Читать книгу Die Wiederbesiedelung der Welt - Hans Joachim Gorny - Страница 5

Der Wal

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Über die größte Bedrohung aber redeten die Beiden nur wenn es nicht anders ging, denn diese Bedrohung war zu real, man konnte ihr nichts entgegensetzen und sie auch nicht bewältigen. Das Klima wurde zusehends kälter. Es wurde nicht gleichbleibend kälter, aber immer öfter wurde vor allem die Südinsel von empfindlichen Kälteeinbrüchen heimgesucht, die Teile der Ernten zerstörten. Wenn es im Winter frostig wurde und man Schneestürmen trotzen musste, konnte man in einem stabilen Haus mit guter Heizung überdauern. Kälteeinbrüche im Sommer jedoch schädigten Setzlinge, Getreide und Obstbäume und zerstörten Existenzen. Und sie nahmen der Nation Anbauflächen. Die Einwohner des Südens verließen ihre Insel in Scharen, dort lebten keine zwei Millionen Menschen mehr. Dass die Kälteeinbrüche keine Laune der Natur waren, zeigten die Eiskappen der Pole, die Jahr für Jahr mächtiger wurden. Die Erde ging einer neuen Eiszeit entgegen. Seit Anoos Geburt zeigte sich das auch optisch, denn der Meeresspiegel sank, nachdem er einige tausend Jahre lang gestiegen war. Die große Hafenstadt Hickten, über die das Meiste importiert wurde, bekam Schwierigkeiten mit der Wassertiefe ihres Beckens. Wenn der Spiegel weiterhin fiel, musste ein neuer Hafen gebaut werden. Oder man stieg auf Wale um, die aber lange nicht so viel transportieren konnten wie ein Frachtschiff.

Die Fläche der Nordinsel würde bei intensiver Landwirtschaft zur Versorgung der zwanzig Millionen Einwohnern ausreichen. Theoretisch. Leider waren ganze Landschaften wenig fruchtbar. Nachdem die meisten Menschen ausgestorben waren, hatten die Wälder die Insel zurück erobert. Den wenigen Überlebenden reichten für den Anbau ihrer Nahrungsmittel ein paar Lichtungen, den Rest der Insel beherrschten vor allem die Kauri-Bäume. Als die Menschen wieder mehr Anbauflächen benötigten, um die vielen neuen Mäuler satt zu bekommen, rodeten sie natürlich diese Wälder. Die Kauris lieferten bestes Holz für die Häuser und später auch für die Schiffe. Nur, dort wo Kauri-Bäume standen, blieb der Boden wenig ertragreich, die meterhohe Schicht der abgeworfenen Rinde verhinderte die Humusbildung, Mikroben konnten keine Nährstoffe herstellen.

So wurden die Flächen abgebrannt, um sie als Weideland zu nutzen. Doch es wuchs kein Gras, auf jeden Fall keines, das Tiere fressen konnten. Was kam, waren harte und scharfe Gräser, die zu nichts zu gebrauchen waren. Die landhungrige Bevölkerung brannte die Flächen Winter für Winter ab und erst nach Jahren wuchsen Gräser, die Ziegen, Schafe und Hirsche ernährten. Durch die nun üppigen Weiden vermehrten sich die freilebenden Hirsche rasant und lieferten begehrtes Fleisch. Aber die Weiden taugten nicht für den Ackerbau. Bei diesen trüben Aussichten war die Nation dazu verdammt, ihre Inseln zu verlassen. Das wusste der Großvater, den es nicht mehr treffen würde, das wusste Anoo und vor allen Dingen wussten es die Regierung und ihr Präsident Kaloo.


Anoo wusste aber nicht, weshalb er in die Welt geschickt wurde. Sollte er, wie andere Pioniere, Pflanzen, Pilze und Tiere sammeln, landwirtschaftliche Flächen erschließen oder sogar mit Anderen eine Stadt gründen? Er wusste nur, dass es nach Europa ging. Aber vorerst war noch Urlaub angesagt, während sein Wal auf Vordermann gebracht wurde. Er ging mit Landis wandern, fuhr mit ihr auf dem Sozius in der Landschaft herum, besuchte mit ihr Freunde und Bekannte und Landis war friedlich wie noch nie. „Wenn sie mit mir auf Reisen geht, wird sich das schon legen“, grinste er in sich hinein. „Dann wird sie sich wieder an Kleinigkeiten stören, damit die Gemeinsamkeit nicht allzu ruhig verläuft.“ Ihre Friedlichkeit ausnutzend, wollte er sie zu einem Angelausflug überreden, doch sie weigerte sich. Obwohl sie schwimmen konnte, war sie trotz gutem Zureden nicht auf ein Schiff oder in ein Boot zu kriegen. Jetzt konnte man sich fragen wie Landis, die ja von der Südinsel kam, es auf die Nordinsel ins Institut schaffte. Landis flog, ihre Eltern hatten Geld und konnten ihre Kinder im Flugzeug umherschicken. Was natürlich auch viel schneller ging, als auf dem Land-, dann See- und wieder Landweg in die Hauptstadt zu fahren. Es gab auch einige Fluglinien, die Reichen flogen mit Solarflugzeugen zu ihren Zielen. In Südland funktionierte das Meiste über solare Stromerzeugung. Fliegen, Fahren, Heizen, Kochen und Beleuchten wurden durch effektive Module und Stromspeicher ermöglicht.

„Möchtest du wenigsten einmal schnorcheln? Interessiert du dich dafür, wie es unter dem Wasserspiegel aussieht?“ versuchte er es auf Umwegen.

„Schwimmen in einem Becken finde ich in Ordnung, ich vertraue meinem Körper. Aber ich traue weder einem Boot, noch dem, was sich darunter abspielt“, erklärte sie unwirsch. Anoo stöhnte. Dann hatte er eine neue Idee.

„Ich habe einen Kumpel mit einem Boot, dem eine Glasplatte in den Boden eingebaut wurde. Damit kann man auf bequeme Weise die Unterwasserwelt anschauen.“ Als Landis zögerte fuhr er fort. „Das Boot liegt an einem Steg. Wir steigen einfach ein und schauen durch das Glas ohne abzulegen. Einverstanden?“ Sie nickte, kurz darauf jagten sie mit dem Motorrad zu dem besagten Kumpel. Anoo fragte erst gar nicht und strebte mit ihr gleich dem Steg zu. Er sprang in das Holz-Boot, das für mindestens zehn Touristen Platz bot und half Landis hinein. Als es dabei schwankte, riss sie angstvoll die Augen auf.

„Schau nach unten, schau durchs Glas.“ Sie bückte sich und sah kleine Fische herumschwimmen. Beide beobachteten längsgestreifte und gescheckte Fischchen. Dann kamen größere, bläuliche, mit weißem Bauch und weißen Seitenstreifen.

„Die schmecken sehr gut“, wusste er. Sie beobachteten weiter ohne zu reden. „Wenn ich jetzt hier am Ufer entlang rudere“, unterbrach er die andächtige Stille, „sieht man noch andere Fischarten, verschiedene Wasserpflanzen und vielleicht auch Krebse und Seesterne.“

Landis sah auf. „Als Kleinkind habe ich erfahren, wie unstabil so ein Boot sein kann. Ich war auf einem Boot mit fünfzehn Kindern, die Unsinn machten und das Boot zum Kentern brachten. Alle Kinder wurden gerettet, bis auf eins, das ich auch noch gut kannte. Es wurde von einem Fisch unter Wasser gerissen. Oft fühle ich im Schlaf noch das Schwanken des Bootes, bekomme ein Panikgefühl und wache davon auf.“

„Jetzt ist mir einiges klar“, versuchte Anoo verständnisvoll zu klingen. „Hast du kein Vertrauen zu mir?“ Landis antwortete nicht und sah weiterhin durchs Glas. „Ich löse jetzt die Leine und rudere am Ufer entlang und du schaust nur durchs Glas.“ Ihr Blick blieb am Glas haften, Anoo tat wie angekündigt. Nach einigen Minuten beschrieb sie was sie sah. Taschenkrebs, rote Fischchen, schlanker Seestern, weitverzweigte Wasserpflanze, große Schnecken, Braunalgen mit Fischbrut. Auf einmal schoss ein großer Fisch unter dem Boot hindurch und Landis schrie laut auf. Dabei war es nur die kleinste Delfinart die es gab, Hector-Delfine, die gerade mal einen Meter lang wurden. Das Delfinchen sprang noch kurz aus dem Wasser und war auch schon wieder weg.

„Ich will zurück“, sagte sie fordernd.

Anoo ging kein Risiko ein und ruderte vorsichtig zum Steg. „Immerhin hast du nun mal wieder eine Bootsfahrt gemacht. Das kommt dir bestimmt zu Gute, wenn du in Europa einen Fluss überqueren musst.“

„Was, du gehst nach Europa?“ schrie sie.

Er hielt den rechten Zeigefinger vor den Mund. „Pst. Wir gehen nach Europa.“

„Glaubst du daran? Wie lange ist man da unterwegs?“

„Tage. Mit Zwischenaufenthalten, Wochen.“


Im Land der Wutakees gab es keine Sonnenaufgänge, denn die fanden hinter einem mächtigen Vulkankegel statt. Irgendwann im Laufe des Morgens war die Sonne, wenn sie schien, auf einmal da. Je nach Jahreszeit früher oder später. Im Hochsommer dauerte es besonders lange, weil dann das Gestirn die ganze Höhe des Kegels auskostete. Im Gegensatz zu anderen Vulkanen der Nordinsel war dieser kaum aktiv. Die Farmer konnten die fruchtbaren Vulkanböden nutzen, ohne vor einem Ausbruch Angst zu haben. Diesen hohen Berg wollten Landis und Anoo, quasi als Krönung ihres gemeinsamen Urlaubs, besteigen. Sie steckten Trinken, Essen und ein Toky ein und fuhren mit dem Geländemotorrad den Berg hinauf soweit es ging. Das Krad ließen sie bei einer Hütte stehen und wanderten auf uralten Pfaden weiter. Unter ihnen lagen die endlos vielen Baum-Quadrate, die Farmgebäude der Familien, Lupinenfelder und der hier inselfreie Ozean. Das Pärchen ärgerte sich gerade über aufziehende Wolken, als Anoos Toky piepste.

Das Toky war das Funkgerät für unterwegs. Es war rund, schwer, länger als eine Hand und lag auch gut darin. Wer sich eines leisten konnte, hatte an seiner Hose eine spezielle Außentasche, um damit anzugeben. Dieses Gerät war das Höchste an Erfindung, was die Südländer bislang hervorgebracht hatten. Anoo griff in seine Außentasche und nahm das Toky heraus, der Anrufer war Landis Mutter Belta. Er reichte das Gerät weiter, Landis stellte lauter, hielt es mit beiden Händen vor sich und grüßte brav ihre Mutter. „Dein Institut hat hier angerufen“, begann Frau Sinada das Gespräch. „Die Regierung hat dich für eine Reise nach Europa ausgewählt.“ Ihre Frage „Wusstest du davon?“ ging im Jubel des Paares unter. Landis umschlang Anoo, sie drückten und küssten sich leidenschaftlich, beiden war eine große Last genommen.

„Ich glaube, ich habe soeben erfahren, dass ihr Beide nach Europa geht. Wo seid ihr eigentlich?“ hörten sie Belta.

„Wir stehen auf einem Vulkan und genießen jetzt schon die weite Welt“, rief sie über das Toky hinweg in die Weite hinaus.

„Bevor du für lange Zeit entschwindest, hätten wir dich gerne zuhause. Du darfst auch gerne Anoo mitbringen“, setzte sie noch säuerlich hinzu. Sie wusste von Schakos Abneigung ihrer Familie gegenüber.

„Darf Koa auch mit nach Europa?“ fragte Anoo dazwischen.

Die Alte holte Luft. „Der hat keine Nachricht erhalten. Wir würden auch ungerne beide Kinder verlieren.“

Landis schnaubte. „Mama, mach bloß kein Drama draus. In der Regel kommen alle wieder zurück, wenn sie keine Dummheiten machen.“

„Deshalb ist es besser wenn Koa hier bleibt“, meinte ihre Mutter.

„Da habt ihr doch bestimmt dran gedreht“, sagte Landis in anklagendem Ton. „Vermutlich werde ich mit einem riesigen Fest verabschiedet und mein Bruder muss mit langem Gesicht zuschauen.“ Die Mutter antwortete nichts. „Also gut, wir kommen sobald wir können“, beendete die Tochter das Gespräch.

In der Zwischenzeit hatte sich der Himmel weiter verdunkelt. „Es ist besser, wenn wir zurückgehen. Im strömenden Regen auf einem Berg zu stehen ist nicht besonders erhebend“, meinte Anoo und sie machten sich an den Abstieg. Nach dem Abendessen feierten sie mit Rotwein, erzählten davon, was sie alles entdecken wollten und warfen sich launige und witzige Bemerkungen zu. Auch der Großvater schaute vorbei und beglückwünschte Anoo und Landis zu der Chance, als erste Südländer in Europa eine Familie zu gründen. Landis wurde tatsächlich rot, Anoo musste sie sekundenlang anschauen, dann boxte sie ihm schmerzhaft auf den Oberarm. Schako lachte und klopfte ihr freundschaftlich auf die Schulter. Nun fühlte sie sich von den Wutakees aufgenommen.


Am Freitagmorgen der letzten Ferienwoche musste Anoos Vater wegen irgendwelcher Anträge in die Hauptstadt. Die Weltreisenden in spe nutzen die Gelegenheit, um Diensteifer vorzutäuschen und frühzeitig zu ihrem Wal zu kommen. Helster setzte sie direkt vor der Werft ab. Die Beiden ließen ihre Reisesäcke beim Pförtner stehen und schlenderten auf das Gelände. Das Werftareal beherrschten zwei riesige Hallen, Landis und Anoo sahen zuerst in die Eine, dann noch in die Andere. In beiden Hallen wurden Wale montiert - neue, nicht ihrer. Hinter den Hallen standen unübersichtlich große Gerippe herum, Dutzende von Kisten in Garagengröße, Schuppen für Ersatzteile und Kräne für die Montage.

Dann wussten sie sofort, dass ihr zukünftiges Reisemittel vor ihnen stand, oder lag, oder schwebte, wie man es wollte. Die Zigarren waren soweit aufgeblasen, dass man die lustigen bunten Gemälde darauf erkennen konnte, die ehemalige Crew-Mitglieder aufgetragen hatten. Die im Grundton hellbraunen Zigarren waren sechzig Meter lang, maßen voll aufgeblasen fünfzehn Meter im Durchmesser und vier Zigarren hingen nebeneinander. Wer um das Luftfahrzeug herum ging stellte fest, dass es acht Zigarren waren, vorne vier und hinten vier. Oben, in der Mitte der Zigarren, lag fest vertäut auf einem Bambusgitter, die Solarpaneele zur Stromerzeugung. Die Rundungen der Zigarrenfront zierten aufgemalte Gesichter, die mit aufgerissenen Augen oder mit Schlitzaugen Landis und Anoo entgegen sahen. Darunter prangten weit aufgesperrte gezahnte oder grinsende Münder; runde oder spitze Ohren umrahmten die Gesichter, Runzeln und Lachfalten verfeinerten die Physiognomie. An der einen Längsseite des Wals war auf die vordere Zigarre die Vulkanlandschaft der Nordinsel gemalt, einer der Vulkane rauchte, einer eruptierte. Auf die hintere Zigarre, eine schneebedeckte Gebirgslandschaft, die nur die der Südinsel sein konnte. Über die ganze Länge der anderen Seite wanden sich bunt geringelte Schlangen, obwohl es auf den Inseln keinerlei Schlangen gab. Aus ihren aufgesperrten Rachen ragten gleich acht lange Zähne heraus. Vielleicht eine Anspielung auf die acht Zigarren.

Zusammengehalten wurden die Zigarren von einem Gestell aus gebündelten Bambusstangen. Die Forschung hatte bis dato kein besseres Material gefunden. Wenn Bambus in einem Sturm brach, hieß das noch lange nicht, dass es sich auch zerteilte. Nichts war stabiler, als dünne Bambusstangen zu bündeln und in Punkto Elastizität war Bambus unübertroffen, das richtige Material für sturmgepeitschte Konstrukte. Das Gitter das unter den Zigarren hing, war weder zusammengeschraubt, geklammert noch genietet, es war mit einheimischen Flachs zusammengebunden. Auch das hatte sich als die stabilste Konstruktion erwiesen und konnte unterwegs leicht repariert werden.

Also, die Zigarren schwebten festgebunden an einem Gitter aus leichten, langfaserigen und biegsamen Bambusstangen. Unter dem Tragegitter befanden sich vorne eine große Kabine und hinten, zwischen den Zigarrenenden, drei Elektromotoren mit Propellern. Zwischen Kabine und Motoren hingen zahlreiche Flaschenzüge, an denen vor den Reisen die garagengroßen Transportbehälter befestigt wurden. In manchen dieser Kisten schlief die Crew, in anderen befanden sich WC, Werkzeug, Baumaterial, Fertigteile für den Hausbau, oder Geländefahrzeuge. Nicht zu vergessen, Essen und Trinken. Mit den Flaschenzügen konnten die Kisten auch auf unebenem Gelände heruntergelassen werden.

Gefüllt waren die Zigarren mit Wasserstoff. Essentiell für jeden Wal war deshalb der mitgeführte Motor, der Gas nachproduzierte. Für eine Landung wurde Gas abgelassen, das man für den Start wieder nachfüllen musste. Deshalb inspizierten Anoo und Landis als erstes diesen Motor, der gleich hinter der großen Kabine hing. Die Kabine schwebte mannshoch über der Erde, eine Seitentür war geöffnet, darunter stand eine Bockleiter, um bequem einsteigen zu können. Die Beiden kletterten hinauf und sahen zuerst nach dem Gasmotor, der einen sehr gepflegten Eindruck hinterließ. Sie sahen sich in der Kabine um. Den Sitzplätzen nach war sie ein, wenn auch enger, Aufenthaltsraum für zwanzig Personen. Es gab eine Möglichkeit zum Kaffee und Tee kochen. Am mittleren Frontfenster befanden sich ein Lenkrad das das Seitenruder sowie eine Stange, die die Höhenruder bewegte. Sie sahen drei Schieber, mit denen der Antrieb beschleunigt oder gedrosselt wurde und diverse Armaturen, Knöpfe und Kontrollleuchten.

„Das sieht ja alles ganz ordentlich aus“, fand Landis. „Und wo werden wir schlafen?“

„Da werden Kisten angehängt, in denen stehen drei Doppelstockbetten. Da muss auch unser persönliches Gepäck hinein.“

Es kam ein langgedehntes „Waaas? Wir haben kein eigenes Zimmer mit Doppelbett, keine Privatsphäre? Hoffentlich sind wir möglichst schnell in Europa, damit ich mit dir in den Wald kann“. Anoo schlug ihr mit der flachen Hand kräftig aufs Gesäß und rutschte flugs die Bockleiter hinunter, um sich die Elektromotoren im hinteren Bereich anzuschauen. Zusammen suchten sie noch das Bambusgitter nach offenen Knoten ab, konnten aber am ganzen Gefährt keine Mängel finden. Einige Tage vor dem Start der Weltreise, sollte noch ein längerer Probeflug stattfinden.

Ab Montag ging jeder seiner gewohnten Beschäftigung nach. Auf die Ausrüstung des Wals hatten sie keinen Einfluss, man fragte sie auch nicht nach irgendwelchen Ideen und Wünschen. Sie durften mit, um als Handlanger der Forscher und Wissenschaftler das auszuführen was befohlen wurde. Die Tage und Wochen zogen sich zäh dahin und wollten nicht enden. An den Wochenenden lungerten die Beiden herum und spekulierten, was auf sie zukommen könnte. Bislang wussten sie rein gar nichts, nur, dass es nach Europa ging, was sehr weit weg lag, auf der gegenüberliegenden Seite der Erde. Sie wussten weder ob Süd, West, Ost und hoffentlich nicht das kalte Nordeuropa. Sie wussten nicht, ob an der Küste, im Inland oder in einem Gebirge, ob sie nach Bodenschätzen suchen, Felder anlegen oder ganz einfach nur Flora und Fauna untersuchen sollten.

In einer Mittagspause passte Anno seine Chefin Mira Feensal ab und meinte zu ihr, dass er die Ungewissheit nicht mehr ertragen könne. Sie beruhigte ihn, es sei eine ganz normale Forschungsreise. Die Geheimniskrämerei hätte einen einfachen Grund: Man wolle verhindern, dass die Besatzung befreundeten Abenteurern einen Tipp gibt. Diese vermuteten hinter jeder Reise mit dem Wal gleich eine größere Sache und befänden sich dann schon im Zielgebiet, wenn die offizielle Expedition ankam. Dieses Argument leuchtete Anoo ein und die folgenden Tage verfiel er in Fatalismus. An einem Morgen brachte ihm Feensal grinsend mit den Worten „es wird ernst“ einen offiziellen Brief an seinen Arbeitsplatz. Er riss ihn auf und überflog die Worte:

Mittwoch 20.03. 312 - ab 8 Uhr – Vierundzwanzig Stunden Probefahrt.

Freitag 22.03. bis Dienstag 26.03.312 - Urlaub, Gelegenheit alles zu regeln und sich von der Familie zu verabschieden.

Donnerstag 28.03.312 - Abfahrt nach Europa.

Mit einem Wal wurde gefahren, nicht geflogen. Egal wie hoch er stieg, er fuhr seinem Ziel entgegen. Anoo wusste aber, dass sich die Abfahrt noch verzögern konnte. Wenn zum Beispiel auf der Probefahrt ein Defekt gefunden würde, nachgerüstet werden müsste oder am Abfahrtstag der Wind ungünstig weht. Was er gleich Landis erklärte, die ihn aufgeregt anrief und anschließend einen Flug für zwei Personen zu ihren Eltern bestellte.


Am Mittwochmorgen sieben Uhr waren fast schon alle da. Viel mehr als eine Zahnbürste brachten die Mitreisenden nicht mit. Ein älterer Herr bat die Wartenden in die Kabine und meinte, der Rest würde gleich kommen. Es standen fünf Vierertische darin, zwei flankierten das Steuerpult, drei standen in zweiter Reihe. Landis und Anoo setzten sich gleich an die linke Frontscheibe. Mit den letzten Personen stieg auch Mira Feensal ein, ihr folgte ein kleiner dicker, grauhaariger Mann, der für eine Expedition nicht besonders geeignet erschien. Zur Überraschung der Neulinge stellte sich der kleine Dicke an das Lenkrad. Die Chefin stellte sich neben ihn, begrüßte ihre Leute und gab erste Informationen. „Unsere Crew besteht aus zwanzig Personen. Der Kapitän dieses Wales ist Robbe Unaraa“ und zeigte auf den Kleinen am Lenkrad. „Steuermann und Navigator ist Darran Tui“, ein mittelalter Mann erhob sich leicht, „Psychologe dieser Reise ist Nora Glitt“, eine vielleicht Dreißigjährige hob lässig die Rechte, „und ich leite das Ganze. Mich kennt ihr wohl.“ Das war überraschend, sogar ungewöhnlich, denn Feensal leitete die Expeditionen sonst immer von ihrem Büro aus.

„Dann machen wir mal einen Probestart“. Sie winkte hinaus, daraufhin löste das Bodenpersonal die Leinen. Es tat sich nichts. Der Kapitän drückte einen Knopf, hinter der Rückwand begann es zu summen; es wurde Gas produziert, wie jeder wusste. Der Wal stand gegen den kontinuierlich blasenden Westwind. Um beim Steigen nicht abgetrieben zu werden, schaltete Robbe, alle mussten sich wegen dieses Namens ein Kichern unterdrücken, die Motoren an und hielt leicht dagegen. Langsam entfernte sich das Gefährt von der Erdoberfläche. Der Wal musste überall auf der Erde selbständig starten können, egal wie scheußlich das Wetter war. Anoo, Landis und andere klebten an den Scheiben. Hoch über der Werft drehte der Kapitän den Wal, schob alle drei Hebel nach vorne und ab ging die Post. Sie fuhren mit dem Wind.

Die Chefin ergriff wieder das Wort. „Ihr habt jetzt Gelegenheit euch zu klimatisieren. Wem schlecht wird - wir haben eine kleine Krankenstation. Die hat aber nur zwei Betten. Also, es dürfen immer nur zwei krank sein.“ Alle lachten. „Wie ihr alle wisst, hängen nach hinten in zwei Reihen die Transportkisten, die am Ankunftsort auch als Wohnraum dienen können. Die unwichtigen Kisten hängen hinten, die mit unseren Betten gleich hinter dem Ausgang. Sie sind gegen Kälte isoliert und beheizbar. Je nach Wind müssen wir sehr hoch fliegen und dort oben erwartet euch die Kälte eures Lebens.“

Sie machte eine Pause und studierte die Gesichter, sie sah keine Angst. „Der Steg, der zwischen den Kisten nach hinten führt, darf zum Spazierengehen genutzt werden“, wieder Gelächter. „Ihr dürft auch bis nach hinten zu den Motoren gehen und dort auf der Wartungsbrücke frische Luft schnappen. Für jeden von euch sind schon warme Sachen an Bord, die während der Europafahrt ausgegeben werden. Sonst dürft ihr nur zwanzig Kilo Privatgepäck mitnehmen. Das muss für eine halbes Jahr reichen. Wir führen zwei Waschmaschinen mit. Gibt es Fragen?“

Ein junger Mann hob die Hand. „Können wir während der Fahrt duschen?“

„Nein“, war Miras eindeutige Antwort. „Ihr könnt euch waschen. Die Duschen in der Toilettenkiste werden erst bei der Ankunft aktiviert. Erste Arbeit bei der Ankunft wird sein, für Strom zu sorgen, also Paneele aufbauen damit wir heizen können, Licht bekommen und Durchlauferhitzer, Küche und Waschmaschinen funktionieren.“

Eine junge Frau meldete sich. „Gibt es während der Reise geregelte Schlafzeiten?“

„Nein“, war wieder die Antwort. „Ihr könnt schlafen wann ihr wollt, damit nicht immer alle hier herumlungern.“

Anoo bekam die Antwort kaum mit, denn neben der Fragerin saß eine andere junge Frau, die mit großen, aufmerksamen Augen das Geschehen verfolgte. Sie hatte ein sehr schönes Gesicht, das von wogenden langen braunen Haaren eingerahmt war. Er musste seinen Blick förmlich von ihr losreißen, damit Landis nebenan nicht misstrauisch wurde.

Irgendwann waren alle Fragen beantwortet und die Crew durfte sich umsehen und ein Bett aussuchen. Aber nicht jeder durfte schlafen wo er wollte. Frauen und Männer ohne Partner wurden getrennt, sechs Frauen kamen in den einen Schlafraum und sechs Männer in den anderen. Und es gab drei Paare, die in einem weiteren Schlafraum untergebracht wurden. Ob Landis deshalb mitgenommen wurde, weil der dritte Schlafraum noch gefüllt werden musste? fragte sich Anoo. Der Kapitän und der Navigator bezogen eine weitere Holzkiste, die unterteilt war. Bei dem einen Bett stand ein Schreibtisch, beim anderen ein Funkgerät.

Unter den Zigarren hingen also zwei Reihen Häuschen, Kisten, Garagen, ein Toiletten- und Duschhaus und eine Werkstatt, auf jeder Seite acht. Die meisten Behältnisse waren drei Mal fünf Mal zwei fünfzig Meter groß. Nur die letzten vier waren größer. Zwischen den Reihen ging der zwei Meter breite Steg, den weit oben die stromerzeugende Paneele überdachte. Der Steg war fensterlos und unten winddicht verschlossen, er wurde beleuchtet. So konnte er auch als weiterer Aufenthaltsraum dienen. Die Holzwände schmückten eindrucksvoll gemalte Landschaften und Tiere, die ehemalige Besatzungen auf ihren Reisen gesehen und in langweiligen Stunden verewigt hatten. Das Holz war auch mit Sprüchen und teils ergreifenden Gedichten beschrieben. Am Ende des Ganges befand sich die Tür die ins Freie führte. Auf einer Art Hängebrücke, die beidseitig mit einem Netz verkleidet war, konnte man die letzten vierzig Meter bis zur Motorenbrücke gehen. Dort wurde oft heimlich geraucht, obwohl der Wasserstoff oberhalb in den Zigarren brennbar war. Brennbar, aber nicht leicht entflammbar. Für die Reisen mit dem Wal wurden nur Nichtraucher rekrutiert, doch selbst Robbe, der Kapitän, war hinten schon beim Pfeife rauchen gesehen worden.

Anschließend wurde ein Imbiss serviert. Die Chefin tat Landis kund, dass sie der Versorgungsabteilung zugeteilt sei, was sie mit hochrotem Kopf hinnahm. Nachdem Landis Besteck, Brettchen, Brot, Wurst- und Käseplatten auf den Tischen verteilt hatte, setzte sie sich zu Anoo. „Das machen die nur, weil ich reiche Eltern habe“, flüsterte sie ihm ins Ohr. „Wer putzt eigentlich die Toiletten?“ flüsterte er zurück und sie wurde nochmals rot. Nachdem Landis und ihre Kollegin alles abgeräumt hatten, stellten sie Wasserkrüge und Gläser auf die Tische. Dazu ein Körbchen mit mehreren Bechern darin. In den Bechern befand sich Zucker, der entweder nach Wella, Kiwi, Erdbeere oder Kirsche schmeckte. Damit mixten sich die Weltreisenden ihre Säfte. Anoo, die Chefin und auch die Schöne, die einen niedlichen aber durchtrainierten Körper besaß, wie er auf dem Steg gesehen hatte, tranken Wasser pur.

Mira Feensal stellte einen Projektor auf einen der Tische und rollte neben der Tür zum Steg eine Leinwand herunter. Auf ihr wurden bis zehn Uhr abends weitere Informationen und danach noch Filme vergangener Expeditionen gezeigt. Danach machten sich die neuen Crewmitglieder mit den alten Hasen bekannt. Die letzten begaben sich erst um zwei Uhr morgens in ihre Kojen. Um sechs wurde Landis geweckt, sie musste mit ihrer Kollegin das Frühstück richten. Bei der Anfahrt auf Tampuro wurde es spannend, der Wind blies zwar nicht stark, aber über der Hauptstadt war der Himmel dicht. Robbe ließ langsam Gas ab, sah abwechselnd auf den Kompass und den Höhenmesser und sandte Funksignale aus, die von Antennen auf den höchsten Erhebungen beantwortet wurden. Auf einem kleinen Bildschirm leuchteten Punkte auf. An der Anordnung dieser Punkte erkannte er rein erfahrungsmäßig, wo er sich befand. Ein Punkt blinkte, das war ein Sendemast in Stadtmitte, den musste er weiträumig umfahren, damit plötzliche Böen den Wal nicht gefährdeten. Die Wolken hingen sehr tief, in der Kabine wurde nicht mehr gesprochen. Als der Wal aus der Unterseite der Wolkendecke sank, schwebten sie schon dicht über der Werft.

Die Chefin verabschiedete die frisch zusammengewürfelte Crew. „Jetzt sind die Neulinge unter euch einigermaßen im Bilde. Wisst ihr, weshalb ihr nun nach Hause dürft? Ihr sollt in eurem Heimatort am Sonntag wählen gehen, es sind Präsidialwahlen.“


Die Wahl interessierte nur wenige, wer außer Kaloo konnte schon gewählt werden. Anoo pfiff auf die Wahl und flog mit Landis zu ihren Eltern auf die Südinsel. Beim Abflug regnete es, über den Wolken schien natürlich die Sonne und als sie wieder unter die Wolkendecke kamen, leuchteten ihnen weiße Berge entgegen, die Südinsel musste den ersten Kälteeinbruch des Winters über sich ergehen lassen. Auf die Landwirtschaft der Sinadas hatte das Wetter keinen Einfluss, denn die fand in Hallen statt. Ihnen war egal ob es kälter wurde, sie heizten ihre Hallen mit Erdwärme, die es genau wie Licht immer gab. Wegen Kälte würden sie nie aufgeben müssen.

Ihre prächtige und zimmerreiche Farm stand malerisch an einem Fluss, der zu Hochwasserzeiten das halbe Tal einnahm. Wenn ab dem Frühjahr die Gletscher schmolzen, sprudelte am Haus blaues Wasser vorbei, wurden wieder neue Kiesbänke aufgespült, die im Sommer bei Niedrigwasser seltene Vögel anlockten. Weit hinter dem Wohnhaus, um die Ecke ins Tal, reihten sich die Anbaugebiete, sprich Hallen. Landis Großvater Korna hatte während der Hungerjahre eine bahnbrechende Bekanntschaft gemacht; er hatte den Pilzforscher Kless Mulko kennengelernt. Dieser hypernervöse Kless Mulko lebte nur für seine Forschung und behauptete, durch Pilzzucht die Nation retten zu können. Großvater Korna ließ es auf einen Versuch ankommen und leerte zuhause seinen Vorratskeller, wobei seine Familie an seinem Verstand zweifelte.

Auf Mulkos anraten schaffte der Alte Humus in seinen Keller und vermehrte dort zuerst den Pilz, der am einfachsten zu züchten war und der am meisten Erfolg versprach. Die erste Ernte dieser gelblichen Pilze wurde auf den lokalen Märkten als Gemüseersatz angeboten. Nachdem ihn einige Leute probiert und für schmackhaft befunden hatten, war es kein Problem die Ware loszuwerden. Der alte Korna Sinada ließ seine Gerätehalle ausräumen, dort eine Erdmischung nach Mulkos Rezept hineinkippen und züchtete fortan in großem Stil Gemüsepilze.

Gleichzeitig versuchte er es in seinem Keller mit einer anderen Pilzart, denn zu Gemüse gehört auch Fleisch. Dieses Mal gehörte Mulkos und Kornas Augenmerk einem sehr kräftigen Gewächs. „Jetzt müssen wir aber auf Sauerstoffmangel achten“, warnte der Pilzforscher. „Pilze sind keine Pflanzen, denn sie verbrauchen Sauerstoff und geben Kohlendioxid ab“. Bevor sie in den Keller gingen um das Wachstum zu beobachten, wurde gelüftet. Die Hüte dieser Pilze wurden groß wie zwei, drei Handflächen und Mulko behauptete allen Ernstes, dass sie Fleisch ersetzten konnten. Die zwei Pilzzüchter begaben sich mit einem ausgewachsenen Exemplar in die Küche der Familie Sinada. Kless Mulko brutzelte das tellergroße Teil in der Pfanne, würzte es mit Grillgewürz und servierte dem Alten das Pilzsteak. Korna Sinada konnte nicht sagen ob Fleisch oder Pilz. Er griff sich auf der Farm jede verfügbare Person und ließ sie kosten. Alle waren der Meinung, dass es auch Fleisch sein könnte und sogar gut schmecke.

Auch dieser Pilz wurde auf den Märkten ein großer Erfolg. Korna ließ zwei Hallen bauen, eine für Gemüsepilze, die andere für Fleischpilze. Dann wurden allen großen Nahrungsmittelhändlern Proben geschickt, bald darauf Lieferverträge unterschrieben. Das Beste an der Pilzzucht war die Wetter-Unabhängigkeit und das Allerbeste: Die Pilze wuchsen schneller als alles andere und ließen sich billiger produzieren als Gemüse auf dem Feld, wurden aber genauso teuer verkauft. Und die Sinadas konnten rund ums Jahr ernten. Die Hauptbeschäftigung der Farmarbeiter war auf einmal, Humus für Pilze zu produzieren. Nach und nach verschwand das Vieh von den Weiden, wurden weitere Hallen gebaut. Nebenbei wurde der Keller zu Kless Mulkos Labor, wo er an anderen Fungis weiterforschte. Damit die Nation ernährt werden konnte, verkaufte Korna Sinada großzügigerweise sein Wissen auch an andere Interessenten. Innerhalb eines Jahrzehntes wurden die Südländer zur Pilz-Esser-Nation.

Für Mulko wurde auf dem Farmland ein luxuriöses Haus mit integriertem Labor gebaut. Von seiner nächsten Forschung wurden Kornas Nachfahren noch reicher. Er entdeckte Arten, aus denen sich Vitamine und Nahrungszusätze gewinnen ließen. Inzwischen untersuchten inselweit viele Labore die Fähigkeiten der einheimischen Pilze, keiner wurde ausgelassen. Zur selben Zeit erlaubte die Regierung ausgewählten Personen die Inseln zu verlassen, um in der Welt nach geeigneten Nahrungsmitteln zu forschen und giftfreie Anbaugebiete zu suchen. Die Abenteurer suchten mit Vorliebe nach fremden Pilzen, um sie meistbietend zu verkaufen. Auch Anoo würde in Europa um das Pilze suchen nicht herumkommen.

Auf Pilze konnten die Südländer nicht mehr verzichten, diese seltsamen Lebewesen hatten zu viele Fähigkeiten. Die Myzel, also die unterirdischen Pilzgeflechte, konnten Abwässer klären und aus diesen Myzel machten die Südländer auch Verpackungen. Auf der Südinsel entstand ein riesiger Industriekomplex, der aus Pilzgeflechten ökologisch abbaubares Verpackungsmaterial herstellte. Dann fanden Wissenschaftler heraus, dass spezielle Pilzarten scheinbar tote Böden wieder fruchtbar machen können. Sie forschten an einer verseuchten asiatischen Küste und dort befreiten Pilze die Böden von Cadmium, Blei und anderen Schwermetallen, von langlebigen Chemikalien, von Chlor und Dioxinen. Diese Forschung wurde dann von der Regierung gefördert. Nicht gefördert wurde die Verarbeitung von Pilzen in der Getränkeindustrie. Vielen Getränken mit und ohne Alkohol wurde nicht nur Wella-Frucht zugesetzt, sondern auch Pilze, um sie noch gesünder zu machen. Das erweiterte auch die Geschmacks-Palette und machte die Säfte dicker und sättigender.

Und ganz wichtig: Aus bestimmten Pilzen konnte man wertvolle Medikamente gewinnen, die Herz- und Leberkrankheiten heilten und auch manche Krebsart. Landis Vater Lasko produzierte nur noch Pilze für die Pharmaindustrie, die Gemüse- und Fleischpilze überließ er schon lange Anderen. Wachsende Pilze gaben nicht wenig Wärme ab, nur bei Frost musste zusätzlich geheizt werden. Lasko Sinada schien noch gewitzter zu sein als sein Vater, er ließ die alten und inzwischen zu kleinen Hallen abreißen und größer mit zwei Etagen wieder aufbauen. Auf der unteren Etage wurden nach wie vor Pilze gezüchtet, auf der oberen aber, über den Wärme produzierenden Pilzen, Erdbeeren angebaut. Im tropischen Klima der Hallen und bei optimaler Beleuchtung gediehen sie prächtig, zu jeder Jahreszeit konnte ständig geerntet werden. Die Sinada-Erdbeeren waren die größten, süßesten und saftigsten und wurden zu einem weiteren Verkaufsschlager. Wegen seiner findigen Idee wurde Lasko von allen bewundert. Ob das der Grund war, weshalb Schako Wutakee die Sinadas nicht leiden konnte? Weil er gerne selber eine so lukrative Idee gehabt hätte?

Lasko Sinada versorgte die Nation zusätzlich mit frischen Heidelbeeren und Radieschen, die es im Winter nie zu kaufen gab. Auch Anoo fand die Idee mit der zweiten Etage genial, aber er neidete sie Lasko nicht, weil ihm Geld weitgehend egal war. Er wollte forschen und entdecken, das Geldmachen konnten andere übernehmen. Koa war mit Landis und Anoo im selben Flieger nach Süden geflogen, zu fünft saßen sie am Abendtisch. Mutter Belta machte sich über alles Sorgen, während es Vater Lasko locker sah. Hauptgespräch war natürlich der Probeflug. Landis beklagte sich darüber, dass sie zur Versorgung gesteckt und als Bedienung eingesetzt wurde. Ihr Bruder, der gerne mitgereist wäre, feixte am Tisch. Die Mutter fand es die Höhe, dass ihre Tochter die Magd spielen musste, der Vater sah wie immer das Praktische.

„Versorgung ist sehr wichtig, das ist eine Schlüsselposition in der du Macht ausüben kannst. Jeder der ein Extra will, muss sich mit dir gutstellen. Wer die Finger auf den Lebensmitteln hat, der kann tauschen, handeln, sich Vorteile verschaffen.“

„Guter Tipp, danke Papa“, sagte Landis in vollem Ernst.

So also dachten und handelten die Sinadas. Immer darauf aus, jede Position schamlos auszunutzen, deshalb konnte der Großvater diese Familie nicht leiden. Für Anoo war das ein Aha-Erlebnis, innerlich ging er automatisch auf Distanz und schraubte seine Sympathie für Landis etwas zurück. Jetzt war ihm auch klar, weshalb er gefundene Pilze nie ins Institut schicken durfte, Landis hätte sie doch tatsächlich an ihren Vater weitergeleitet. Der Familie Wutakee ging Korrektheit über alles, sie verachtete Leute die schummelten um sich Vorteile zu verschaffen. Wenn sie auf der Reise Ärger verursacht, werde ich ihr auf die Finger klopfen, nahm er sich vor.

Am Sonntagmorgen fuhren sie in der Familienkutsche zum Wahllokal. Lasko Sinada besaß den größten Personenwagen der hergestellt wurde. Landis, Koa und Anoo saßen hinten in tiefen Polstern und hatten für ihre Füße reichlich Platz. Von diesem Fahrzeug gab es erst sieben Stück. Eines davon fuhr Präsident Kaloo, der an diesem Tag mit achtzig Prozent wiedergewählt wurde. Die Wahlbeteiligung lag bei achtundzwanzig Prozent.


Die Wiederbesiedelung der Welt

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