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Das Orakel

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Er wusste genau, dass es verboten ist, doch er wollte nicht darauf verzichten, weil er damit aufgewachsen war. Bevor er auf seine große Reise ging, wollte er in Erfahrung bringen, ob das Schicksal ihn weiterhin gnädig behandelt. Zielstrebig kämpfte er sich kilometerweit durch Unterholz dem heiligen Kauri-Baum entgegen und hoffte, dort auch den Schamanen anzutreffen. Mit diesem hatte er zwar den heutigen Vormittag ausgemacht, jedoch keine Uhrzeit. Schamanen lebten ohne Uhr in den Tag hinein und heimlich. Der Kauri-Baum stand in einem weiten Tal und war nur der größte Baum eines ganzen Kauri-Waldes. Er sei über dreitausend Jahre alt, behaupteten Forstleute, und wäre schon im Vergessenen Zeitalter uralt gewesen. Das komplette Tal war ein Naturschutzgebiet, denn die bestes Bauholz liefernden Kauri-Bäume drohten auszusterben.

Anoo wollte ein Orakel befragen. Um Zeugen zu haben, nahm er seine Freundin Landis und ihren Bruder Koa mit. Beide Begleiter folgten missmutig und mit unguten Gefühlen, überließen es ihrem Führer, den Weg freizumachen und hielten mehrere Meter Abstand. Der Pfad war eher ein Wildwechsel für kleinwüchsige Tiere, Anoo musste sich fortwährend bücken, Zweige abbrechen oder zur Seite drücken. Bei den rotblühenden Heckenrosen wurde es knifflig, ihre Wiederhaken ließen Wanderer nicht gerne unverletzt weitergehen. Der Hauptteil der Vegetation bestand aus den allgegenwärtigen Farnen und Farnbäumen. Richtig gefährlich waren scharfen Gräser und heimtückische niedere Pflanzen mit harten Blättern, spitz wie Lanzen. Während im Unterholz nicht erkennbare Tiere vor ihnen weg raschelten, sangen im Geäst über ihnen vielerlei Vögel unbeeindruckt ihre Lieder. Das Wetter war bestens, die jungen Leute schwitzten nicht wenig.

Als der Pfad nun rechts einen Steilhang hinauf bog, kam Anoo kurz ins Grübeln. Wenn er den Weg richtig im Gedächtnis hatte, müsste er eigentlich geradeaus weiterführen. Nach kurzer Überlegung folgte er aber dem Pfad in der Hoffnung, auf der Steigung eine Aussicht zu bekommen. Landis und Koa ließ er unten zurück. Schon bald darauf kam er an eine Geröllhalde aus Vulkangestein; ein Erdrutsch hatte auf einer größeren Fläche die Bäume umgerissen und so Anoo freie Sicht ins Tal verschafft. Und da stand er, der heilige Baum, der alle anderen überragte. Wie alle Kauris besaß er einen massigen Stamm, der sich auch nach oben nicht verjüngte. Der Heilige dürfte einen Durchmesser von sechs bis acht Metern haben. Ohne Übergang, weit über der Erde, sprangen auf einmal die Äste aus dem Stamm und verzweigten sich vielfach. Wie alle Kauris war auch der Heilige über und über artenreich mit Epiphyten, Aufsitzerpflanzen, bewachsen. Es war ein sehr feuchter Wald, denn der Wind der ständig wehte, brachte von Westen alle paar Tage Regen. Die jungen Leute waren nicht weit vom Meer entfernt, nicht weit von Anoos Heimat.

Er ging zu Landis und Koa zurück, redete von einem Kilometer und suchte nach dem richtigen Pfad, um zum Baum zu kommen, Landis stöhnte. Hinter einem gefällten Farn-Baum tat sich ein komfortabler Fußweg auf, der ein schnelles Vorwärtskommen ermöglichte. Der Weg endete vor einem Stamm mit der Grundfläche eines Hauses und einer Bretterhütte mit Kunststoffdach, das Regenwasser wurde in eine Tonne geleitet. Alle drei sahen den Stamm hinauf. An ihm hing eine wahnsinnig lange Leiter, die in schwindelnder Höhe an einer Plattform endete. Irgendwo unschätzbar weit darüber befand sich das Astwerk.

Anoo zeigte zur Plattform hinauf. „Das ist Tairiris Arbeitsplatz.“ Vor der Hütte kräuselte sich etwas Rauch aus einer Feuerstelle, der Schamane konnte nicht weit weg sein. Die jungen Leute schauten in die Hütte. Ein schmales Bett, ein Tisch mit drei Stühlen, Schrank, Kühlschrank, Lampen - in den fensterlosen Raum passte alles, was man für einen längeren Aufenthalt so brauchte. Irgendwoher kam auch Strom.

„Gibt’s hier keine Toilette?“ fragte Landis. Alle drei sahen sich um und entdeckten eine Wand aus Farnblättern.

„Da vielleicht“, meinte ihr Bruder. Landis schaute dahinter und fuhr erschrocken zusammen, weil ein Tier davonsprang.

„Hier hat es Marder oder Possums“, meinte sie, „dreht euch um, ich pinkle davor“.

Auch die jungen Männer erleichterten sich, danach ließen sie sich bei der Feuerstelle nieder, in der Hütte wollte keiner warten, Anoo reichte seine Saftflasche herum.

Nach einer halben Stunde, während der wenig geredete wurde, fand Landis zu ihrem Nörgelton zurück. „Ist dir das Orakel auch so wichtig, um im Dunkeln zurückzugehen?“

Anoo grinste milde. „Der Morgen ist noch nicht vorbei. Aber wenn es aus irgendeinem Grund länger dauert, verspreche ich dir im Hellen zurückzugehen. Die Heckenrosen würden uns im Finsteren nicht durchlassen.“ Beruhigt streckte sich Landis aus und döste, die Männer taten es ihr gleich.

Hinter der Hütte und dem Stamm machte eine Mischung aus Ranken und Baumrinde das Weiterkommen unmöglich. Die Kauris warfen, um sich von Parasiten freizuhalten, immer wieder Rindenstücke ab, die kaum verrotteten. Die Bäume häuteten sich sozusagen, um wachsen zu können, wie ein Reptil. Im Stammbereich konnten sich die Rindenstücke mehrere Meter hoch aufschichten. Hinter dieser undurchdringlichen Wand begann es nach einiger Zeit zu knacken, kurz danach erschien aus der Toilette ein hagerer, großer alter Mann, es war der Schamane Tairiri. Wer nun einen fellbehangenen Wilden erwartete, wurde enttäuscht, Tairiri war gekleidet wie seine Gäste. Ein knopf- und kragenloses helles Hemd, eine farblose Weste mit vielen Taschen und eine dunkle, weite Hose aus festem Stoff. Nur trug er an den Füßen, statt Wanderschuhen, Sandalen und auf dem Kopf eine Wollmütze.

Der Schamane gab jedem die Hand. „Tut mir leid, dass es länger gedauert hat, aber ich musste noch jemanden anrufen“, und zeigte den Vulkan hinauf. „Hier unten habe ich keinen Empfang.“

Anoo reichte ihm unauffällig einige Scheine. „Kannst du gleich anfangen?“

„Da oben habe ich gemerkt, dass wir heute keinen Wind haben.“

„Was? Keinen Wind?“ Ungläubig sah Anoo nach oben, dort bewegte sich kein Blatt.

„Gibt’s das“, wunderte sich auch Koa. „Der Wind weht doch fast jeden Tag.“

„Aber nur fast“, stellte Tairiri klar.

„Kannst du trotzdem anfangen?“, bat Anoo. „Vielleicht kommt der Wind ja noch. Oder du hörst irgendwas anderes.“

Der Alte nickte. Eine halbe Minute etwa stand er still und hörte in sich hinein, dann ging er in die Hütte, holte eine Flasche heraus, streckte sie gegen den Himmel und nahm zwei Schluck. Er streifte seine Wollmütze ab, sein Kopf war kahl. Langsam ging der Schamane zum Fuß der Leiter, blieb mit geschlossenen Augen dort stehen, brummelte etwas vor sich hin. Wenn der Alte kleiner als die drei jungen Leute gewesen wäre, dann hätten sie sein Gehabe und seinen weggetretenen Gesichtsausdruck vielleicht nicht ernstgenommen. Aber er überragte sie um einen halben Kopf und dass er in seinem Alter nun diese endlos lange Leiter besteigen wollte, flößte ihnen Respekt ein. Tairiri machte sich an den Aufstieg, kletterte und kletterte ohne zu pausieren bis zur Plattform hinauf, setzte sich oben mit verschränkten Beinen hin und holte etwas aus seiner Umhängetasche. Kurz darauf begann es oben zu qualmen, der Schamane atmete den Rauch einer vor sich hin glühenden Kräutermischung ein, der aus einer Schale aufstieg.

„Und jetzt bringt er sich in Trance?“ fragte Landis.

Was hier vor sich ging, kannten weder Landis noch Koa, denn sie stammten von der kalten Südinsel, auf der es keine Kauris gab und wo sich die wenigen Bewohner mit Orakeln und Wahrsagerei nicht abgaben. Dafür waren die Leute aus der Kälte viel zu nüchtern. Nochmals erklärte ihnen Anoo, worauf es ankam.

„Tairiri bringt sich in Trance und lauscht dem Rauschen des heiligen Baumes. Der Baum erzählt auf diese Weise ein wenig aus der Zukunft des Bittstellers und manchmal auch von dessen Schicksal. Auf jeden Fall interpretiert Tairiri unter dem Einfluss der Kräuter das Blätterrauschen, und das kann ganz schön komplex werden. Manchmal weiß er lange Geschichten zu erzählen.“

„Du warst also schon öfters hier“, bemerkte Koa.

Anoo nickte leicht. „Ich bin schon als Kind mit meinem Vater hier gewesen. Für einen kleinen ahnungslosen Jungen war das ein fantastisches Erlebnis.“

Landis legte sich wieder auf den Boden und spähte nach oben. „Dass du an so etwas überhaupt glaubst. Und dass du dich überhaupt hier her traust, wo du doch von der Regierung bezahlt wirst.“

„Wenn Tairiri und die anderen Schamanen nicht so oft Recht hätten, würde ich auf das Orakel verzichten. Aber die heiligen Bäume scheinen nicht zu lügen.“

„Vielleicht liegt es einfach an den richtigen Drogen und er könnte die Veranstaltung auch hier unten abhalten“, lästerte Koa.

Anoo war leicht gekränkt. „Immerhin hat der Schamane meinem Vater das Leben gerettet. Als der zum zweiten Mal mit dem Schiff nach Australien sollte, hatte der Wind ihm abgeraten. Mein Vater war zuhause geblieben und das Schiff war mit Mann und Maus gesunken.“

„Und wenn das Orakel dir von der Reise deines Lebens abrät, würdest du dann zuhause bleiben?“ fragte Landis zweifelnd.

„Zumindest wäre ich absolut vorsichtig.“

Zwei Stunden lungerten sie auf der kleinen Lichtung herum, unterhielten sich gelegentlich über belangloses Zeug, fütterten einige Weka-Rallen die zufällig vorbeikamen mit Brotstückchen und sahen hin und wieder zu Tairiri hinauf, ob sich die Blätter bewegten. Nichts tat sich, der Alte schien zu schlafen. Anoo war tief enttäuscht. Die Scheine bekam er auf jeden Fall nicht mehr zurück. Vielleicht hat der Schamane einen aufschlussreichen Traum.

„Tairiri, wir müssen gehen“, rief er hinauf. Schon bis zum Fahrzeug würden sie zwei Stunden wandern müssen, in der Hauptstadt und in ihren Betten wären sie erst nach Mitternacht. Nach einigen Minuten richtete sich der Gerufene auf, er hatte es tatsächlich gehört, und machte sich an den Abstieg. Unten angekommen sagte sein Kunde: „So eine Enttäuschung, ausgerechnet heute muss die Natur schlafen. Da war wohl nichts zu erkennen.“

Der Alte räusperte sich. „Ausgerechnet heute ist es ein schöner und ruhiger Tag. Das kann man so verstehen, dass auch deine Reise schön und ruhig verlaufen wird. Wenn ich es mir genau überlege, war die Windstille sogar beabsichtigt. Sie will sagen, dass du in keinen Sturm und andere Gefahren gerätst.“

Wenig überzeugt verließen die drei Jungen die Lichtung.

Auf dem Rückweg meinte Koa noch: „Wenn ich das richtig verstanden habe, ist der heilige Baum nur der Mittler. Der Wind berichtet ihm aus der Zukunft. Das ist gefährlicher Aberglaube mein Lieber, sei froh, dass es heute windstill war.“


Die Regierung war gegen jegliche Art von Religionsausübung. Es war verboten, Religionen zu begründen und Götter, Geister und Dämonen zu verehren, denn die Menschen des Vergessenen Zeitalters sollen sich wegen Religionen und Göttern blutig bekriegt haben. Behaupteten die Altertumsforscher. Nur die Gebildeten wussten, was eine Kirche gewesen war und was Beten bedeutet, und das war auch gut so. Aberglauben und das Verbreiten von Hirngespinsten wurde mindestens mit einer Geldstrafe geahndet. Um das Orakel zu befragen, riskierte Anoo seinen Traumberuf.

Schon in der Grundschule wurde den Kindern eingebläut nur dem zu trauen, was sie mit eigenen Augen sehen können und was mit Logik nachvollziehbar war, wurde der Unterschied zwischen Fantasie und Wirklichkeit gelehrt. Die Menschen sollten nur an Greifbares und Sichtbares glauben. An die Natur zum Beispiel. An Sonne, Mond und Sterne zu glauben war daher naheliegend. Doch frühe Versuche, daraus eine Religion zu machen, wurden von der Regierung im Keim erstickt und so die Gestirne den Gläubigen verleidet. Die meisten Südländer glaubten eh lieber an die Macht des Geldes. Etwas sehr Greif- und Sichtbares.

Alle Südländer glaubten aber eisern daran, dass es mit ihrer Nation immer weiter vorangehen wird, so auch Anoo. Immer zahlreicher drängten sie in die Weiten der Welt und suchten dort nach geeigneten und giftfreien Böden, um die explodierende Nation ernähren zu können. Weltweit suchten Wissenschaftler nach Tieren und Pflanzen, die sich als Nahrung eigneten und aus denen Medikamente und Rohstoffe gewonnen werden konnten. Genauso eifrig suchten Abenteurer nach den Resten versunkener Städte, um an Metalle zu kommen oder an Informationen über das Vergessene Zeitalter. Reich wurde jeder, der ein noch lesbares Buch fand. Bücher, die nach solch einer gefühlten Ewigkeit gefunden wurden, hatten nur unter den glücklichsten Umständen überlebt. Sie mussten der Regierung verkauft werden, wurden aber oft illegal an Sammler und Industrielle abgeliefert. In jedem entdeckten Buch konnte etwas stehen, das die Nation weiterbrachte, das zu einer wichtigen Erfindung führte oder zur Aufklärung der Vergangenheit beitrug. Letztere Informationen waren am begehrtesten, denn Regierung und Bevölkerung interessierte gleichermaßen, was zur Ausrottung der Menschheit geführt hatte.


Die Wiederbesiedelung der Welt

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