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3. Kapitel

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Die Zeit danach/Stadtklinik

Es ist fast dunkel im Raum, als ich erwache und ich muss mich gedanklich erst wieder in meiner Umgebung zurechtfinden. Nur die kleine Nachtlampe versucht, ihre minimale Energie in den Raum abzugeben und unwillkürlich stelle ich wieder einen Vergleich zu mir und meiner minimalen Energie an.

Ich fühle die Bettlaken mit meinen beiden Händen, denn die Arme liegen, wie in den Tagen zuvor, an den Seiten meines Körpers entlang. Ich liege auf dem Rücken, eine Drehung während der Nacht ist mir nicht mehr möglich.

Ich verspüre Schmerzen im Bereich meines Steißbeins. Obwohl ich auch den Drang zum Toilettengang habe, besteht hier kein Zusammenhang. Es ist nicht der Druckschmerz einer zu erwartenden Entleerung meines Darms, es ist ein Schmerz, der mir irgendwie auf die unteren Wirbel drückt.

Ich drehe den Kopf zum Nachttisch und erkenne schemenhaft das Headset, das mir Dr. Bollinger hat besorgen lassen. Ich erinnere mich.

***

Als Dr. Bollinger nach der Visite gestern mein Zimmer verlassen hatte, war ich in einen Tiefschlaf gefallen. Doch er hielt nicht lange an. Irgendwann am Abend wachte ich auf und ließ mir das Gespräch mit dem Doktor durch den Kopf gehen. Sollte ich tatsächlich meine letzten Tage damit verbringen, bis zur Erschöpfung über die Vergangenheit nachzudenken und das auch noch verbal formulieren? Mich überkamen Zweifel und eine Stimme in meinem Kopf sprach sich dafür aus, es zu lassen. Doch eine zweite Stimme stellte sich ihr gegenüber und plädierte dafür, es zu tun. Während ich dem Kampf in meinem Kopf erst einmal freien Lauf ließ, öffnete sich die Tür und die Oberschwester sie hörte auf den Namen Louise trat in mein Zimmer. Mit Mundschutz und Handschuhen. Natürlich. Ich glaubte, unter dem grünen Zellgewebe über ihrem Mund die Konturen eines Lächelns zu erkennen. In der Hand trug sie das von Dr. Bollinger angesprochene Aufnahmegerät und das das dazugehörige Zubehör.

„Wollen Sie es versuchen?", fragte sie mich und nun sah ich, dass auch ihre Augen lächelten. Sie wartete meine Antwort erst gar nicht ab, sondern legte mir das Headset an. Das Aufnahmegerät platzierte sie so neben meiner rechten Hand, dass ich mit dem Zeigefinger die Pausentaste drücken konnte. So war es mir möglich, zu sprechen oder auch nicht, wie es mir passte. Auf Druck meines Fingers lief das Band, auf Druck stoppte es.

„Schwester, Sie verfügen über mich, als sei ich ihr …"

Mein Kind?", unterbrach sie mich schnell und eliminierte damit das Wort, das uns beiden wohl gleichzeitig auf der Zunge lag: Pflegefall.

„Warum nicht? Lassen Sie sich verwöhnen. Wir machen es gerne", fügte sie leise hinzu. Mit wir bezog sie das gesamte Personal ein, was mir irgendwie guttat.

„Also? Werden Sie es versuchen? Was soll ich dem Doktor sagen?"

Diese Erpresserin. Sie wusste, dass ich nicht mehr ablehnen würde. Und sie wusste, dass ich mich vor Dr. Bollinger nicht bloßstellen würde. Ich nickte.

Lächelnd und mit erhobenem Kopf verließ Schwester Louise den Raum, ihre korpulente Figur mit den am Hinterkopf zusammengefassten schwarzen Haaren leicht in den Hüften wiegend.

Ich überlegte nicht lange. Wenn ich mich schon entschieden hatte, dann wollte ich auch gleich loslegen. Ich drückte die Aufnahmetaste.

***

Der Schmerz im Lendenwirbelbereich nimmt zu. Ich versuche, den Körper etwas zur Seite abzudrehen, es gelingt mir, wenn es auch nur wenige Zentimeter sind. Dann verlässt mich die Kraft und der Körper rollt zurück die die ehemalige Position.

Ich liege etwa eine halbe Stunde so, als Schwester Louise das Zimmer betritt. Mit Mundschutz und Handschuhen. Was sonst?

„Sie haben mit dem Schreiben begonnen, das ist gut“, sagt sie, während sie diverse Vorbereitungen trifft. Sie hat gelauscht, denke ich. Ja, sie hat an der Tür gelauscht. Warum auch nicht. Nach meinem Ableben wird es sich jeder anhören, als erstes alle hier auf der Station, ehe es seinen weiteren Weg gehen wird.

„Schwester, ich habe Schmerzen", beginne ich. Der Druck auf meinem Rücken wird schlimmer. „Der Rücken, ziemlich unten."

Schwester Louise macht ein besorgtes Gesicht. „Ich werde sofort nachsehen."

„Es ist wieder ein Dekubitus, nicht wahr", frage ich sie direkt und sie nickt stumm. „Hatten Sie in den letzten Tagen keine Beschwerden?"

Ich verneine.

„Ich sage dem Doktor Bescheid, dann werden wir Sie verarzten. Sie wissen ja, dass Sie dann einige Zeit den Schwerpunkt Ihres Körpers auf die Seite verlagern müssen?"

„Was soll ich machen?", antworte ich. „Habe ich eine Wahl?"

Louise verlässt das Zimmer und kommt kurze Zeit darauf mit Dr. Bollinger zurück.

„Es ist noch nicht sehr schlimm, Jerry", stellt er fest, nachdem man mich auf die Seite gewälzt und die Ursache des Schmerzes begutachtet hat. „Sie hatten da eine Druckstelle. Das Laken hat dort Falten geschlagen. Ihr Körper ist sehr sensibel gegen solche Dinge geworden."

Dann wechselt er das Thema. „Ich höre, Sie haben mit Ihrer Arbeit begonnen?", sagt er und wartet ab, was ich ihm berichten werde.

„Ich habe es versucht."

„Das freut mich. Wie ist das mit Ihrer Erinnerung? Fällt es Ihnen schwer, die Vergangenheit hervorzukramen?"

Er sieht mich abwartend und prüfend zugleich an.

„Es wäre mir lieber, meine Erinnerung wäre ausgelöscht", gebe ich ihm zur Antwort und denke an Felix und all das, was ich meinen Erinnerungen noch zu entlocken habe. „So werde ich meinen Weg in eine fehlende Zukunft gleich zweimal gehen."

„Denken Sie an alle, denen Sie zum Vorbild werden mit Ihrer Geschichte, mit Ihrem Appell."

„Was den Appell angeht, na gut. Was das Vorbild angeht … ich weiß nicht."

Dr. Bollinger glaubt zu wissen was ich meine.

„Sie hätten es nicht verhindern können. Ich habe mir Ihre Aufzeichnungen angehört, während Sie schliefen. Ich hoffe, Sie sehen es mir nach. Ich bin mir sicher, die Veröffentlichung Ihrer Aufzeichnungen wird viele Menschen sensibler werden lassen. Sie müssen durchhalten."

Ich verkneife mir eine Bemerkung darüber, dass er sich mit meinen Aufzeichnungen befasst hat, dann mir fällt seine Bemerkung von gestern ein. Seine Frau. Sie starb an den Folgen des Super-Gaus. Ich möchte wissen, wieso gerade sie.

„Ihre Frau", beginne ich zaghaft und merke, wie der Hustenreiz sich wieder nach vorne schafft. „Wie kam sie zu dieser hohen Dosis?"

Der Hustenkrampf schüttelt mich und Dr. Bollinger setzt mir das Wasserglas an die Lippen.

„Trinken Sie langsam", fordert er mich auf. Dann schweigt er einen Moment. „Sabine, meine Frau, sie arbeitete für das Kraftwerk", begann er stockend zu erzählen. „Sie vertrat die Herstellerfirma für die Brennstäbe, die in Nuclatom Verwendung fanden. Im Rahmen der Erkenntnisgewinnung, so nannten sie das, war sie öfters dort. Sie arbeitete Verbesserungsvorschläge aus und führte Sicherheitskontrollen nach irgendwelchen Vorfällen durch. Was genau, das kann ich Ihnen nicht sagen. Ich habe kaum verstanden, wovon sie sprach, wenn sie über Ihren Beruf redete. Aber eines weiß ich: Sie war zum falschen Zeitpunkt dort. Als es passierte, war sie mittendrin in der größten Gefahrenzone."

Ich strenge mein Gedächtnis an.

„Ich kann mich nicht erinnern. Eine Frau Bollinger … eigentlich müsste ich doch …"

Dr. Bollinger unterbrach mich.

„Sie hatte nach der Hochzeit ihren Mädchennamen behalten. Heller. Sie wollte es so wegen ihrer zahlreichen Publikationen, ihres Bekanntheitsgrades, verstehen Sie? Mir war es egal. Die unterschiedlichen Namen waren nie ein Problem für uns."

„Sabine Heller?"

Die Erinnerung an diese Frau ist auf einen Schlag präsent. Mein Kopf fühlt sich mit einem Male heiß an. Ich hoffe, dass Bollinger meine Veränderung nicht auffällt. Nicht im Zusammenhang eines Gesprächs über seine Frau.

„Sabine … war Ihre Frau?".

Ich wollte die Frage nicht stellen. Es geschah einfach so. Ich fühlte den Schweiß auf meiner Stirn.

„Sie kannten Sie?"

„Ja, natürlich kannte ich Sie", versuche ich meine Stimme ruhig und selbstverständlich erscheinen zu lassen. „Ich gehörte dem Gremium an, dem sie Ihre Vorschläge und Erkenntnisse entgegenbrachte."

Ja, ich kannte Sabine. Mein Herz schlug eine Frequenz höher. Und ob ich sie kannte. Ich sehe sie noch heute vor mir, als sie mir das erste Mal im Werk begegnete. Eine stolze unnahbare Frau, ihre Gedanken stets bei ihrer Arbeit. Sie hatte den Respekt aller männlichen Kollegen, die mit ihr zusammenarbeiteten.

Sie hatte brünettes Haar, bis auf die Schultern fallend, jedenfalls vermutete ich das, denn sie hatte es stets hochgebunden, mal zu einem Knoten, mal einfach locker, aber eben immer gebunden. Auch die Kleidung passte zu ihr. Meist trug sie ein Kostüm oder eine Kombination, stets darauf bedacht, eine gewisse Strenge nach außen hin zu transportieren. Wie es tatsächlich hinter der Fassade aussah, wer wusste das besser als ich?

„War sie? … war sie zum Zeitpunkt des … Vorfalls im Werk?"

Ich weiß nicht, warum ich die Frage stelle, weiß ich es doch am besten. Sabine! Ich merke, wie das Thema anstrengend für mich wird und mich der Schlaf in seinen Bann zu ziehen beginnt.

Dr. Bollinger nickt. „Ja, das war sie. Zum selben Zeitpunkt, als es Ihnen … passierte. Sie war eine Frau und ihr Körper dementsprechend schwächer. Sie hat nicht so lange kämpfen können …"

„Wie ich, meinen Sie? Sind Sie sich sicher, dass ich kämpfe? Wer kämpft, muss ein Ziel haben. Wer kämpft, tut dies für etwas, das in der Zukunft liegt. Also, sagen Sie mir nicht, dass ich kämpfe. Sehen Sie mich an. Sieht so ein Kämpfer aus?"

Dr. Bollinger lächelt und das Lächeln entfaltet sich zu einem Grinsen.

„Mein lieber Westermann", sagt er und es klingt wieder väterlich, nur dieses Mal ist es nicht das ernsthaft Väterliche. „Wenn ich das richtig beurteile, haben Sie bereits gekämpft. Ein ganzes Kapitel lang. Auch wenn das Kapitel nicht so umfangreich ausgefallen ist wie bei manch anderen Autoren, Sie haben es geschrieben, ja, ja, gesprochen".

Er hat das kurze Aufflackern in meinen Augen gesehen. „Solange Sie formulieren, so lange kämpfen Sie. Ich möchte Ihnen sagen, dass ich stolz auf Sie bin."

Dr. Bollinger erhebt sich. „Schwester Louise, Sie sorgen dafür, dass ihn das Equipment nicht drückt."

Er zwinkert mir mit einem Auge zu. „Wir sehen uns morgen."

In der Tür dreht er sich noch einmal zu mir herum. Seine Miene ist ernst als er sagt: „Schreiben Sie weiter. Und vergessen Sie nicht Sabine in ihren Aufzeichnungen."

Sabine vergessen? Ich schließe meine Augen und sehe sie deutlich vor mir. Nein Dr. Bollinger, ich werde Sabine nie vergessen.

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