Читать книгу Die Wiederbesiedelung der Welt - Hans Joachim Gorny - Страница 6

Europa

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Kapitän Unaraa vermied offenes Wasser wo es möglich war. Auf Wasser notlanden zu müssen, wäre das Ungeschickteste was ihnen passieren könnte, erklärte er nach dem Start Richtung Europa. Die Aufenthaltskabine und die Kisten würden vermutlich alle schwimmen, aber bei einem Startversuch auf der Wasseroberfläche kleben bleiben. „Bevor wir über eine große Wasserfläche fahren“, erklärte er der Mannschaft am ersten Tag der Reise, „erkundige ich mich zuhause nach dem Wetter. Wenn starke Winde herrschen oder vorhergesagt sind, suchen wir uns auf der Erde eine freie Fläche und fixieren den Wal sturmsicher am Boden. Das kann eine Woche dauern. Deshalb wäre es wichtig, einen Bach in der Nähe zu haben, Wasser wird jeden Tag gebraucht.“ Der Kapitän sprach in ruhigem, brummelndem Ton, seine Stimme hatte nichts aufgeregtes, er schien ein kompetenter Mann zu sein. „Wir werden auch am Zielort erst landen, wenn wir einen geeigneten Platz in der Nähe eines Baches gefunden haben.“

Er rollte eine Landkarte herunter, die die Reiseroute zeigte. Die verfügbaren Karten entstammten alle aus alten Büchern und Atlanten der Halbmondinsel. Die geistige Elite, die sich einst dorthin zurückzog um ihr Überleben zu sichern, hatte alles gesammelt was sie für wichtig hielt, eigentlich alles was ihr in die Finger kam. Dabei hätte sie aber besser auf die Qualität der Lagerräume achten sollen. Schon kurz nach der Gründung der Nation vor dreihundertzwölf Jahren, ordnete die Regierung an, die alten Bücher zu sichten und zu entschlüsseln. Tausende waren zerfallen, tausende zu Briketts verklebt, kaum eines ließ sich öffnen und lesen. Es musste zuerst erforscht werden, wie die Seiten schadlos voneinander getrennt werden konnten.

Nachdem die richtige Technik gefunden war, wurden Leute ausgebildet, die diese Bücher lesen sollten, denn das alte Englisch verstand keiner mehr. Über einen unbekannten Zeitraum hinweg hatte sich die Sprache weiterentwickelt und auseinander entwickelt. Die Bewohner der Inseln lebten weit zerstreut in ihren Weilern und pflegten vermutlich über Jahrhunderte kaum Kontakte zueinander. So verstanden die Menschen der Westküsten die Menschen der Ostküsten nur sehr schlecht und umgekehrt. Die Bewohner der Nord- und Südinsel verstanden einander überhaupt nicht mehr. Damals lebte noch ein Drittel der Südländer auf der Südinsel. Die Regierung beschloss, den meist gesprochenen Dialekt zur offiziellen Landessprache zu erheben. Das war der Dialekt des Landesinnern der Nordinsel. Fortan wurde diese Sprache in den neu eingerichteten Schulen unterrichtet und nach achtzig Jahren gab es niemand mehr der, außer englisch, etwas anderes als diesen offiziellen Dialekt sprechen konnte.

Auf der Halbmondinsel, sie hatte sich sogar von den anderen Inseln abgeschottet, wurde das Englisch noch am längsten gesprochen. Deshalb gab es dort noch ein paar Gelehrte, die von dieser alten Sprache eine Ahnung hatten. Sie mussten sich das Englische neu erarbeiten und an Jüngere weitergeben. Dann wurde es zum Studienfach gemacht, damit Forscher und Wissenschaftler in der Lage waren, alte Bücher zu lesen und Fundstücke zu entziffern. Von dem unübersichtlich vielen Wissen, das auf der Halbmondinsel eingelagert war, interessierten sich Wissenschaftler vor allem für die technischen Bücher. Aus ihnen lernte die neugegründete Nation die vier „F“. Funken, Fotografieren, Fahrzeug- und Flugzeugbau. Die Regierenden interessierten sich auch für die restliche Welt. Für das Volk aber war alles was außerhalb der Inseln lag, ohne dass es jemand beschreiben konnte, gefährlich und böse und diese Einstellung wurde von Generation zu Generation weitergegeben und saß eingebrannt im Gemüt.

Das Erstaunen über die Welt wurde jährlich größer. Wenn man bedachte, dass sich nur noch wenige vorstellen konnten, dass die Erde eine Kugel war, führten die Geografie- und Biologiebücher in eine Wunderwelt. Irgendwann gewann die Erkenntnis die Oberhand, dass diese südlichsten Inseln, die so abgehängt unter dem großen Australien hingen, die ihren waren und einmal Neuseeland hießen. Von da an nannte sich die Nation „Südland“. Um der Bevölkerung Wissen zu vermitteln, denn eine gebildete Bevölkerung lässt sich einfacher regieren, und um die Menschen mit der Welt bekanntzumachen, wurden die Bücher die die Welt beschrieben restauriert, abfotografiert, nachgedruckt und verkauft. Jedem Schüler wurden im Unterricht die Weltkarten und die globale Flora und Fauna nahegebracht.

„Wir müssen natürlich nach Australien übersetzen“, zeigte der kleine, dicke Robbe auf der Karte. „Und das ist zugleich der größte Abschnitt der über offenes Wasser führt. Das Wetter ist momentan ruhig, wir werden also sofort an die Überfahrt gehen und so lange weiterfahren, bis wir entweder in ein Sturmtief kommen oder das Trinkwasser alle ist. Später gibt es ein Inselhüpfen“, er deutete auf das Durcheinander nördlich von Australien, „bevor wir auf dem Asiatischen Festland nach Europa fahren. Dann werden wir uns an Ufer und Küsten halten, damit die Aussichten nicht so langweilig sind. Meine Damen und Herren, bis zum Ziel sind es zwanzigtausend Kilometer, bei Rückenwind können wir in vierundzwanzig Stunden zweitausend Kilometer schaffen. Bei Gegenwind soll‘s die Lava holen. Aber ich schätze, dass wir in zwei Wochen am Ziel sind.“

Wo sich das Ziel befand, blieb immer noch geheim, noch konnte man die Heimat mit dem Toky erreichen. Bei schönstem Wetter und leichtem Seitenwind der genutzt werden konnte, erreichten sie die australische Küste und wurden sofort mit den Auswirkungen ihrer Zivilisation konfrontiert. Mit leichtem Gebrumm glitt der Wal über tausende Hektar Lupinen dahin. „Von dort unten kommen unsere Zigarren. Damit es stabile Hüllen gibt, werden dem Kautschuk noch Pilzhyphen und eine Säure beigemischt“, kommentierte Robbe das Gesehene. An einem Fluss erschien ein richtiges Dorf mit Hauptstraße und Vorgärten. Erstreisende wie Landis und Anoo staunten auch hier, in welchem Maße die fremde Erde schon besiedelt war. Es folgten Getreidefelder, Weinreben, Obstbäume und als die Landschaft trockener wurde, wechselte die Nutzung auf Weidewirtschaft. Tausende Schafe und Ziegen, begleitet von Hirten auf Motorrädern neben denen Hunde dahinjagten, fraßen sich tief ins Land hinein. Doch danach wurde es menschenleer und sehr karg. Einige der Reisenden standen mit Ferngläsern an der Frontscheibe oder auf der Motorbrücke und suchten nach Wilden, die es angeblich dort gab. Nachdem Australien überquert war, hatten sie keine Menschenseele gesichtet.

Anoo war Mira Feensal direkt unterstellt; zu ihrer Vierer-Gruppe gehörte noch ein Pärchen, das auch in der Pärchen-Unterkunft schlief. Anoo trug sein langes Haar nach hinten gekämmt, beidseitig wurde es über den Ohren von einer Haarklammer gehalten. Seine Chefin trug es kurz und pflegeleicht. Ihr Auftreten und ihre Arbeitsweise waren zackig und zugreifend. Am zweiten Tag beorderte sie ihre drei Mitarbeiter, Anoo und das Pärchen Potati und Kuro, auf den Steg, dann schauten sie in ihre Materialkiste. Mira wollte nicht nachsehen ob alles dabei war, daran zweifelte sie nicht. Sie machte ihre Leute mit den Werkzeugen und anderen Utensilien bekannt, die bald zum Einsatz kommen sollten. Um das Personal zu beschäftigen, wurde in der Kiste gewühlt und das Inventar mit der Liste verglichen. Der Capo der vier Arbeiter, die helfen sollten wo es gerade klemmte, bildete mit seiner Frau das dritte Paar. Seine Frau stellte zusammen mit Landis und einer Köchin das Versorgungsteam.

Die Arbeiter waren während der Reise unterbeschäftigt, daher saßen sie ständig in der Kabine und spielten Karten, würfelten und sahen Filme. Zum Lesen, so wie die Studierten, hatten sie nichts mitgenommen. Eines Abends, Landis deckte gerade den Tisch der Arbeiter, konnte sich der Vorlauteste von ihnen nicht zurückhalten und machte eine dumme Bemerkung. „Wie fühlt sich das an, wenn eine reiche Frau wie du Arbeiter bedienen muss?“ Landis stockte in ihrer Bewegung, sah ihn an und stellte ihm extrem langsam den Teller hin. Dazu sagte sie: „Wenn wir zurück sind, lasse ich dich fangen und ausstopfen.“ Es war als Witz gemeint, aber niemand lachte. Robbe rettete die Situation und sagte zu dem Arbeiter: „Ich wüsste einen netten Platz am Mittelmeer, wo du dich verstecken kannst.“ Da erst lachte die Crew.

Täglich wurde die Landkarte gezeigt und wo sie sich gerade befanden. Nördlich Australiens gelangten sie wieder auf offenes Meer; Mira, Robbe sowie der Steuermann und Navigator Darran Tui wurden zusehends unruhig. Außer diesen dreien, gehörten auch der Vorarbeiter Ebro und seine Frau Raputa zu den Altgedienten. In der Nacht im Hochbett konnte sich Anoo nicht beherrschen und fragte in die Dunkelheit: „Ebro, weshalb ist der Kapitän so nervös? Und Darran hängt ständig am Funkgerät.“

Anno und Ebro lagen oben und flüsterten sich zu, aber alle hörten mit. „Hm, das ist wegen dem Wetter. Um diese Jahreszeit gibt es hier in der Gegend oft Wirbelstürme oder es schüttet wie aus Eimern. Da kann Wasser herunterkommen, dass einem die Luft wegbleibt.“

„Das heißt, wenn wir nicht rechtzeitig runterkommen und den Wal festpflocken ist es aus“, folgerte Anoo.

„Deshalb suchen Robbe und Mira ständig den Horizont nach verdächtigen Wolken ab. Und Darran erkundigt sich Tag und Nacht, ob von den Aufklärern neue Wetterdaten vorliegen.“

„Aber Robbe fährt eisern weiter“, stellte der Neuling fest.

„So lange es ruhig bleibt, macht er, dass er diese Inseln hinter sich bringt. Aber spätestens in zwei Tagen müssen wir landen um Wasser aufzunehmen“, erklärte der Routinier. Es folgte eine Gesprächspause, jeder hing seinen Gedanken oder Ängsten nach.

„Du bist aber noch nie abgestürzt?“ unterbrach Landis die Stille.

„Nein“, antwortete Ebro. Man hörte ihn schlucken. „Ich habe aber einmal eine Schieflage erlebt.“

„Eine was?“ fragte Potati, die zu Anoos Gruppe gehörte.

„Eine Schieflage. Wir sahen in der Dämmerung hässliche Wolken, wollten noch schnell landen und schon war der Sturm da und wir konnten nicht mehr hinunter. In der Nacht brachte eine Bö den Wal aus dem Gleichgewicht, so dass sich die Schnauze senkte. Alle die in der Kabine saßen, rutschten gegen die Frontscheibe. Der Kapitän brüllte daraufhin: Alle nach hinten zu den Motoren. Die Schlafenden wurden aus den Kojen geholt und alle marschierten den Steg hoch zu den Motoren, um Gewicht nach hinten zu verlagern. Es war da draußen absolut dunkel und wir steckten in dicken Wolken. Das war vielleicht ein Gefühl. Der Kapitän gab volle Geschwindigkeit und stellte die Höherruder auf steigen. Hatte aber nicht geholfen. In den letzten, den größeren Transportbehältern befinden sich meist schwere Fahrzeuge und diese Kisten hängen an Schienen, um den Wal austarieren zu können. Mit viel Schinderei haben wir dann die Kisten nach hinten gezogen, bis sich der Wal wieder in der Waage befand.“

„Da habt ihr doch bestimmt Muffensausen gehabt“, kommentierte Landis das Gehörte.

„Das ist nur die halbe Geschichte“, meinte Ebro und machte eine Pause, um die Spannung zu steigern.

„Seid ihr dann doch abgestürzt?“ konnte Potati ihre Geduld nicht zügeln.

„Fast. Der Wal flog zwar gerade weiter, aber der Wind rüttelte und schüttelte ihn durch. Fast die ganze Crew saß hinten draußen, fror und traute sich nicht nach vorne. Auf einmal senkte sich der Schwanz, als ob unser Gefährt zu einem Steilflug ansetzen würde. Wir hörten den Kapitän schreien und rannten wieder den Steg hoch, dieses Mal nach vorne. Auch das nützte nichts. Immerhin standen wir nun in der warmen Kabine. Aber es traute sich niemand nach hinten, um die Kisten wieder heranzuziehen. Der Kapitän fluchte und versuchte es mit Motorabstellen, doch die Schnauze hob sich noch mehr. Es war ein Gefühl des Abstürzens, die ersten fingen an zu quicken. Der Kapitän gab wieder volle Stromzufuhr und keiner konnte sagen ob wir stiegen oder fielen. Dann ruckelte es und der Wal bekam Schlagseite nach links, was den Kapitän aber gar nicht zu beunruhigen schien. Fünf Minuten später ruckelte es noch einmal und fast unmerklich glitt unser Transportmittel in die Horizontale.“ Ebros Erzählung war immer eindrucksvoller und lauter geworden, seine Zuhörer waren elektrisiert bis in die Haarspitzen.

„Und dann kam Mira von hinten herein, mit einem Beil in der Hand. Der Kapitän fragte sie: Welche? Sie antwortete: Die Zweitletzten. Er nickte. Mira hatte, stellte sich heraus, die zweitletzten Kisten geopfert und die Halterungen mit dem Beil gekappt, so dass sie abstürzten. Damit hatte sie irgendwelchen wilden Nomaden Material für den Hausbau geschenkt. Auf die Fahrzeuge in den letzten Kisten wollte Mira am Ankunftsort dann doch nicht verzichten. Es kam in dieser Nacht noch zu einer dritten, zum Glück leichteren Schieflage, die hatte Mira durch Ablassen unseres Wassers bereinigt. Bei so einem Sturm wäre landen ja Selbstmord, der würde den Wal auf den Boden dreschen. Ich sage euch, das war die längste Nacht meines Lebens.“

Die drei Paare lagen noch lange wach, achteten auf jedes Geräusch und warteten darauf, dass der Wind den Wal schüttelt. Doch der brummte leise und gleichmäßig dahin. Robbe hatte in zweitausendsiebenhundert Metern Höhe eine Windströmung nach Westen gefunden, die dem Gefährt nahezu einhundert Stundenkilometer erlaubte. Anoos letzter Gedanke vor dem Einschlafen war: Hoffentlich hat Tairiri recht.


Zwei Tage später war das Wetter immer noch ruhig. In der Ferne konnte die Besatzung das höchste Gebirge der Welt erkennen, das Himala-Gebirge, das sich rechts ihrer Route befand und sich tausende Kilometer von Ost nach West dahin zog. Von morgens bis abends standen die Leute bei klarem Wetter an den Scheiben, starrten zu der weiß gleisenden Gebirgskette hinüber und schafften es nicht, sich satt zu sehen. Der Kapitän musste sie ständig ermahnen nicht alle auf der rechten Seite herumzuhängen, der Wal ließe sich schlechter steuern, schimpfte er. Die meisten der Crew kannten die beeindruckenden schnee- und gletscherbedeckten Berge der Südinsel. Diese konnten dem Himala bestenfalls als Vorgebirge dienen. Es war das Gebirge, in dem in einer Höhle die berühmten Mini-mini-Filme gefunden wurden. Der Wal flog sehr tief, nur noch hundert Meter hoch. Aber nicht weil er Gas verlor, sondern weil Robbe und Mira nach einem Landeplatz suchten, das Wasser war knapp. Mira, mit Fernglas in der Hand, zeigte nach rechts in ein Tal auf eine freie Fläche, Robbe lenkte in das Tal und ließ Gas ab. Tal war immer gut, in einem Tal war es windstiller als auf einer Ebene.

Der Wal senkte sich bis knapp über die Kieslandschaft, zwei Männer ließen sich an Seilen herab und trieben Pflöcke in den Kies, zehn Stück, an denen sie den Wal vertäuten. Von der Unterseite zweier Kisten wurden lange Schläuche entrollt, die Enden in das Bachbett gelegt, die Pumpen begannen ihre Arbeit. Gleichzeitig begann Robbe oben Gas zu produzieren. Die Forscher nahmen Wasserproben und verteilten sich dann in der Landschaft, um bei dieser Gelegenheit Tiere, Pflanzen und Steine zu untersuchen.

Bei schönem Wetter nutzten die Wal-Besatzung solche Zwischenaufenthalte, um draußen auf der Erde zu übernachten. Ebro suchte für sie auf einer Sandbank eine Lagerstätte aus, die vier Arbeiter verteilten sich am Ufer und suchten trockenes Schwemmholz für zwei Lagerfeuer. Das Versorgungsdreigespann hatte dadurch viel mehr Arbeit und weitere Wege. Landis beschwerte sich bei Mira Feensal. „Wieso muss ich diese Arbeit machen? Ich bin schließlich Biologin.“

„Wir sind alle irgendwas“, konterte die Chefin. „Aber die Jüngsten fangen nun mal in der Küche an.“

„Und sie?“ Landis zeigte in Richtung der niedlichen Schönen, die unmöglich älter als sie sein konnte.

„Ria ist der einzige Freiland-Zoologe den wir dabei haben und wird viel unterwegs sein.“ Mira beorderte den Arbeiter mit dem vorlauten Mundwerk zur Versorgungsgruppe. „Aber schön vertragen“, schärfte sie den Beiden ein.

Der Arbeiter grinste. „Ich möchte doch nicht ausgestopft werden.“ Da musste auch Landis lachen.

Nach dem Abendessen, das zur Abwechslung erhitzt wurde, sammelten sich die Reisenden um die zwei Lagerfeuer. Mira und Robbe schliefen im Wal. Um das eine Feuer saßen und lagen die drei Pärchen, zu denen sich Darran und zwei Frauen gesellten. Die eine Frau war die Zoologin Ria. Die Gespräche plätscherten so dahin, bis Potati sich bei Ria nach wilden Tieren erkundigte.

Ria antwortete mit einer leisen aber klaren Stimme. „Natürlich gibt es hier wilde Tiere. Um die auf Abstand zu halten, müssen die Feuer die Nacht hindurch brennen.“

„Was wären denn die Gefährlichsten, die heute Nacht um uns herumschleichen?“ wollte Ebro wissen.

Ria zögerte. „Hm, wir sind in Indien. Da gibt es Tiger, Löwen und Hyänen. Die Katzen haben keine Angst vor uns, die gehen in der Nacht davon aus, dass wir sie nicht sehen können. Aber ich kann euch beruhigen, wir passen nicht in ihr Beuteschema, die fressen höchstens unsere Abfälle.“ Ria hatte ihr Wissen aus alten Büchern und konnte sich nicht sicher sein, dass das Beuteschema einer vergangenen menschenreichen Zeit auch für die Gegenwart seine Gültigkeit besaß. Sie selbst hatte keine Angst und wollte einfach nur beruhigen. Darran Tui erhob sich und ging zum Wal.

„Was wären denn die größten Tiere, die hier zu erwarten sind?“ fragte Landis.

Ria überlegte. „Ich schätze mal Elefanten, Nashörner, einige Büffel- und Hirscharten. Die Dickhäuter sind hier fast so groß wie in Afrika.“ Ein Schweigen stellte sich ein. Jeder wusste, was es mit Afrika auf sich hatte. „Schade, dass wir nicht über Afrika fahren konnten“, erzählte die Zoologin weiter. „Da gibt es riesige Tierherden. Soweit das Auge reicht nur Antilopen und Zebras. Millionen davon. Herden aus Elefanten, Nashörnern, Giraffen und mächtigen Büffeln. Und überall lauern die Beutemacher. Ich würde mir das sehr gerne ansehen. Aber leider kann man nicht auf diesen Kontinent.“

Kuro, Anoos Mitarbeiter, räusperte sich. „Man kann da schon hin. Nur kommen die Wenigsten zurück.“

„Es weiß vermutlich kein Mensch, wie viele Abenteurer dort schon ums Leben gekommen sind“, flüsterte Ria betrübt.

„Mein Vater fuhr früher zur See“, redete Kuro weiter. „Sein Kapitän wollte einen Elefanten und ein Nashorn fangen und mindestens tot am Stück nach Hause bringen. Sie landeten an der ostafrikanischen Küste in einer stillen Bucht und das erste was sie fanden, war ein versenktes Schiff. Das Schiff, das nur von unseren Inseln sein konnte, war wohl den Wilden in die Hände gefallen.“

„Und damit wohl auch die Crew“, stellte Ria fest. „Und wie ist es deinem Vater ergangen?“

„Mein Vater und zwei andere blieben mit Schießgeräten an Bord, der Kapitän zog mit zehn Mann los, um die Wildnis zu erforschen. Am Abend waren sie zurück. Für den nächsten Tag ließ er ein Lastenfahrzeug an Land bringen, mit dem sie noch tiefer in die Wildnis eindrangen. Die drei die in der Fahrerkabine saßen, haben es überlebt. Von denen die auf der Ladefläche saßen, kamen vier zurück. Doch die hatten kleine und große Pfeilspitzen in Armen und Beinen stecken. Diese waren vergiftet. Alle Vier sind in der Nacht gestorben. Da waren die Überlebenden zum Glück schon auf hoher See. Die Wilden hätten sich bestimmt in der Nacht an Bord geschlichen.“

„Sind die echt so mordgierig dort?“ erkundigte sich Raputa.

„Diese Schwarzen sind wie Furien“, erklärte Ria.

„Ach, die sind schwarz?“ reagierte Potati überrascht. „So richtig mit schwarzer Haut von oben bis unten?“

Ria nickte. „Die erkennt man im Dunkeln nur wenn sie lachen. Wenn sie sich an Fremde anschleichen, lachen sie aber nicht. Mit den Schwarzen kann man nicht verhandeln, man kann mit ihnen keine Freundschaft schließen, sie lassen sich nicht einmal beschenken. Wenn sie Menschen mit heller Haut sehen, rasten sie aus und wollen die sofort töten, als ob auf der Welt keine hellhäutigen Menschen existieren dürften. Die kennen nur das Bestreben, jeden von uns zu liquidieren. Da muss eine Urangst dahinter stecken, dass alles Hellhäutige Unglück bringt. Es gab unzählige Versuche mit ihnen Kontakt aufzunehmen. Jeder dachte, er kann es besser als seine Vorgänger, aber keine Expedition kam ohne Verluste zurück. Wie viele Expeditionen, die sich aus Habgier in das Landesinnere gewagt haben, nicht zurückgekommen sind, weiß keiner.“

Ebro der Vorarbeiter wusste noch mehr. „Als erstes wurde Afrika von einem kleinen Frachter angesteuert. Die Abenteurer hatten in einem Buch gesehen, welch schöne und seltsame Tiere es dort gibt. Mit Wilden rechnete keiner, weil die einfach sehr weit verstreut und sehr Wenige sind. In Afrika verhält sich das anders. Wer dort eine Woche und länger unterwegs ist, wird fast immer entdeckt. Die Schwarzen rotten sich dann zusammen und verfolgen die Hellhäutigen, dabei haben sie eine vorsätzliche Tötungsabsicht. Die wollen unbedingt jeden, der heller ist als sie, von der afrikanischen Erde tilgen. Das ist wie eine Manie. Die müssen fest glauben, dass Helle vernichtet werden müssen. Auf jeden Fall, von dieser ersten Expedition kam nicht einmal mehr die Hälfte der Männer zurück.“ Ebro legte Holz nach und setzte sich aufrechter hin. „Robbes Vater hatte einmal versucht, mit einem Wal in Afrika zu landen. Vielleicht dreihundert Kilometer von der Küste entfernt. Da wird ein anderes Volk wohnen, dachte er, ein friedlicheres. Trotzdem führte er Schießgeräte mit, sogar solches Spezialzeug das die Strahlen streut. Wer mit dem Wal reist, spart sich den Überlandweg. So landete er, als das Wasser knapp wurde, an einem idyllischen Fluss und bei der Landung vertrieb der Wal Elefanten, Giraffen, Zebras und herrlich gemusterte Antilopen. Die Besatzung glaubte sich im Paradies, die fremden Tiere und Pflanzen nahmen sie ganz gefangen. Ganz begeistert waren sie von den vielen großen und bunten Vögeln. Schon allein der Vögel wegen, muss Afrika das faszinierendste Land der Erde sein. Die Faszination nahm schlagartig ein Ende, als dem Koch ein Speer im Rücken steckte. Der Alte schrie: Alles hinlegen, und schon sausten Pfeile über die Crew hinweg. Dann schoss er planlos in das Unterholz im Hintergrund. Da flogen nur so die Blätter und Äste herum. Die Wilden muss das beeindruckt haben, denn danach war Stille. In Windeseile rannten alle zum Wal, kappten die Taue, kletterten hinein und der Kapitän riskierte einen Schnellstart, in dem er das Wasser abließ. Kaum zehn Meter von der Erde weg, brachen Dutzende Schwarze aus dem Dickicht hervor und zertrümmerten mit Speeren die Scheiben der Kabinen. Andere beschossen die Crew mit Pfeilen aus Blasrohren. Es wurde nach unten geschossen was ging, zwei Mann wurden von vergifteten Pfeilen getroffen und starben kurz darauf. Auch hatte man drei Mann unten vergessen. Man darf sich gar nicht vorstellen was mit denen passiert ist. Der Wal war von den Schützen schon hundert bis zweihundert Meter weit weg, da wurde es nochmals brenzlig. Wilde kamen mit Brandpfeilen herangestürmt und schossen auf die Zigarren. Aber kein Pfeil erreichte die Gashüllen. Das wäre es noch gewesen, Brandpfeile im Wasserstoff.“

Ebros Zuhörer blieben still und gruselten sich bei der Vorstellung, von lauter schwarzen Wilden umgeben zu sein. Dann fragte Potati: „Was ist ein Blasrohr?“

Ria antwortete: „Das sind lange ausgehöhlte Stecken. Durch die wird ein kleiner, gefiederter Pfeil geblasen. Damit kann man ungemein weit und genau schießen. Vor allem aus dem Hinterhalt.“

„Und die Pfeile sind vergiftet?“

„Tödlich vergiftet“, sagte Kuro. „Die Wilden werden damit Tiere jagen. Das Gift, nehme ich an, wird sich schnell abbauen.“

Darran Tui stolperte vom Wal kommend um sie herum. Vor dem Gesicht trug er eine klobige Maske.

„Was willst du mit dem Nachtsichtgerät?“ wollte Ebro wissen.

„Nachtsichtgerät?“ rief Landis gedehnt. „So etwas gibt’s?“

„Ich suche nachtaktive Tiere“, erklärte Darran. „Die Tiere strahlen Wärme aus und das sehe ich auf den Gläsern.“ Er ging weiträumig um die Feuer herum, alle beobachteten ihn gespannt. Auf einmal blieb er stehen und starte in die Finsternis. „Ich glaube da steht ein Tiger“, sagte er und ging gleich ein paar Schritte zurück.

Die kleine Ria stand auf und ging angstfrei zu ihm. „Zeig mal.“ Sie übernahm das Gerät und starrte. Dann ging sie einige Schritte vor, starrte, ging noch ein paar Schritte vor, dann sagte sie: „Da steht tatsächlich einer. Aber er traut sich nicht her.“ Außer Ria, Anoo und Landis, schliefen nur noch vier andere, die Ria vertrauten, auf dem Sandbett.

Nach einer ruhigen Nacht auf Erden, ging die Fahrt am nächsten Morgen weiter. Die Anker wurden entfernt, die Taue eingeholt und dann zerrte der Wal an einem großen, wassergefüllten Kissen, das unten in der Mitte hing. Das Kissen wurde geöffnet, das Wasser schoss heraus und der Wal erhob sich in den Himmel. Die leere Kissenhülle wurde eingeholt und bis zum nächsten Start verstaut.


Über den Gebirgslandschaften, die nach Indien folgten, gab es kleine Turbulenzen, einigen Reisenden wurde schlecht, aber der Wal schaffte sich kontinuierlich nach Westen und kam überdurchschnittlich schnell voran. Während der Reise wurden Aufzeichnungen gemacht. Immer standen Mehrere mit Ferngläsern bereit und suchten nach Lebewesen, beschrieben die Landschaft, Seen und Flüsse und wenn tief gefahren wurde, auch die Bäume. Immer lag auch eine Kamera bereit, um fotografieren zu können. Es war bekannt, dass nicht nur afrikanische Menschen überlebt haben. Aber so häufig wie dort war Homo sapiens, oder was von ihm übriggeblieben war, auf anderen Kontinenten nicht vertreten.

„Wenn die Wilden einen Wal sehen, werden sie sich verstecken“, war Miras Meinung.

„Ein Dorf zu sehen wäre eine tolle Sache“, sagte Nora Glitt die Psychologin, die sich nicht oft äußerte.

„Die Aufklärer haben bislang nur Jäger und Sammler fotografieren können, die in Zelten leben“, kam vom Lenkrad. „Feste Dörfer setzen Landwirtschaft voraus, Felder wurden noch nie gesichtet.“ Die Crew suchte unverdrossen nach Menschen. Robbe streifte einen halben Tag lang das Ufer des Kaspischen Meeres, wie der Karte zu entnehmen war. Dort lagen an einem Strand, gut zu erkennen, zwei Einbäume, unter einem Baum kräuselte Rauch empor. Zu landen, um diese Menschen kennenzulernen machte keinen Sinn, da alle Wilden vor den Walen flohen. In dem riesigen Luftgefährt konnten sie nur ein riesiges Ungeheuer erkennen. Man hätte bei der Frontbemalung vielleicht auf die Gesichter verzichten sollen. Aber für die Reisenden war es ein erster Beweis, dass es in dieser Gegend noch oder wieder Menschen gab. Robbe wechselte hinüber zum Schwarzen Meer, dort war an einer Flussmündung eine weitere Wasserentnahme geplant, dahinter würde Europa beginnen.

Anoo wachte mitten in der Nacht auf und konnte nicht mehr einschlafen. Er musste darüber nachdenken, dass ihre Gruppe zur nördlichsten siedelnden Zivilisation der Welt wurde. Wieso, fragte er sich, schickt die Regierung so viele Neulinge auf diese weite Reise? Doch bestimmt nur, weil sie unverbraucht und unkritisch waren. Mira hatte für den folgenden Tag letzte Informationen zum Reiseziel versprochen. Seine Beine fingen an zu kribbeln, leise kletterte er aus seiner Koje, schlich sich auf den kalten Steg und schlüpfte in die warme Kabine.

Robbe stand einsam vor seinem Lenkrad, er schaute sich kurz um wer da kam und nickte Anoo entgegen. Nachts fuhr der Wal nur halbe Kraft, damit der Stromvorrat aus den Speichern bis Sonnenaufgang reichte.

„Schläfst du denn nie?“ fragte er den Kapitän.

„Das scheint nur so. Im Prinzip bin ich ein fauler Sack. Ich habe tagsüber zweimal geschlafen.“

Der Besucher schaute durch die Frontscheibe und war beseelt. Unter dem Wal war es weiß, sie fuhren über ein schimmerndes Meer. Weiße Wellen türmten sich auf, sie bewegten sich aber nicht. Die Wellen dieses Meeres schienen eingefroren, die Zeit still zu stehen. Über dem Wal leuchtete der Sternenhimmel absolut klar, zum Greifen nahe. Der Anblick war friedlich und beruhigend. Hier oben war kein Platz für etwas Schlechtes. Hier müsste der Bereich sein, in dem die Verstorbenen verweilen. Robbe schaute stur nach vorne und sagte nichts. Anoo hatte den friedlichen und im wahrsten Sine des Wortes überirdisch schönen Anblick für sich. Schön aber einsam. Plötzlich leuchteten die Wolken vor ihm auf und schon war aus mit Frieden. Es leuchtete immer öfter, unten schien ein Gewitter zu toben, hier oben war nicht mehr als das leise Summen der Motoren.

„Die Welt kann so friedlich sein“, meinte Robbe in die Stille.

Anno fragte „Wie hoch fliegen wir eigentlich?“

„Keine zweitausend, aber dort unten muss es sehr ungemütlich sein. Das sind einfach die herrlichen Momente als Kapitän eines Wales. Hier oben glasklare Verhältnisse und Grabesstille, dort unten wüten die Elemente. Wobei ich auch die Menschen als Elemente sehe.“

„Du hast es wohl gerne ruhig. Fährst du deshalb um die halbe Welt, um möglichst weit weg vom Trubel zu sein?“ fühlte Anoo dem kleinen dicken Kapitän auf den Zahn.

„Ich fahre deshalb um die halbe Welt, weil ich gerne mit dem Wal fahre“, grunzte der. „Nie würde ich irgendwo bei irgendwelchen Wilden leben, so wie ihr das vorhabt, oder mich sonst wo in der Fremde niederlassen. Ich bin ein Luftpionier und kein Spatenpionier.“

„In Europa gibt es überhaupt keine Wilden“, behauptete Anoo. „Die Europäer sind vermutlich als erste ausgestorben und am gründlichsten, weil ihr Kontinent die meisten Schadstoffe abbekommen hat und das flächendeckend.“

„Ich komme von der Südinsel. Als ich ein kleines Kind war, raffte eine Seuche alle Kaninchen hinweg. Die Viecher saßen ohne Angst im Freien herum und sind gestorben. Kaum waren alle tot, habe ich schon wieder ein Gesundes gesehen. Nach zwanzig Jahren gab es wieder so viele Kaninchen wie zu meiner Kindheit. Was lernen wir daraus? Es überleben immer welche. Entweder, weil sie unter günstigen Umständen gelebt haben, geschickter waren als andere, oder ihre Körper widerstandsfähiger. So viel einmal zu deinen ausgestorbenen Europäern.“

„Leuchtet mir ein“, sagte Anoo. „Wenn ich einen Europäer fotografiert habe, schicke ich dir das erste Bild. Ich lege mich jetzt wieder hin.“


Das einhundertzwanzig Meter lange Luftfahrtzeug steuerte dem Schwarzen Meer entgegen und dann an dessen Küste entlang. Rechts lag das Wasser, links eine Gebirgskette. Am Schwarzen Meer musste es die Tage zuvor gewaltig geregnet haben, alle Flüsse die ins Meer mündeten führten Hochwasser, die Kies- und Sandbänke der Deltas waren überschwemmt, kein Landeplatz war in Sicht. Offene Flächen in den Tälern konnten auch nicht gesichtet werden, überall standen Urwälder aus mächtigen Bäumen. Nach Robbes vorsintflutlicher Landkarte dürfte es Wälder überhaupt nicht geben. Er und Mira hofften auf den breitesten der eingezeichneten Flüsse. Und dort hatten sie Glück, der Fluss hatte sich ins Meer einen neuen Weg geschaffen, ein Teil des Deltas lag trocken. Sie landeten wie gehabt, pumpten Wasser nach, übernachteten am Boden auf einer Sandbank und starteten zur letzten Etappe. Nach diesem letzten Meer schwenkte der Wal nach Nordwesten. Unter der Besatzung stieg die Spannung; alle erwarteten, dass Mira nun ihre Geheimniskrämerei beendet und die Karten auf den Tisch legt.

Nach dem Frühstück bat die Chefin alle sitzen zu bleiben. „Jetzt sollt ihr endlich wissen was Sache ist.“ Sie rollte die Leinwand herunter, entnahm einer Schatulle einige Glasblättchen und schob sie in den Projektor. Auf dem Gewebe erschien Europa. „Wir sind in Europa angekommen und zwar am südöstlichen Ende.“ Sie zeigte die Stelle. „Wir ihr seht, ist Europa nicht so rund wie Australien, es besteht aus Inseln, Halbinseln und einer Zentralen Landmasse.“ Mit dem Zeigefinger tippte sie die Inseln und Halbinseln an. „Welche Ecke wird unsere sein, fragt ihr euch. Keine. Wir fahren mitten hinein. Die Aufklärer haben für uns eine Gegend gefunden, die für eine Besiedelung sehr geeignet scheint. Dort sollen wir Pionierarbeiten durchführen und die nördlichste Zivilisation unserer Erde gründen. Wenn der Boden und das Klima eine Besiedelung zulassen, sollen Bauern und Jäger aus der Heimat hergebracht werden. Unsere Regierung will die Übervölkerung unserer Inseln verringern und nachhaltig Siedler ins Ausland locken, damit sich unsere Zivilisation weltweit verbreiten kann.“

So weit so gut. Jeder wusste, dass er zum Arbeiten mitmusste. Nur, wo sie arbeiten sollten, wusste immer noch keiner.

Mira setzte ihren Vortrag fort, ohne auf den Punkt zu kommen. „Wie geplant werden wir uns eine Stelle an einem Fluss oder Bach suchen, die für eine größere Siedlung geeignet ist.“

Dann unterbrach Ebro, der sie am längsten kannte. „Mira, jetzt sag uns doch erstmal wo wir siedeln dürfen. Die Leute hier interessiert, ob sie schwitzen oder frieren müssen.“

Die Chefin bekam einen ausgebremsten Gesichtsausdruck, doch sie ließ sich herab und zeigte in das Inland. „Hier, in diesem Flusstal in Westeuropa sollen wir es probieren. Der Fluss kommt aus diesem großen Gebirge und mündet dort oben in das Meer. An seinem Oberlauf liegt er tief zwischen zwei Gebirgsketten, das Tal ist also geschützt und klimatisch begünstigt. Die ganze Breite von dreißig bis vierzig Kilometern ist frei von Büschen und Bäumen, das heißt: hier ziehen große Herden von Wiederkäuern hindurch, die die Vegetation niedrig halten. Das komplette Tal ist Weideland, vermutlich seit Jahrhunderten. Wie wir inzwischen wissen, bilden durchziehende, grasfressende Großtiere die fruchtbarsten Böden. Dort wo viel gekackt wird, befinden sich reichlich Mineralien und Spurenelemente in der Erde. In diesem Tal wird es im Winter vielleicht auch schneien, aber unsere Obstbäume werden dort nicht erfrieren.“ „Und wie heißt der Fluss?“ Ebro beugte sich der Karte entgegen. „Upper Rhine Valley, steht hier.“

Per Knopfdruck rasselte ein weiteres Glasplättchen in die Halterung, eine bergbegrenzte Wiesenlandschaft erschien. Weitere Bilder zeigten einen mäandernden Fluss, einen Schwarm Wasservögel und eine Herde gehörnter Tiere. Dazu meinte sie: „Rhein ist der Fluss und wir siedeln am Oberlauf, das sind dreihundertfünfzig Kilometer Weideland, Ackerland für eine Million Südländer.“

Bei dieser Zahl zweifelten einige an Miras Verstand und hielten sie für größenwahnsinnig. Nüchtern denkende Besatzungsmitglieder wussten, dass Siedler nie und nimmer für neues Ackerland um die halbe Welt reisen würden. Sie dorthin zu transportieren wäre auch viel zu teuer. Irgendwie war das ganze Unternehmen ziemlich spinnig, kritisiert wurde aber nicht. Einem Teil der Crew ging es um die Bezahlung, einem anderen um die Ehre der Teilnahme, wieder anderen um die Abenteuerlust. Doch das Ziel ließ auf sich warten. Kaum lagen die ersten europäischen Berge hinter ihnen, setzte ein kräftiger Nordwestwind ein. Der Wal schien auf der Stelle zu treten. Der beständige Gegenwind rüttelte an dem Gefährt und der Wal machte Geräusche, als ob er vor Anstrengung schnaufen würde. Nur im Schneckentempo zog die Landschaft an ihnen vorüber. Robbe versuchte es in Bodennähe, aber über der Gebirgslandschaft war mit gefährlichen Wirbeln zu rechnen. Dann suchte er in der Höhe nach Rückenwind und Windstille, was auch nicht mit Erfolg belohnt wurde. Ihm blieb nichts anderes übrig, als in der ruhigsten Luftschicht gegen den Wind zu steuern. Der Kapitän und die Chefin diskutierten, ob sie die Nacht am Boden verbringen sollten. Da sie nach Sonnenuntergang mit Speicherstrom und gedrosselter Geschwindigkeit fahren mussten, würden sie die ganze Nacht nicht vom Fleck kommen.

Mira plädierte gerade für eine Landung, als Darran vom Funkgerät kam. „Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht aus der Heimat.“ In der Kabine verstummten die Gespräche. „Die schlechte ist: Wir sollen nicht mehr auf dem Boden übernachten. Eine unserer Besatzungen wurde in Indien von Wilden angegriffen. Sie ließen sich zwar mit dem Licht der Taschenlampen verscheuchen, aber wir sollen kein Risiko eingehen.“ Darran machte eine Pause, Mira und Robbe nickten. „Die Gute ist, morgen fliegt für uns ein Aufklärer über Mitteleuropa und schickt uns den Wetterbericht. Da seid ihr platt, was.“

Mira entfuhr ein „Ui. Extra wegen uns schickt die Regierung einen Aufklärer.“ Sie, Robbe, Darran und auch Ebro staunten sich an. „Dass der hier durchfliegt muss Zufall sein“, meinte der Capo.

Die Nacht war unruhig. Der Wal fuhr durch die Luft, wie ein Bus über eine holprige Piste, der Gegenwind dachte nicht daran, auch nur eine Minute nachzulassen. Während des Frühstücks stand ein markanter Berg, der sich bei Sonnenuntergang vor ihnen im Westen befunden hatte, nun links im Süden. Sie waren über Nacht kaum weitergekommen. Dieses fast-nicht-vorwärtskommen war langweilig. Während einer sonnigen Phase, in der es in der Kabine heiß wurde, sammelten sich mehrere Crewmitglieder auf dem kühlen Steg und unterhielten sich über Europa. Die drei Paare lümmelten vor ihrer Schlafkiste auf dem Boden herum.

„Ist das nun gut oder schlecht, dass wir mitten in der Landmasse forschen?“ fragte Potati in die Runde.

„Es wird dort weniger windig sein, als an der Küste“, meinte Anoo.

„Wir werden auf Meeresfrüchte verzichten müssen“, folgerte die Küchenfee Raputa.

„Wenn wir auf Weideland forschen, werden wir jeden Tag einen anderen Braten zu essen bekommen und Fisch überhaupt nicht vermissen“, machte der Capo Ebro, der auch Jäger war, deutlich. Zuerst setzte sich die Psychologin Nora Glitt zu ihnen, dann auch noch der vorlaute Arbeiter, der Mak Tauro hieß. Landis, die jetzt mit ihm gut auskam, rückte ein Stück zur Seite und machte ihm Platz, damit er sich auch an der Wand anlehnen konnte. Braves Mädchen, dachte Anoo. vertrage dich nur mit deinen Mitreisenden.

Landis sagte: „Laut Karte gibt es im Zielgebiet Flüsse und Bäche, also auch Fische. Von uns wird doch jemand angeln können.“ Dabei starrte sie den Hobbyfischer Anno an.

„Fisch aus dem Meer schmeckt viel besser“, sagte dieser.

Mak Tauro mischte sich ein. „Wir könnten uns doch Meeresfisch von einem Aufklärer bringen lassen.“

Die anderen fanden die Idee utopisch und lachten. „Die forschen nur, die transportieren nichts“, klärte ihn Landis auf.

Nora Glitt fragte: „Stimmt es, das Aufklärer gebaut werden, die ohne Pilot fliegen können.“

Landis wusste die Antwort. „In dem Flugzeugwerk auf der Südinsel wird daran gearbeitet. Statt eines Piloten kommen ein großes Funkgerät und ein schwerer Speicher hinein, am Rumpf werden einige Kameras installiert und viele Instrumente wie Wind-Druck- und Feuchtigkeitsmesser und was weiß ich was noch alles. Der Aufklärer kann dann, ohne jemals landen zu müssen, Tag und Nacht um die Erde fliegen und seine Daten in die Heimat funken.“ Die Zuhörer waren beeindruckt.

Ebro fragte sie zögerlich: „Und woher weißt du das alles?“

„Mein Vater ist an dem Werk beteiligt“, war die Antwort eines reichen Mädchens. „Er ist sehr flugbegeistert und erzählt seiner Familie gerne von der neuesten Entwicklung.“

Raputa kam eine dunkle Erinnerung. „Ist nicht ursprünglich das erste Flugzeug auf der Südinsel gestartet?“

„Genau“, bestätigte Landis. „Damals hatten noch richtig viele Menschen auf der Südinsel gelebt. Die meisten wurden ja von der Kälte vertrieben, aber das Flugzeugwerk ist geblieben. Als in der Anfangszeit unserer Nation, so im Jahre fünfzig oder sechzig, die Forscher in den alten verklebten Büchern den Flugzeugbau entdeckten, war die Regierung völlig aus dem Häuschen gewesen. Der damalige Präsident wollte unbedingt ein Flugzeug bauen, nur fehlte es an den geeigneten Materialien. Die Nation wurde älter und älter, die Köpfe zahlreicher und zahlreicher, aber der Wunsch zu fliegen war nicht totzubekommen.“

Landis entpuppte sich als Flugspezialistin, die Gruppe hing an ihren Lippen. „Im Jahr zweihundertachtundfünfzig endlich, der Nahrungsmangel begann sich schon abzuzeichnen, wurde an die Sache Flugzeugbau ernsthaft herangegangen. Inzwischen hatten die Ingenieure hocheffiziente Solarmotoren entwickelt, die auch ein Flugzeug in den Himmel heben konnten. Die Regierung investierte sehr viele Chips, um die passenden Gebäude zu errichten und Leute einzustellen. Vorerst war alles geheim, man wollte nicht als Chips-Verschwender hingestellt werden. Zweihundertfünfundsechzig war es endlich soweit, der erste Südländer flog in einem Flugzeug über seine Heimat. Die Freude war allerdings nur eine halbe Freude, weil inzwischen ein Konkurrent erfolgreich mit dem Wal experimentierte. Da die Regierung die Chips nun mal ausgegeben hatte, wurde auch weiter entwickelt, mit dem Ziel, die Vergiftung der Erde zu erforschen. Der Hintergedanke war, sich nach Australien auszudehnen und aus Asien dringend benötigte Naturalien zu importieren.“

Jeder der Zuhörer war beeindruckt, Landis war mit Jahreszahlen und technischen Einzelheiten vertraut. „Der Erstflug nach Australien war natürlich eine Sensation, schon deshalb, weil der erste Wal auf dieser Strecke zerschellt war. Die Flüge wurden weiter, die Flugzeuge sicherer, leistungsfähiger und raffinierter und eines Tages gelang die Erdumrundung, weil der Pilot immer mit der Sonne geflogen war. Inzwischen sind ja auch Nachtflüge möglich. Da zeichnete sich aber schon eine Zweiteilung ab, die Wale sollen transportieren und die Flugzeuge forschen. Nachdem die Aufklärer sich vergewissert hatten, dass die in Atlanten gefundenen Landkarten stimmen, wurden sie mit Messinstrumenten ausgerüstet. Vor allem sollten sie über den Kontinenten die Radioaktivität messen, denn unsere Wissenschaftler hatten einen Verdacht. Doch die Werte der Atmosphäre waren nicht besorgniserregend, sodass in Bodennähe gemessen wurde und da sah und sieht es noch immer düster aus. Große Teile Asiens und Nordamerikas sind nicht besiedelbar, auch andere, wenn auch kleinere Regionen, sind verseucht. Auf jeden Fall fliegen nun ständig Aufklärer um die Erde, um Daten zu sammeln und bald können sie das sogar ohne Pilot.“

„Wahnsinn“, brachte Anoo nach längerem Schweigen hervor. „Du bist ja eine richtige Flugspezialistin. Weißt du auch wie viele Chips so ein Aufklärer kostet?“

„Die werden immer billiger, je mehr davon gebaut werden. Inzwischen keine Million mehr“, setzte Landis diese unglaubliche Zahl vor.

„Eine Million Chips“, sagte Mak Tauro ungläubig, der vermutlich nicht einmal wusste wieviel Nullen eine Mio hatte.

„Aber mit der neuen Haut die sie jetzt bekommen, werden sie wieder teurer. Die Forschung an Flugzeugoberflächen erbrachte neue Erkenntnisse. Zum Beispiel ist eine möglichst Glatte überhaupt nicht die Beste. Die Flugzeuge werden ja mit demselben Kautschukgemisch bespannt, das für die Zigarren verwendet wird. In die Haut werden nun in Flugrichtung kleine Rillen geritzt. Das verbessert ungemein die Stromlinienform und lässt das Gerät viel reibungsärmer und ruhiger fliegen. Unser Schüttelwal könnte diese Technik auch gut gebrauchen.“

Landis Vortrag zerfiel in Einzelgespräche, bei denen jeder von sich gab, was er über die Luftfahrt wusste.

Am Abend meldete sich bei Darran Tui der Pilot eines Aufklärers. Was sie bloß hätten, über Mitteleuropa sei schönstes Wetter und windstill, sie bräuchten noch zweihundert Kilometer Geduld. Das war eine Strecke, die der Wal mit Rückenwind in zwei Stunden hinter sich bringen konnte. Aber noch schaffte er sich mühselig gen Westen und beim Abendessen hofften alle, bis zum Frühstück diesen Gegenwind los zu sein.


Die Wiederbesiedelung der Welt

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