Читать книгу Fahr Far Away: Mit dem Fahrrad von Alaska bis Feuerland - Hans-Joachim Bittner - Страница 9
ОглавлениеUngemütlicher Start bei Schnee-, Graupel- und Regenschauern – erster kleiner Halt nach wenigen Kilometern bei einem Supermarkt in Piding bei Bad Reichenhall.
Startschuss: Jeden Abend ein Glas Wein musste sein
Sie leben zusammen, lachen zusammen, freuen sich zusammen ihres Tuns – und haben dabei eine ganz eigene Art gefunden, all das auch gemeinsam zu genießen. Denn hin und wieder steigen Petra und Volker Braun zusammen aus, lassen fast alles hinter sich: ihr Haus, Bad Reichenhall, Deutschland, Europa. Wenn genug zusammen gespart ist, wird kurzum eine Route ausgetüftelt, die Jobs auf Eis gelegt und wenig später losgeradelt: Tausende Kilometer, in bekannte Ecken dieser Erde genauso wie in entlegene, richtig einsame, touristisch unerschlossene. Monate war das Duo schon ohne Unterbrechung unterwegs, einmal zwölf am Stück. Doch was im April 2011 bevorstand, war selbst für die gebürtigen Rheinländer neu: 20 Monate gönnten sie sich für die Route Anchorage (Alaska)-Feuerland (Argentinien/Chile) und wagten sich 2011 damit in letztlich gut 600 mal mehr, mal weniger exponierte Tage.
13. April: Zeitdruckfreier Start an einem Mittwoch: Die mit Gepäck je 50 Kilo schweren Bikes warteten startklar vor der Haustür. Über Österreich ging’s zunächst nach Tschechien, denn „da waren wir noch nicht, und Prag interessierte uns einfach“. Petra unterstrich die Freiheit, die sie sich mit ihrem Volker geschaffen hatte. Vor vielen Jahren. Nach der Goldenen Stadt kam Dresden dran, Fulda als Zwischenstation, dann Leutesdorf bei Neuwied. Der letzte Besuch bei Petras Eltern und Geschwistern, das letzte „Hallo“ vor der großen Überfahrt.
21. Mai, kurz vor Elf: Aufruf für den Flug ab Frankfurt am Main, Hessen, Deutschland. Nach Anchorage (Alaska, USA). Nonstop. Neun Stunden sitzen, ausharren, Adrenalin, Vorfreude, der Kopf voller Gedanken, Querbeet.
Reset-Taste für das Neustart-Leben
Die Räder blitzblank geputzt ging’s am 23. Mai 2011 in Anchorage los – die Sonne strahlte und freute sich mit Petra und Volker.
Am „Ankerplatz“ (Anchorage) schlugen sie keine Wurzeln. „Großstädte gehören nicht unbedingt zu den Dingen, die wir lieben.“ Sofort ging’s auf die Räder, voll bepackt, schwere Pedaltritte, Sitzfleisch bildend. Entlang der nordamerikanischen Rocky Mountains, dann Mittelamerika, einmal durch, später runter, in den Südkontinent, fast bis ans sagenumwobene Kap Hoorn. 20 Monate, fast 29.000 Kilometer, in 14 Ländern. Ohne Druckspur: „Und sollten wir das alles nicht schaffen, geht die Welt nicht unter“, sprachen sie’s vorab Petras Gemüt entsprechend aus: „Wir lassen es auf uns zukommen.“ Mut bewiesen die beiden. Mehrfach. Respekt gebührt so viel Courage, zunächst geplante 730 Tage alles hinter sich zu lassen, ja, dieses Zeitfenster auszusteigen. Das Leben auf zwei Räder und ein geräumiges Zelt runterzufahren. Es ist mehr, als nur die Reset-Taste zu drücken: „Dafür sind die Erlebnisse zu einzigartig, fürs Leben.“ Neustart-Leben.
Das Reise-Gen hatte sie während der ersten gemeinsamen Unternehmungen Ende der 90er-Jahre gepackt. Monatelange Touren in die unterschiedlichsten Regionen des Erdballs brachten die Brauns aus Bad Reichenhall mit vergleichslosen Eindrücken hinter sich: Endlose Weiten des nordamerikanischen Kontinents, tropische Hitze-Rekorde Südostasiens oder die lange Strecke vom südlichsten Oberbayern ans Nordkap (Norwegen) und zurück. Europa war längst abgegrast, bei Volker oft Irland: „Das war mir irgendwann aber doch zu kalt und zu nass“. Preisgünstig, unabhängig, bleiben wo man will … – für Petra und Volker längst unverzichtbare Unabhängigkeiten.
Kartoffeläcker ade
Die letzten Tage daheim.
Volker, der Kölner, und die in Neuwied geborene Petra verlegten ihren Wohnort unabhängig voneinander ins Berchtesgadener Land: „Hier ist es einfach schöner als auf den rheinländischen Kartoffeläckern.“ 1990 lernten sie sich kennen, zwei Jahre später lieben. Und nach eher „normalen Rucksack-Reisen“ entdeckten sie erst 1999 ihre Leidenschaft: Auf dem Rad die Welt erleben. Buchautor Tilmann Waldthaler kurbelte mit seiner „Äqua-Tour“ vor allem bei Petra die Lust aufs Intensiv-Ausleben kräftig mit an. Was folgte, war nicht mehr zu bändigende Abenteuerlust.
„Eine positive Einstellung zu dem, was man tut“, Volker muss nicht überlegen, um die wichtigste Eigenschaft zu nennen, derartige Touren zu wagen und damit die eigenen Träume zu leben. Auch Wagnisse, da ein Rad kaum Schutz bietet: Die Zwei waren jedem Wetter, unzählbaren Gefahren im mitunter chaotischen Verkehrsgeschehen, in den Nächten jeglichen Launen der Natur und einer permanent wechselnden Tierwelt ausgesetzt. „Das machte es gerade so spannend“, vier Augen beginnen zu glänzen. Und obwohl natürlich auch stets gefährliche Krankheiten lauerten, Volker erwischte schon zweimal die Malaria, konnten sie sich bislang kaum vorstellen, ihrem Reisedrang irgendwann abtrünnig zu werden.
Druckfrei weiterradeln nicht ausgeschlossen
Rund 300 Zeltnächte, mal klirrend kalt, mal glühend heiß, standen den beiden Abenteurern im Mai 2011 bevor.
Ein festes Budget, konsequent, diszipliniert, enthaltsam zusammengespart, ist auf zwei Jahre ausgelegt. Danach wollten die beiden ganz locker weitersehen und -planen. „Sollten wir zurückkommen, egal wann, suchen wir uns Jobs und kehren ganz schnell zurück in den Alltag.“ Das eigene Haus daheim, in Bad Reichenhall, wurde derweil einem ehemaligen Arbeitskollegen Petras überlassen. Mietfrei, zum Strom, Wasser- und Müll-Selbstkostenpreis. Dafür hielt er es in Schuss.
Petra und Volker konnten sich zunächst auch vorstellen, nach der (ursprünglichen) Zieldurchfahrt in Ushuaia, weiterzuradeln: Durch Brasilien, dann rüberfliegen nach Afrika, rein in den Senegal, rauf in den Norden des heißen Kontinents und via Spanien zurück in heimische Gefilde. Die Verlängerung hätte womöglich rund acht Monate in Anspruch genommen. Druck, egal welcher Art, waren und sind der Altenpflegerin und dem Sozialpädagogen fremd.
In Sachen Weltreisen sind die Brauns alte Hasen, haben den Erdball längst umrundet. 70.000 Kilometer rund, nicht nur abgespult. Rechts und links alles wahrgenommen. Was sich während der Reisen daheim so alles abspielt, bekommen sie ohne technischen Schnickschnack nur am Rande mit. Als 2006 die Eishalle in Bad Reichenhall einstürzte und 15 Menschen starben, waren sie gerade in Laos – und erfuhren durch puren Zufall durch eine englischsprachige Zeitung, die in einem Laden plötzlich vor ihnen lag, von diesem Unglück.
Im Jetzt leben
Radschild
Das Paar hat stets einen großen zentralen Reisewunsch in den Satteltaschen: „Gesund bleiben, denn daran hängt alles.“ Schlimmere Krankheiten oder Verletzungen könnten die Braun’schen Pläne abrupt stoppen. An derartige Szenarien verschwendeten sie jedoch keinerlei Gedanken – genauso wenig wie an die Altersvorsorge: „Ich mache mir keinen Kopf um meine Rente“, so Volker, „weil ich im Jetzt lebe und genieße.“ Das einfache, sparsame Leben, oft in völliger Wildnis, meist ohne jeglichen Komfort, ein bisschen Holz zusammengesammelt, um das Essen zuzubereiten … – das ist das, wovon die Brauns nicht nur träumen. Sie tun es. „Unter freiem Himmel schmeckt es doppelt gut“, freuten sie sich zu Beginn auf die Abgeschiedenheit Alaskas. Volker überlegte noch, ob er einen kleinen Campinghocker mitnehmen sollte: „Das wäre reinster Luxus gewesen.“ Jedes noch so geringe Gewicht wollte gut überlegt sein, schließlich musste alles auf dem Rad mitgezogen werden.
Das Tandem verzichtete auf vieles und vermisste zu Beginn nichts. Nicht ein Buch – der Reiseführer ausgenommen – befand sich in den Taschen. Petra: „Bei so vielen Erlebnissen habe ich gar keine Zeit zum Lesen.“ Alles „wirklich Wichtige“ haben die erfahrenen Globetrotter dabei: eine gute Salbe fürs strapazierte Gesäß („Nach einer Woche spürt man ohnehin nichts mehr“), eine funktionierende Mücken-Abwehr gegen Alaskas Plagegeister, einen MP3-Player („Musik ist wichtig“) und ein Drei-Mann- beziehungsweise Frau-Zelt: „Das gönnten wir uns, weil wir uns nach einem Tag auf dem Sattel richtig ausstrecken wollten“. Und noch etwas war richtig wichtig: „Ein Glas Wein an jedem Abend, das musste einfach sein“. Am liebsten weiß und trocken.
Tausche Alltag gegen Zeit
Alles Materielle steht für beide in keiner Relation zum Zeitfaktor: „Für uns der größte Luxus. Wir nehmen uns die Zeit, leisten uns diesen Luxus. Es ist sagenhaft, sie letztlich geschenkt zu bekommen. Die Zeit. Wir tauschen Acht-Stunden-Arbeitstage gegen 15-Stunden-Erlebnistage.“
Bei all der Abenteuerlust leugnen Volker und Petra nicht, schon auch echte Leidenschaft für die Heimat, das Zuhause entwickeln zu können: Das eigene Bett, der heimische Herd, arbeiten, kurz Alltag. „Dinge, die wir nach einer Reise sehr genießen.“