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Grasland

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Schon vor dem Sonnenaufgang wurden die Reisenden von Darran geweckt. „Das müsst ihr euch ansehen“, sagte er. „So schön erlebt ihr das vermutlich nie mehr wieder.“ Die Luft war glasklar, kein Wölkchen störte das Weiß der Berge. Sie sahen dann, wie die Strahlen der aufgehenden Sonne die Bergspitzen kitzelten, der Himmel nahm eine tiefblaue Farbe an, die weißen Berge glitzerten zusehends. In etwa tausend Metern Höhe fuhren sie an der Südseite eines Gebirges entlang. Sie hätten es auch umfahren können, Robbe wollte aber die Ausmaße dieser durch schneebedeckte Gipfel geprägten Gebirgslandschaft überprüfen und hatte sich mit Mira und Darran eine Passage ausgedacht. Dazu verglichen sie die Formen der Seen, die sich am Fuße des Gebirges aufreihten, mit den Seen auf ihrer Karte. Gegen Sonnenhöchststand war der richtige See gefunden, Robbe schwenkte nach Norden und fuhr über dem langgezogenen blauen Gewässer den höchsten Bergen entgegen.

Alle zwanzig Reisenden standen an den drei Frontscheiben und erlebten, wie sie in eine gletscherreiche Bergwelt eintauchten; die Südländer fühlten sich auf ihre Südinsel versetzt. Bald zeigte es sich jedoch, dass dieses europäische Gebirge mächtiger war - um über einen Pass zu kommen, musste der Wal kräftig steigen. Kurz stand Robbe vor der Entscheidung Wasser abzulassen, weil der Gasmotor, um die nötige Höhe zu erreichen, nicht genug produzierte. Im letzten Moment zeigte es sich, dass es reichen würde und sie fuhren, knapper als es die Vorschrift erlaubte, hinüber in ein anderes Tal. Dabei entdeckten sie ihre ersten europäischen Säugetiere. Auf dem Pass sprangen und hetzten dutzende Tiere davon, die Besatzung sah zu Ria Teata. „Die sehen aus wie Gämsen und Steinböcke“, sagte sie mit Kennerblick. „Die gibt es in unseren Bergen aber auch.“

„Wie kommen die bloß von Südland hierher?“ fragte jemand. Ria fixierte mit dem Fernglas einen Punkt am Himmel, andere taten es ihr gleich. Es war ein Vogel, er kam immer näher, wurde größer und größer und obwohl er das Gefährt nicht kennen konnte, schien er sich vor dem Wal nicht zu fürchten. „Das ist ein Geier“, rief Ria, „die werden so groß wie unsere Albatrosse. Drei Meter Spannweite.“

„Der sieht aber viel hässlicher aus“, bemerkte Mira.

„Muss er ja, er ernährt sich von Aas“, entgegnete die Freiland-Zoologin.

Der Geier, von dem Robbe schon befürchtete, dass er auf einer Zigarre landen würde, entschied sich für den Weiterflug. Nach links und rechts erstreckten sich weiße Gipfel und, obwohl die Sicht unbeschreiblich klar war, konnten sie die Enden der Gebirgskette nicht sehen. Über einem weiteren Tal glitt der Wal einem weitverzweigten See entgegen, an dem sie dann entlang fuhren, bis die hohen Berge hinter ihnen lagen. Danach wurde zu Abend gegessen, was sich wie gewöhnlich hinzog, es gab ja nichts anderes zu tun. Die untergehende Sonne blendete die Sitzenden. Darran stand am Lenkrad. Auf einmal sagte er völlig belanglos: „Wir sind da“. Anoo kapierte am schnellsten, stand auf und stellte sich an die Front. Sie fuhren nach Norden, vor ihnen lag ein breites Tal ohne Wald, beidseitig gesäumt von niederen Gebirgen. „Wir sind heil angekommen“, dachte Anoo für sich, „Tairiri sei Dank.“ In der Mitte des Tales, dort wo sich auf ihrer Karte ein schmales blaues Band befand, schlängelten sich zahlreiche Wasserläufe. An deren Peripherie befanden sich ausgedehnte Kiesfelder. Den Rest des Talbodens bedeckte frisches Gras, das im Abendlicht mehr orange denn grün leuchtete. Das Orangegrün war grüppchenweise von dunklen Punkten bedeckt.

Ria bettelte: „Können wir tiefer?“ und sah sich mit dem Fernglas ihre Augen wund. „Da grasen Wildrinder“, stellte sie als erstes fest. „Wohl verwilderte Hausrinder. Dort hinten grasen auch noch Ziegen“, zeigte sie nach rechts auf dunkle Punkte, die vom letzten Sonnenstrahl angeleuchtet wurden. Der Feuerball versank hinter dem linken Gebirge, eine Artbestimmung wurde schwer. Die Zoologin versuchte es weiter. Plötzlich sagte sie: „Das kann doch nicht sein. Die da unten sehen aus wie Antilopen, die ich aus dem Afrikabuch kenne. Das wird morgen sehr interessant.“ Weit vor ihnen, rechts der Gewässer, lag wie eine Insel im Gras-Meer, eine interessante kleine Hügellandschaft. Der Wal hielt sich aber links des Flussgewirrs, wo die Ebene breiter war.

„Alle mal herhören“, ertönte Miras Stimme. An der Wand leuchtete nun eine andere Karte, sie zeigte auf rote Markierungen. „Diese Punkte müssen wir zuerst anfahren, denn dort standen einstmals große Städte. Wir suchen nach unnatürlichen Bodendeformierungen und wenn wir welche finden, dann Leute, dann wird gebuddelt. Wir fahren während der Nacht bis ans Ende des Tales und morgen wieder langsam zurück. Dabei suchen wir nicht nur nach den Resten der verschwundenen Zivilisation, wir müssen uns auch einen schönen und geeigneten Platz suchen, auf dem wir unsere Versuchsfelder anlegen können. Vor allem müssen wir klären, ob wir östlich oder westlich des Flusses siedeln wollen, denn mit einem Fahrzeug werden wir durch das Kies- und Wasser-Konglomerat nie ans andere Ufer kommen. Dazu haben wir zwei Wochen Zeit, dann muss der Wal zurück.“

Am nächsten Morgen fanden sie in der Ebene auch gleich einige verräterische Unebenheiten. Sie landeten, pflockten den Wal an und frühstückten noch an Bord. Gleich danach befreiten sie Werkzeug und Maschinen aus ihren Kisten. In den zwei Hintersten, den Größten, stand zum einen eine Planiermaschine mit vier großen Rädern, zum anderen ein fünfsitziges Geländefahrzeug, dem eine Baggerschaufel angebaut wurde. Bis Sonnenuntergang schafften sie sich an drei Stellen in die Erde, vorrangig gruben sie nach Metallen. Parallel dazu untersuchten die Archäologen, Geologen, Biologen und Laboranten die Erde auf chemische Rückstände, Kunststoffteile, Mineralien, Spurenelemente, Tier-Kot und vieles mehr. Zwei Andere suchten die Umgebung mit Metallanzeigern ab. Die Geräte sandten Wellen ins Erdreich, die von Metallen reflektiert wurden und auf einer Glasscheibe aufleuchteten.

Derweil spazierten Mira und Ria mit Ferngläsern und Wasserflaschen durch die Landschaft und bestimmten die Tierwelt. In der Nähe des Landeplatzes standen Lamas oder Alpakas, so genau wusste es keine, die neugierig irritiert das Treiben der Menschen beobachteten. Ziemlich schnell stießen die zwei Frauen auf einen Wasserlauf, wo sie Rotwild verscheuchten, das auch im Südland vorkam. „Nach neusten Erkenntnissen“, verriet Ria, „wurden Gämsen, Steinböcke und Rotwild von Europa auf unsere Inseln gebracht. Viele bestreiten das aber, deshalb halte ich zu diesem Thema lieber meine Klappe.“ Irgendein heftiges Hochwasser hatte Kies zu einem Wall aufgespült. Die Ebene war nicht besonders plan, überall fanden sich solche Wälle die wie Endmoränen wirkten, die meisten waren grasbewachsen, also schon älter. Die Frauen sichteten einen Feldhasen und rätselten, wie er in dieser busch- und baumfreien Landschaft ohne Deckung überleben konnte. Vielleicht sei er aus dem Wald herunter gekommen, meinte Mira, denn die Berge waren ab einer gewissen Höhe lückenlos von Urwald überzogen. Die Zwei stellten sich auf den Kies-Wall und suchten die Gegend ab.

„Echt irre“, entfuhr es Ria, die konzentriert immer in die gleiche Richtung starrte. „Da hinten grast eine Herde von afrikanischen Tieren. Ich kann Kuhantilopen, Weißschwanzgnus und Springböcke ausmachen.“ Sie suchten weiter und waren von ihrer Entdeckung total gefesselt.

„Die Europäer hatten doch bestimmt auch Zoologische Gärten“, überlegte Mira. „Da werden die Afrikaner herkommen. Die Antilopen haben die Menschen überlebt und sich vermehrt.“

„In den Zoos haben sie dann vermutlich auch Tiger, Löwen, Leoparden und Hyänen gehalten“, spann Ria Miras Gedanken weiter. „Ob die auch überlebt haben?“

„Komm, wir gehen Mittagessen, danach nehmen wir Ebro mit.“

Der empfing sie mit: „Bin ich froh, dass ihr zurück seid. Wir haben dort hinten ein Rudel Hunde gesehen. Ich wusste nicht wo ihr wart, nehmt nächstes Mal ein Toky mit.“

„Wir nehmen das nächste Mal einen Jäger mit“, sagte Mira und tätschelte Ebros Schulter.

Die Zoologin war mit ihrem Tag sehr zufrieden, die anderen nicht. Es wurde nichts Verwertbares gefunden. Sie beschlossen die Gruben wieder zu verfüllen, um keine Fallen zu hinterlassen. Die Oberflächen befanden die Wissenschaftler als tadellos, ab einer gewissen Tiefe wurde es kritisch, dort lag noch einiges an Rückständen. Das hieße, meinte der Capo und Jäger Ebro, dass das Wild ohne Bedenken verzehrt werden konnte, denn das fraß ja nur an der Oberfläche. Das geschossene Fleisch würde trotzdem zuerst im Labor untersucht, befahl Mira.

Landis hatte es sich so schön ausgemalt, wie sie mit Anoo im Dunkeln die Kabine verlassen und mit ihm in einer Kuhle ins frische, trockene Gras liegen würde. Sie wollte mal wieder geliebt werden und Anoos Körper in ihren Händen halten. Die Sichtung der Hunde, die auch Wölfe sein konnten, hatte ihrem süßen Plan den Todesstoß versetzt, denn während der Begattung ständig nach Wölfen Ausschau halten zu müssen, stellte sie sich wenig lustvoll vor. Ihre Enttäuschung und schlechte Laune konnte sie kaum verbergen. Anoo, der selbstverständlich wusste wie seine Freundin tickte und wie der Hase lief, sprach sich mit den zwei anderen Paaren ab, um in der gemeinsamen Unterkunft eine Viertelstunde mit Landis alleine zu haben. Da es schnell gehen sollte, musste sich Landis bücken, was sie überhaupt nicht leiden konnte. Hauptsache mal wieder etwas Warmes drin gehabt, spielte sie für sich die unangenehme Haltung herunter.

Am nächsten Morgen fuhren sie fünfzig Kilometer weiter. Am zweiten Grabungsort lag seltsamer, grauer, vom Hochwasser freigespülter Sand. Bald wussten die Wissenschaftler, dass es zerbröselter Beton war. Wo Beton lag konnte Eisen nicht weit sein. Sie buddelten zwei Tage lang an mehreren Stellen und sehr tief, fanden großflächige Asphaltreste, Kabelstückchen aus Kunststoff, Betonsand mit Spuren von pulverisiertem Eisen, aber kein Beton am Stück. Und sie fanden nicht das kleinste Artefakt, das auf eine untergegangene Zivilisation hingedeutet hätte. Ausgerechnet der nicht studierte Arbeiter Mak Tauro brachte die Erfolgslosigkeit auf den Punkt. Die Gegend würde vermutlich seit Jahrhunderten überschwemmt, weshalb alles verrottet sei. Und vermutlich hätten die Hochwässer die Städte weggespült, ergänzte der Arbeiter noch.

Die Fläche der dritten verschwundenen Stadt, schon weiter im Süden, lag auf der Westseite des mäandernden Flusses. Anhand der aufgeschwemmten Kiesschichten schien auch diese Stadt vom Wasser aufgelöst. Weiter weg vom Fluss fanden sie wieder grauen Sand mit pulverisierten Metallspuren. Der Erfolgslosigkeit zum Trotz blieben sie vier Tage und fanden nicht einmal Eichenholz, das im Wasser uralt werden konnte. Am vierten Abend bat Separa, der jüngere der zwei Archäologen, seine Kollegen um eine Unterredung.

„Ich sag euch jetzt rundheraus meine Meinung und widerspreche damit allen gängigen Vorstellungen.“ Separa hatte etwas mehr Temperament als seine Mitreisenden und sprach auch ziemlich schnell. „Nach vorherrschender Meinung sind die Menschen fünfhundert Jahre zuvor wegen Unfruchtbarkeit ausgestorben. Das kann so aber nicht stimmen. So stark wie der Stahl und der Beton zersetzt sind, müssen die Städte schon vor zwei- bis dreitausend Jahren zerfallen sein. Es ist utopisch zu glauben, dass von mächtigen Betongebäuden schon nach fünfhundert Jahren nur noch Sand übrig bleibt.“

Mit dieser Überlegung bekam das vergessene Zeitalter eine ganz andere Dimension, es betraf schließlich auch die Geschichte des Südlands. „Das ist doch nicht möglich, dass unseren Inseln über zweitausend Jahre fehlen“, sagte die Chefin deshalb. „Dann müssten die auf der Halbmondinsel eingelagerten Bücher genauso alt sein. Immerhin waren sie an einem trockenen Ort gelagert, der von gewissenhaften Nachfahren, denen das eingetrichtert worden war, in Schuss gehalten wurde. Aber zweitausend Jahre lang?“

„Da stimmt einiges nicht“, meinte Nora Glitt, die auch geschichtlich im Bilde war. „Die Südländische Zivilisation hatte viel länger ausgehalten, weil sie sich rechtzeitig abschottete. Außerdem sind die Bücher auf unseren Inseln gedruckt worden. Kein Mensch vermag zu sagen, wann auf der Halbmondinsel die letzte Druckerei arbeitsunfähig wurde.“

„Genau“, mischte sich Robbe ein. „Es könnten noch Bücher gedruckt worden sein, nachdem die Menschen das Lesen verlernt hatten. Wegen der Bilder.“

„Das ist jetzt aber zu viel Spekulation“, zweifelte Mira.

„Aber möglich“, bekräftigte Separa. „Leute die nicht mehr schreiben konnten, konnten immer noch Solarmodule, Stromspeicher und andere technische Dinge herstellen. Unsere Bücher können nur wenige hundert Jahre alt sein und bestimmt keine tausende. Und, großes Geheimnis, sie wurden nicht in Häusern eingelagert und nicht von gewissenhaften Bürgern beschützt, das ist eine Mär. Sie waren in trockenen Höhlen eingelagert und vergessen. Niemand weiß wie lange sie in den Höhlen lagen. Erst ihre Entdeckung machte unseren Vorfahren bewusst, dass sie einmal einer hochentwickelten Nation angehört hatten. Beim Blättern in diesen alten Schinken kamen einige clevere Leute darauf, dass einmal mehr gewesen sein musste, als ein unorganisiertes Dahinleben. Alleine vom Bilder anschauen bekamen sie eine Vorstellung von einem Staat, aber erst viele Jahre nach der Entdeckung der Bücher kam das Bestreben auf, wieder eine Nation zu gründen.“ Separa schaute auffordernd in die Runde und wartete auf Widerspruch, der sich aber nicht einstellte. „Man muss sich das mal vorstellen: Leute die vermutlich nicht lesen und schreiben konnten gründen eine Nation, nur weil sie sich Schrift und schöne Fotos angeschaut haben. Nach zwei- bis dreitausend Jahren Verwilderung hätten sie das gewiss nicht mehr fertig gebracht, hätte es ein Zurück zur Zivilisation nicht mehr gegeben. Deshalb sage ich euch: Unsere Heimat hatte vielleicht vor fünfhundert Jahren ihren Tiefpunkt erreicht, Europa war aber schon vor dreitausend Jahren ausgestorben.“

Es wurde an diesem Abend noch herumspekuliert, dass es den Zuhörern schwindlig werden konnte. Letztlich sagte die Chefin: „Morgen suchen wir uns einen schönen Platz, wo wir uns breit machen können.“


Der Wal verließ die letzte Grabungsstelle und fuhr über der Flussmitte gen Süden. Die Besatzung beobachtete aufmerksam beidseitig das vorbeiziehende Land. Östlich lag vor dem Gebirge eine teils bebuschte Hügellandschaft, die viele an ihre Nordinsel erinnerte. Alle paar Kilometer öffnete sich ein kleines Tal, aus dem auch ein Bach heraustrat.

„Für die Urbarmachung wäre es schön, auch einige sonnenbeschienene Hänge zu haben“, meinte Anoo zu seiner Chefin und zeigte zu den Hügeln. „In so einem kleinen Tal könnten wir auch Fischteiche ausbaggern und unsere Ernährung bereichern.“

„Als erstes würde ich Wasserspeicher graben“, sagte Mark Taura, der aber nichts zu sagen hatte. „Niemand weiß wie trocken die Sommer sind.“

Sie fuhren aber an der heimeligen Hügellandschaft vorbei, weil Mira sich diese kleine Gebirgsinsel anschauen wollte. Sie ließ Robbe mitten hineinfahren und freute sich über die wind- und wettergeschützen Täler. Leider fanden sich dort keine freien Flächen, die Huftiere hatten die Insellandschaft nur von außen abgeweidet. Über einer kahlen Stelle im Randbereich ließ Robbe den Wal fast bis zum Boden ab, damit Mira eine Gesteinsprobe nehmen zu konnte. Mit der Sportlichkeit eines Turners kletterte sie todesmutig an einer Strickleiter hinab, klopfte mit einem Hammer Steine los und stieg mit voller Umhängetasche wieder hinauf. In der Kabine präsentierte sie ihren Fund auf einem Tisch.

„Und, was meinen die Geologen?“ fragte sie die zwei Frauen, denen sie den gefährlichen Abstieg abgenommen hatte.

Die Schwärze der porösen Steine sagte alles. „Lava. Da unten liegt ein erloschener Vulkan.“

„Fruchtbarer Boden“, rief Mira erfreut. „Der wäre gut für Wella-Bäume und Weinreben. Aber wir fahren dorthin zurück, wo es keine Steine hat und flach ist“, und zeigte zu den Hügeln. Der Wal wendete und fuhr nach Osten und dann der Hügelkette entlang nach Norden.

„Da sind so unmerkliche horizontale Kanten in den Hügeln“, meinte eine Geologin. „Die müssen einmal terrassiert gewesen sein. Wo immer Menschen Terrassen gebaut haben, war der Boden sehr fruchtbar“.

Langsam zog die Landschaft an ihnen vorüber, der Wal fuhr in jedes Tal und sah sich um. Doch die leicht bebuschten Täler waren alle weitgehend versumpft; um dort siedeln zu können, würde man zuerst entwässern müssen. In einem Tal graste knietief im Wasser stehend eine Gruppe Ellipsen-Wasserböcke, was der Zoologin Ria einen Schrei des Entzückens entlockte. Die Hügelkette war keine vierzig Kilometer lang und maximal vier oder fünf Kilometer breit. Robbe fuhr bis an deren Ende und wieder zurück. An der breitesten Stelle schob sich ein Hügel in die Ebene, er schien auch der höchste zu sein. Diese Stelle mit Aussichtspunkt gefiel den Südländern, sie sahen sich schon an der Südseite des Hangs in der Sonne liegen. Anoo erkannte an der Farbe des Grases, dass der Boden trocken war.

„Dann werden wir diesen Platz Anoo-Platz nennen“, schlug seine Chefin vor.

Anoo nahm das nicht ernst und sagte: „Zu viel der Ehre. Aber genauso gut könnte man ihn auch Lande-Platz nennen.“

„Das ist eine sehr gute Idee“, frohlockte Mira und Anoo glaubte nicht richtig zu hören. „Ab sofort heißt dieser Fleck Anoos Lande-Platz.“

Robbe setzte zur Landung an, zwei Mann seilten sich ab, untersuchten die Umgebung und schlugen Anker in die Erde.


Endlich am Ziel zu sein war für alle eine ungemeine Erleichterung. So langsam drängte auch die Zeit, das Jahr war fortgeschritten und das mitgebrachte Korn sollte ausgesät werden. Noch an Bord wurde beraten, wie und wo die Kisten, die ab sofort Hütten genannt wurden, aufzustellen sind. In einer Reihe am Fuß des Hügels oder in Zweierreihe mit Straße oder als Kreis, stand zur Debatte. Die Zweierreihe wollte fast keiner, das sah zu sehr nach zuhause aus. Die Reihe hatte den Vorteil, dass alle Hütten gleichmäßig nach der Sonne ausgerichtet werden konnten.

„Aber manche Hütten werden immer abseits stehen“, meinte die Psychologin Nora Glitt. „Wenn die Hütten in einem Kreis stehen, sind alle gleichmäßig erreichbar. Ein Kreis unterstreicht auch die Gemeinschaft und erhöht das Zusammenhörigkeitsgefühl.“

„Ein Kreis lässt sich auch am leichtesten verteidigen“, grinste Ebro.

Separa meinte: „Wir hätten in der Mitte einen Versammlungsplatz mit Lagerfeuer. Das stelle ich mir richtig idyllisch vor.“

Als sich fast alle mit der Kreisform angefreundet hatten, kam Landis mit einem weiteren Vorschlag. „Ein Halbkreis wäre aber auch möglich. Wir könnten alle Hütten fächerförmig nach dem Gemeinschaftshaus ausrichten. Jeder hätte zum Essen denselben Weg“. Das leuchtete ein, plötzlich waren fast alle für einen Halbkreis.

„Wir werden dann unser kleines Dorf Landis nennen“, neckte Anoo. „Landis am Landeplatz.“ Sie knuffte ihn dafür, doch hätte es ihr Geltungsbedürfnis ungemein befriedigt.

Der Wal setzte sich auf die Erde, nach und nach wurden die Hütten abgehängt, zuerst die der Fahrzeuge. Für die Rückfahrt musste er wieder vier, mit Ballast gefüllte, Hütten mitnehmen, damit das Luftfahrzeug austariert werden konnte. Aus einer Werkzeughütte wurden Räder geholt, aus denen später ein Wagen gebaut werden sollte. Vorerst wurden die Räder an jeweils eine Hütte montiert, das Geländefahrzeug zog sie vom Wal weg und stellte sie irgendwo ab, wo sie nicht im Weg waren. Von einem Halbkreis noch keine Spur. Mira zeigte, wo sie gerne das Gemeinschaftshaus hätte, zwei Hütten beinhalteten die Bauteile und wurden zum angrenzenden Hang gezogen. Auch die vier Unterkünfte und die Küche wurden vorerst in Hang Nähe abgestellt. Anoo zeigte den Arbeitern wo er die Versuchsfelder anlegen wollte. In den folgenden Tagen schob die Planiermaschine den dichten Grasbewuchs zur Seite, ein Damm entstand, der auch die Grenze ihres Lagers markierte. An einer Stelle blieb er offen, sozusagen als Farmzufahrt.

Während die Einen eifrig die Felder anlegten, bastelten Andere an der Strom- und Wasserversorgung. Die erforderliche Ackerfläche war schon nach vier Tagen hergerichtet, Anoo und Kuro konnten die südländischen Getreide- und Gemüsesorten aussähen. Mira und Potati pflanzten als Begrenzung die mitgebrachten Büsche und Bäumchen neben den Damm. Außerdem sollte außenherum noch ein Zaun erstellt werden, um die weidenden Huftiere und Kaninchen abzuhalten. Dazu fuhren zwei Mann mit dem Fahrzeug, das schon Schleicher getauft wurde, soweit es ging ins Tal und schnitten Haselnussstecken. Die steckten sie dann um die bestellten Felder herum fest in die Erde, Anoo zog zwei Leuchtschnüre um das Areal und befestigte sie jeweils oben und unten an den Stecken. Die Leuchtschnüre, die Tag und Nacht leuchteten und nicht heiß wurden, hatten sich in der Heimat vorzüglich zur Wildabwehr bewährt. Die Tiere, auch große und schwere, trauten sich nicht, die Schnüre, die eigentlich keinen Wiederstand boten, zu überschreiten.

Von der europäischen Erde waren die Pioniere ganz begeistert. Sie war hell und fest, ließ sich aber leicht aufbrechen und trotzdem war sie so tragend und standhaft, dass man ohne Einsturzgefahr eine Höhle in sie hineinbauen konnte. Die Arbeiter machten sich den Spaß und schaufelten sich einen kühlen Unterstand aus dem Hang. Wochen später wurde er zur Vorratskammer erweitert. Das Wetter war heiter bis wolkig und frisch, die Zeit der Nachtfröste schien aber vorbei. Als die Wolken schwerer und dichter wurden, wurde es für Robbe Zeit, die Rückreise anzutreten.

Zur Verabschiedung fand eine Feier statt, zu der Ebro einen Braten beisteuerte. Bei der großen Auswahl an jagdbarem Wild entschied er sich auf Nummer sicher zu gehen und erlegte eine Rothirschkuh, denn Hirschfleisch kannten alle von zuhause. Die Kuh wurde zerlegt und in Portionen auf solare Weise gegrillt. Die eigenbrötlerische Köchin Inoruu, die selten aus ihrer Küche herauskam und sich noch seltener mit ihren Leuten unterhielt, legte sich schwer ins Zeug. Mit Hilfe von Raputa, Landis und Mak Tauro, dem die Küchenarbeit Spaß machte, zauberte sie ein üppiges Buffet. Es wurde trockenes Holz gesammelt, ein Lagerfeuer entfacht und jeder bastelte sich eine gemütliche Sitzgelegenheit. Nachdem Raputa lieblos „Essen fassen“ zum Lagerfeuer hinübergebrüllt hatte, reihte sich die Crew vor dem langen Buffet ein und lud sich die Teller voll. Nach der besonders vielfältigen Mahlzeit wurden die Alkoholvorräte angegangen. In Miras Kabine befanden sich unter ihrem Bett einige Kisten Wein und Likör. Während des Fluges war Alkoholverbot gewesen, jetzt sollte erstmals in der Fremde gefeiert werden.

Es war eine sehr lustige und ausgelassene Feier, in deren Verlauf die Lieder immer wüster und unanständiger wurden. Jeder stieß mit jedem an, auch wenn er ihn nicht leiden konnte und selbst die kranke Chemikerin, die am nächsten Tag mit in die Heimat musste, versuchte sich noch auf die Schnelle, mit Wella-Likör zu kurieren. Landis und Anoo verschwanden kurzfristig hinter einer Hütte und taten es doch noch im Gras. Manche, besonders die Arbeiter, nutzten freigiebig die Alkoholausgabe und waren nicht mehr im Stande ihr Bett zu finden. Sie blieben bis zum Morgen am Feuer liegen.

Gegen Mittag hob der Wal endlich ab. Die vier Hütten hingen dran, zwei als und Unterkunft und Vorratskammer, zwei waren mit Erde gefüllt. Der Kapitän Robbe Unaraa, sein Navigator Darran Tui, die kranke Chemikerin und ein Geologe, der als Notbesatzung fungierte, verließen Europa. Die Pioniere waren nun auf sich gestellt und mussten alleine zurechtkommen. Am Boden standen sechzehn Südländer und winkten dem Wal nach. Von ihrer Statur her sahen sich alle ähnlich, Frauen wie Männer. Die Frauen geringfügig kleiner, aber auch so kurzgliedrig und gedrungen wie die Männer. Wenn man alle sechzehn nebeneinander stellen würde, aus der Ferne würden sie sich nicht voneinander unterscheiden. Bis auf zwei. Anoo war schmäler, und Ria war schmäler und kleiner als ihre Mitarbeiter.

Von dem zu errichtenden Gemeinschaftshaus stand noch nichts, das gingen sie als nächstes an. Das Holzgebäude wurde vor dem Hang auf ein verdichtetes und nivelliertes Fundament gebaut. Die Küchenhütte diente als Nordseite, Miras Unterkunft mit der Funkkammer als Südseite. Für die zehn Meter dazwischen, hatten sie Dach-, Wand- und Fensterteile. Kaum war der Standort planiert und die zwei Hütten genau platziert, begann ein Dauerregen. Für die Landwirtschaft war das genau richtig, für die Bauarbeiter lästig, denn rings um die Hütten weichte der Boden auf, jeder schleppte Schlamm in die Räume.

Mira stand mit Ebro und Anoo in ihrer Unterkunft und schaute missmutig nach draußen. „Wir brauchen Vordächer, damit Schuhe und Regenkleidung draußen abtropfen können“, sagte sie zum Vorarbeiter.

Der meinte: „Die Hütten haben doppelte Wände. Wenn wir eine auseinander nehmen dürfen, hätten wir einige Vordächer. Zumindest für das große Haus und die Unterkünfte.“

„Wir sollten noch Kies besorgen und einen Weg aufschütten“, schlug Anoo vor, „damit wir nicht im Schlamm zum Essen waten müssen.“

„Ein Halbkreis ist einfach ungeschickt“, schüttelte Ebro seinen Kopf. „Da müsste man endlos Kies herankarren. Am besten stellen wir unsere drei Unterkünfte im rechten Winkel links neben das Gemeinschaftshaus und machen davor einen schönen Kiesweg. “

Die Idee gefiel der Chefin. „Sehr gut. Aber wir stellen sie auf die andere Seite, also nach rechts. Und dahinter kommt die Dusch- und Toilettenhütte, so ist der Weg zum Bach am kürzesten. Wir versehen die Schlafhütten und das große Haus mit Vordächern, machen davor deinen Kiesweg und wenn es den ganzen Tag regnet, sitzen wir drunter und schauen dem Wetter zu.“

„Und wir können die paar Meter zum Essen gehen ohne abzusaufen“, ergänzte Anoo. „Jetzt müssen wir nur noch die Vorräte einer Hütte leerfuttern.“

Mira zeigte in Richtung der angefangenen Höhle. „Die machen wir noch tiefer und zur Vorratskammer, damit wir schneller an Bauholz kommen“.

In Gemeinschaftsarbeit legten sie den Boden aus, stellten Ständer auf, fügten Wandfertigteile ein, montierten Dachsparen, befestigten darauf die doppelten Dachplatten und setzten zum Schluss Fenster und Türen ein. Nach drei Tagen war das Gemeinschaftshaus fertig, Tische und Stühle die bislang im Regen standen, wurden hineingestellt und der Regen hörte auf. Sie tauften das Gebäude auf den klangvollen Namen „Restaurant“.

Während die Höhle gebuddelt, eine Hütte ausgeräumt und zu Vordächern verarbeitet wurde, die Arbeiter am Fluss Kies für den Wegebau besorgten, beschäftigten sich Anoo, Kuro und Potati mit einer Extraaufgabe. Aus dünnen Platten bauten sie links des Restaurants, gleich bei der Küche, sechs Pilzbeete. Mit dem Schleicher und dem zusammengebastelten Anhänger fuhren sie in der Ebene umher, sammelten den Dung der Tiere ein und erfreuten sich an den Herden, die immer wieder an ihrer kleinen Siedlung vorbeizogen. Alle Tiere zogen nach Norden. Anoo nahm immer ein Schießgerät mit, er konnte damit umgehen. Zuhause fischte er nicht nur, auf dem weitläufigen Besitz der Wutakees jagte er auch Säugetiere, um den Verbiss klein zu halten und die Sippschaft mit Fleisch zu versorgen. Hier im Flusstal rechneten sie ständig mit Wölfen und insgeheim auch mit Großkatzen. Wo so viele Säugetiere grasen, musste es auch Tiere geben, die den Überschuss abschöpfen.

Fleisch gab es genug, deshalb wurden die Steak-Pilze erst gar nicht angebaut. Beim Pilzanbau ging es in erster Linie um Gemüsepilze, um die Pilzarten, die Vitamine und Spurenelemente lieferten und um die, aus denen die Laborantin Medikamente gewinnen konnte. Die Pilze brauchten unterschiedliches Substrat. Ein Beet wurde nur mit Dung gefüllt, für ein anderes mischte man den Dung mit Erde, bei noch einem anderen kamen Holzschnipsel hinein. Ein ganz spezieller medizinischer Pilz, der sich ein halbes Jahr entwickeln musste bis man die Früchte, also die Hütchen, ernten konnte, verlangte Totholz, viel Totholz, das mit Küchenabfällen gemischt wurde. Noch gab es weder nennenswerte Küchenabfälle oder Totholz. Letzteres gab es nur im Wald oder am Flussufer, an beides war schlecht ranzukommen. Vor dem Wald standen die Hügel im Weg, vor dem Flussufer die Kieshalden.

Anoo reservierte sich für einen halben Tag den Schleicher, nahm eine Säge und Kuro mit und stach in die Hügellandschaft, um bis zum Waldrand einen Weg zu bahnen. Wie er, war auch Mira der Meinung, dass sie auf die Produkte des Waldes angewiesen waren, ein Weg dorthin konnte nur von Vorteil sein. Wenn die Täler trocken wären, hätte man bis zu deren Ende fahren können und stünde am Waldrand. Doch durch jedes noch so kleine Tal plätscherte ein Bach der sich einbildete, die komplette Fläche in Anspruch nehmen zu dürfen. Überall gab es eine Stelle, an der die Gewässer so frech waren und die Talseite wechselten und somit die Durchfahrt versperrten. Der Hügel an dem ihre Hütten standen, lief nach Norden flacher aus. Deshalb fuhr Anoo um ihn herum und begann mit dem Aufstieg im Norden. In Schräglage kletterte das Geländefahrzeug die Flanke hoch und suchte nach befahrbaren Bereichen, denn der Hügel war von alten Dachsbauten deformiert, an manchen Stellen war Erde abgerutscht. Der eher unauffällige Kuro der sich nie beschwerte und brav machte was ihm geheißen wurde, saß erstarrt neben Anoo, wenn dieser mal wieder abwärts zurücksetzte oder in extreme Schräglage kam. Beiden traten Schweißperlen ins Gesicht, Anoo vor Anstrengung, Kuro vor Angst. Wer so fern der Heimat einen komplizierten Knochenbruch erlitt, würde vielleicht nie wieder der Selbe werden. Erst Ende Oktober sollte der Wal zurückkommen.

Nach einer Stunde, während der sie eineinhalb Mal um den Hügel gefahren waren, hatten sie es geschafft auf die Kuppe zu kommen. Anoo stieg oben aus, jauchzte ins Lager hinab, was alle Anwesende aus den Hütten lockte, winkte ihnen zu und suchte dann gründlich mit dem Fernglas die Landschaft ab. Er sah Kamele, zweihöckrige, das musste er Ria melden. Die Kleinste und Jüngste unter ihnen, hielt er für eine sehr intelligente und furchtlose Frau, die durch reine Überlegung jede Situation, die Mira und Anoo oft nach Bauchgefühl beurteilten, richtig einschätzen konnte. Obwohl sie wegen ihrer zutreffenden Einschätzungen von anderen beneidet wurde, litt Ria unter dieser Fähigkeit. Er hatte sich mit ihr einmal kurz darüber unterhalten, Ria hätte gerne ein Bauchgefühl wie die anderen, kannte das aber nicht.

Weit und breit schien es nur einen Weg zu geben, der zum Wald führte. Das saftige, dunkelgrüne Gras vor dem Wald, das nassen Untergrund anzeigte, wurde nur an einer Stelle durchbrochen. Seinen Hügel und den Wald verband ein kleiner Rücken, der sich wie der Kamm einer Dünne durch die Hügellandschaft schlängelte und vielleicht befahren werden konnte. Langsam zuckelten sie nach Osten, Anoo stand mehr als er saß, um die alten, von Kaninchen, Füchsen und Dachsen gebuddelten Löcher rechtzeitig zu sehen. Es gab auch Risse in der Erde die anzeigten, wo beim nächsten Unwetter der Hang abrutschen würde. Doch sie kamen bis zum Waldrand, der einen ziemlich angefressen Eindruck machte. Einige dutzend Ziegen rannten davon, blieben dann stehen und schauten ungläubig dem Radfahrzeug hinterher. Es war herrlicher Mischwald, in dem gerade wilde Obstbäume blühten. Ein unbekannter Baum blühte gelb, die anderen entfalteten ihre leuchtend grünen Blätter.

Die zwei Männer suchten nach einem ausgetrockneten, umgestürzten Baum. In einem Gewirr von Schlingpflanzen fanden sie das Gesuchte und zerteilten die Äste in transportable Größe. Mit einem Seil zusammengebunden, wurden sie zu den Pilzbeeten gezogen und dort abgelegt. Anoo musste noch einen frischen Baum besorgen und nun wusste er, wie er an dem Hügel vorbei zum Waldrand kam. Wenn er auf der Südseite in eine Falte hineinfuhr, kam er nach einem Kilometer auf seinem neuen Höhenweg heraus. Zuvor berichtete er Ria von den Kamelen. Sie ließ alles liegen und stehen, schnappte sich ihr Fernglas und fuhr mit, Kuro setzte sich nach hinten. Wenn der Schleicher auf einer nassen Stelle, die es manchmal gab, rutschte oder besonders schräg den Hügel erkletterte, machte sie nicht eine Bemerkung, sie schaute und schaute, damit ihr ja kein Viehzeug entging.

Oben zeigte Anoo auf die weidenden Kamele, Ria beobachtete ausdauernd. Er stand neben ihr und betrachtete von der Seite ihr Gesicht und die Haut ihres Armes, sie sah makellos und weich aus. Ihr Hals war der dünnste den er je gesehen hatte und ihre Haare waren um einiges feiner als Landis Haare, die ihm gegen Rias Pracht wie Borsten vorkamen. Und sie duftete, nicht nach Seife oder so, nein, sie duftete nach Sonne, ihre Haut produzierte gerade Vitamin D und gab Sympathie von sich. „Oh, Mann“, dachte Anoo, „was für eine herrliche Frau, und viel verträglicher und verständnisvoller als Landis. Wenn es dumm läuft, findet sie einen Freund und ich werde zuschauen müssen, wenn sie mit ihm herumknutscht und sich von ihm anfassen lässt.“ Er überlegte, wer als Freund für sie in Frage kam. Von den Forschern eigentlich nur der Archäologe Separa, die anderen waren trübe Tassen. Von den Arbeitern aber Mak Tauro, der konnte es sogar mit Landis gut und unterhielt sich oft mit ihr. Auch wenn Mak kein Studierter war, gehörte er unverkennbar zu den Cleveren, er begriff schnell und konnte gut erklären. Und er bestach durch Charme. Vermutlich konnte er auch gut Frauen um den Finger wickeln.

Die zwei Männer fuhren nochmals zum Wald, fällten einen Baum, zerteilten und befestigten ihn am Fahrzeug und Ria beobachtete und spähte. Anoo musste immer wieder ihr Hemd und ihr Gesäß inspizieren und stöhnte innerlich: „Die Frau muss sich toll anfühlen.“ Wieder zurück im Lager, wurden Alt- und Frischholz zerstückelt, gemischt und in das größte Pilz-Beet gestreut. Nach dem es reichlich mit Wasser begossen war, wurde es auch noch abgedeckt.

Die Gruppe verfügte über ein richtiges Fernrohr, mit dem man bis hinüber zum parallel verlaufenen Gebirge sehen konnte. Mira, Ria und Ebro machten oft Ausflüge oder saßen auf dem Hügel und beobachteten die Tierwelt. Die Damen mit Fernrohr und Fernglas, Ebro mit Waffe. Insgeheim suchten sie Elefanten. Wenn es hier afrikanische Tiere gab, die vielleicht aus einem Zoo entlaufen oder sogar aus Afrika eingewandert waren, konnte das auch auf Elefanten zutreffen. Und sie suchten nach Großkatzen; diese vielen Huftierherden mussten doch auch Jäger anziehen. Das Hunderudel hatte sich natürlich als Wolfsrudel herausgestellt. Das Rudel wurde noch mehrmals gesichtet, aber immer in mehreren Kilometern Entfernung.

Anoo kontrollierte gerade wie jeden Tag die Leuchtschnüre und fand es wie immer unglaublich, dass man mit so einem minimalen Aufwand wilde Tiere fernhalten konnte, als er von Mira gerufen wurde. Sie würde mit Ria in den Hügeln auf die Pirsch gehen und bräuchte jemand mit Schießgerät. Ebro sei mit anderen in der Ebene, um zu jagen. Das ließ sich Anoo kein zweites Mal sagen, überhaupt plagten ihn Gedanken wie er es schafft, Ria in die Landschaft zu locken. Immer eine neue Tierart finden zu müssen, konnte auf Dauer nicht funktionieren. Die zwei Frauen erwarteten ihn mit vollen Umhängetaschen, die Wanderung konnte länger dauern. Anoo freute sich und steckte belegte Brote ein, die Inoruu vorbereitet hatte und eine Kunststoffflasche voll Tee.

Sie wanderten nach Süden. Am Wasserlauf zogen sie die Schuhe aus und krempelten die Hosen hoch. Die Bäche waren alle flach. Es wurde aber weniger eine Wanderung als eine Pirsch. Vorsichtig schaute Ria um jede Biegung und hinter jedem Busch hervor, wenn es einen gab und Anoo freute sich an ihren katzenhaften Bewegungen. Nach einer halben Stunde scheuchten sie zirka fünfundzwanzig Rehe auf, die sich tagsüber in den Hügeln versteckten. Sie sahen einen Fuchs vor seinem Bau, der bestimmt Junge hatte, ein braunes Hermelin, fanden Frösche, Molche und eine Schlange. Anoo sprang ihr hinterher und drückte ihr das Schießgerät ins Genick. Ria nahm die Schlange auf und wusste sofort, dass sie Ringelnatter genannt wurde. Sie hielt das Reptil im Nacken und wurde von ihm mit weit aufgerissenem Schlund angefaucht. Das Maul der Schlange war zahnlos, sie war also ungefährlich. Leider überlebte sie die Untersuchung nicht, Anoos Druck war zu heftig gewesen.

An einem trockenen nach Osten ausgerichteten Hang huschten braune und grüne Eidechsen herum. Anoo entdeckte eine andere aber kleinere Schlange, die sich sonnte. Er stürzte sich auf sie und wurde prompt gebissen, diese Schlange hatte Zähne. Er wusste von den tödlich giftigen Schlangen Australiens und stand kurz vor der Panik. Mira und Ria kannten die Harmlosigkeit der europäischen Schlangen. Mira klebte ihm ein desinfizierendes Pflaster auf den gebissenen Finger. „Das war eine harmlose Schlingnatter“, sagte Ria dazu. „Wenn ich mich täusche und es war eine Kreuzotter, wird dein Arm bald dick. Dann wäre es besser, zurückzugehen.“ Ria hatte sich alle verfügbaren Tierbücher zu Gemüte geführt. Besonders oft die der afrikanischen Tiere. Kurz vor der Reise hatte sie sich mit den europäischen Arten beschäftigt. Außer bei den Insekten, war sie beim Bestimmen aller Arten sattelfest.

Sie standen vor einem breiten Tal in dem es nur so von Wasser glänzte, verspürten aber keine Lust, durch einen tausend Meter breiten Sumpf zu waten, es würden bestimmt noch trockenere Zeiten kommen. Also beschlossen sie im Kreis zu gehen, begaben sich in Richtung Wald und würden dann dort Anoos Fahr- und Schleifspuren kreuzen. Plötzlich blieb Ria abrupt stehen: Hinter dem Sumpf standen fünf dunkle Punkte. Ria hob die Gläser vor ihre Augen und schaute und schaute. „Anoo, was siehst du?“, forderte sie ihn auf ebenfalls zu schauen. Nach einer Minute meinte er: „Große Antilopen mit kurzen Hörnern.“ „Genau. Wenn mich nicht alles täuscht sind das Elan, die größten und schwersten Antilopen der Welt. Ein Bulle, zwei Mütter und zwei Jungtiere. Auch die gehören eigentlich nach Afrika.“

Kurz vor dem Waldrand stiegen sie nach oben. Bevor sie oben ankamen hielt Ria wieder an und lauschte. „Hört ihr das?“ flüsterte sie. „Da wühlt irgendwas. Hier muss es auch Wildschweine geben. Komisch, dass wir noch keine gesehen haben.“ Langsam, den Kopf nach oben gereckt, was ihren Hals noch dünner und länger machte, stieg sie hoch, Mira und Anoo folgten. Oben grub ein großes, braunes undefinierbares Fellknäuel in der Erde. Das Tier befand sich genau auf Anoos Fahrspur, die es vermutlich aus dem Wald gelockt hat. Die drei standen ratlos herum und Anoo kam das Tier doch ein wenig groß vor. Es war deutlich größer als ein Schwein. Plötzlich hob es den Kopf und eine Sekunde später stand es auf den Hinterbeinen und überragte die Südländer bald um einen halben Meter.

„Ein Braunbär“, schrie Ria. „Schreit, brüllt, macht Lärm“ und sie quickte wie am Spieß. Mira und Anoo brüllten sich die Seele aus dem Leib, Ria schleuderte ihre Umhängetasche hinter den bedrohlich nahe gekommenen Bär. Der ließ sich auf alle Viere nieder, drehte sich um, schnappte sich Rias Tasche mit den belegten Broten und rannte wie von Hornissen verfolgt zurück in den Wald.

„Oh Scheiße“, stöhnte Anoo und griff sich ins Haar. „Das plumpe Vieh rennt ja schneller als ein Mensch.“

„Was bin ich doch blöd“, schimpfte sich Ria. „In Europa gibt es Bären und keine Tiger und Löwen.“ Kopfschüttelnd ging sie weiter.

Anoo sagte zu Mira. „Wenn in so einer prickelnden Situation jemand sofort weiß was zu tun ist, finde ich das schon enorm.“

Mira nickte. „Ja, irgendwie beruhigend. Aber mich beunruhigt auch etwas. Hier haben zwei Gefallen aneinander gefunden. Das kann Streit und Ärger bringen.“

Am Abend saß Anoo ganz alleine auf dem Hügel und schaute nach Westen. Zu Fuß hatte er das Fernrohr nach oben geschleppt und suchte die Ebene bis hinüber zum anderen Gebirge nach Tieren ab. Die wenigen Säugetiere die dort noch grasten, verfolgten keine bestimmte Richtung, es waren wohl die Tiere, die ganzjährig hier lebten, der Zug nach Norden war durch. „Hier haben zwei Gefallen aneinander gefunden“, hatte ihm Mira gesagt. Das konnte nur heißen, dass er auch Ria gefiel, nach Miras Meinung. Anoo saß da und schaute mit offenen Augen über das Grasland, ohne etwas zu sehen. Er spürte einen nicht zu erklärenden positiven Einfluss auf seine Psyche. Dabei durchströmen ihn angenehme Gefühle, in seinem Innern breitete sich eine unerschütterliche Ruhe aus.

Und nun, nach diesem Bärenerlebnis, hier oben in der untergehenden Sonne, fühlte er deutlich, dass er ein Anderer geworden war. Er wusste nicht, an was es lag. Lag es an der fremden Luft? Oder an der übersichtlichen Landschaft? Am Tierreichtum und der endlosen unversehrten Natur? Auf jeden Fall: Seit seiner Ankunft in Europa war er gelassener, ausgeglichener, sein Hirn schien strukturierter, seine Gedanken klarer. Alles sah er überaus deutlich und auf einmal konnte er sich sogar von außen betrachten. Mit offenen Augen sah er sich in der untergehenden Sonne auf dem Hügel sitzen und zum Lager hinunterschauen, schwebte um sich herum und befand sich in einem Gefühl absoluter Zufriedenheit.


Die Wiederbesiedelung der Welt

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