits-Arm, „un darum haste dir so? ... Woll wejen Unterschlagung? .. Bedruch? ... wah? Jaja, da kommen de mehrschten drum rin! Die kenn’ de Finger nich stille halten! ... Is ja ooch schwer, selber immer bloss Hanf un Pumpenheimer16 un for den andern, wo Sekt sauft un Austern un Jottweess wat, for den det Jeld uffheben un immer damang sind un so ... nee, ich könnte det ooch nich! ... Aber mir jibbt keener ’ne Kasse, Jott sei Dank, ick brauch ma de Hände nich dreckig zu machen dadran ... Wat, du weenst? ... Na lass man ...“
Er wollte den Gefährten trösten, aber in diesem Augenblick quollen aus dem defekten Abzugsrohr des überheizten Ofens Rauchschwaden, so dass der Keller, in dessen kleine, übergitterte Fenster schon das Licht des erwachenden Tages sickerte, auf einmal wieder ganz schwarz und undurchsichtig wurde.
Zappelwilhelm stürzte ans Fenster und riss es auf.
„Man stickt ja hier reenewech! ... Mein Jott! Der Olle is woll ’n Happen dumm! Det er uns wie ’n paar Bücklinge inräuchern will? ... Na, sonne Verricktichkeet! Det were ja noch scheener! Nee, da mach ick nich mit! Da pass’ ick!“
Indem kam der Alte über den Hof geschlichen. Er war furchtbar böse, weil man das Fenster geöffnet hatte, und drohte jeden hinauszuwerfen, der gegen seine Anordnungen etwas unternähme.
„Ick will det nich!“ sagte er kreischend vor Erregung, „ick will det nich! Hier bin ick Herr un keen andrer ... Versteht a’! ... Soll ick ma etwa von sonne Rotzneesen, wie ihr seid, de janze Fahrt vamasseln lassen? Det ick rausfliege aus mein Keller un kann ma nachher draussen de Knochen vafrieren?! Ick will det nich! Ihr ...“
„Na, nu lass doch man, Oller! ... lass doch! Det roocht doch so! sehste, da roocht et schon wieder!“
Und der Alte, dem der Rauch seine Scheltworte in der Kehle festhielt, musste sich aufmachen und mit Lappen und Werg aus einem zerrissenen alten Wagenkissen den Spalt in der Kellerwand, die das Rohr hielt, von neuem verstopfen.
Dann kam Äppelmarie mit einem Sack, gefüllt mit alten Frühstücksstullen, Wurstenden und Käsestücken, die von ihren Gönnern gestiftet waren. Sie hatte aber unterm Rock noch was anders, was sie feixend hervorzog: eine grosse Literflasche Rum!
„Die wollte ma absolut nich aus ’n Wech jehn! Na, un da hab’ ick ihr den Gefallen jedan und hab’ se mitjenommen!“
Zappelwilhelm zog sie schon auf — er besass einen Korkenzieher, um den ihn manch einer beneidete und für dessen Benutzung er aus der Flasche der anderen oft einen „Hieb“ hatte tun dürfen.
Sie assen — die Frau und der junge Mensch, heisshungrig, was in sie hineinging. Der Alte und Zappelwilhelm mit dem baldgestillten Appetit der Alkoholiker. Aber der Rum, auf den blickten alle mit wässerndem Mund ... Die „Finnen“ wurden ausgetutscht, im Handumdrehen! Und nun der Rum, der feuerige, brennende Spiritus! ... Ah! ... wie Feuer! ... wie Flügel! ... alles ... alles fort! ... alles ... so schön! ... so herrlich! ... so leicht! Ah! ... Um zehn Uhr lagen sie alle vier und schnarchten. Aus dem Leitungsrohr schwelte es bleischwer und dunkel. Es war, als träte jemand, nein, als dränge sich übermächtig die Nacht in den Raum, die grosse Lebensnacht, die alles Licht, alles Leben auslöscht.
Die vier stöhnten, ein Körper wälzte sich, verworrener Laut und halbe Worte von verlorenen Stimmen ... Das war kein Kampf, eine Abwehr kaum und murrende Weigerung.... Der Trunk, der sie um alles brachte, tat ihnen nun den letzten Dienst, er hob sie sanft hinüber. — Nun brannte das Werg am Rohre hellicht. Das sah wohl einer oder man roch’s im Hause.
Da liefen die Leute und entsetzten sich ... so ein Ende! ... „Vier Hungerleider weniger,“ sagte der eine, dem selber die Not aus den Backen sah. Aber sein Nachbar, einer von den Satten, dem kam das Gewissen, er meinte: „Trotzdem! Der Staat müsste sich drum bekümmern!“ ... Und dann ein Kind, ein Mädchen mit blonden Ringeln um den hellen, schönen Kopf, das faltete seine Patschen und sagte, heiter fast: „Vier tote Leute! ... Ah! ... Was wird da der liebe Gott sagen!“