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Silvester

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Anoo Wutakee arbeitete für die Regierung, Landis und Koa Sinada für private Wissenschaftler; Anoo hatte die Geschwister auf der Uni kennengelernt. Wer in die weite Welt geschickt werden wollte, musste die alte Schrift lesen und übersetzen können und solche Sachen wie Biologie, Geologie und Archäologie studiert haben. Alle drei hatten sich dementsprechend vorbereitet, aber nur Anoo war von der Regierung für das nächste Unternehmen fest eingeplant. Am ehesten noch, was Anoo auch zutiefst hoffte, hatte Landis eine Chance mitzukommen. Doch das hing von der Rückkehr des Wals ab, erst dann wurde entschieden, welche Leute für die neue Mission noch gebraucht würden.

Die Geschwister von der Südinsel wohnten in ihrem Institut, Anoo bei den Quarantäne-Hallen in einem Regierungswohnblock. Alles, was die Wale aus den Erdteilen mitbrachten, wurde unter Quarantäne gestellt und vor der Freigabe tage-, wochen- und manchmal monatelang nach Insekten, Pilzsporen, Bakterien und Viren abgesucht. Alles, was von außerhalb kam, machte der Nation Angst, weil es Krankheiten und Schädlinge mit ins Land bringen konnte. Nur die unter Aufsicht in fernen Landen angebauten Lebensmittel durften, wegen der Haltbarkeit, zügig auf die Inseln. In den Quarantäne-Hallen war auch Anoos Arbeitsplatz. Tagein tagaus die Einfuhren auf die immer gleiche Art und Weise zu untersuchen, war eine monotone, stinklangweilige Arbeit. Ohne die Aussicht, mit einem Wal weg zu kommen, hätte er es nicht ausgehalten. Landis und Koas Arbeit war um einiges interessanter. Sie untersuchten oft rätselhaft aussehende ausländische Pflanzen nach medizinischen Wirkstoffen, sekundär auch auf ihren Nährwert und auf Bestandteile, mit denen Kunststoffe hergestellt werden konnten. Es war zwar bekannt, wie man synthetische Kunststoffe herstellt, aber verboten. Die Regierung wollte im Land nur organische Kunststoffe, die sich problemlos entsorgen ließen. Auch da saß eine tiefe Angst, denn vermutlich hatten synthetische Kunststoffe den Niedergang der Menschheit maßgeblich mit verursacht.

Die Südländische Hauptstadt Tampuro lag auf der dicht besiedelten und warmen Nordinsel, auf der neun von zehn Südländer lebten. Die endlose Millionenstadt ohne Stadtgrenzen befand sich ziemlich weit im Landesinnern, in etwa dort, wo einstmals die Stadt Rotorua gelegen haben musste. Was Forscher aber erst viele Jahrzehnte nach der Stadtgründung herausgefunden hatten. Unter dem Stadtgebiet brodelte es ständig, die Hauptstadt wusste es zu nutzen. Heiße Schwefelquellen, die bisweilen einen würzigen Geruch verbreiteten, beschleunigten das Wachstum der Stadt. Das heiße Wasser lieferte billige Wärme, um Häuser, Hallen und Badewasser zu heizen. Von der ganzen Nordinsel strömten Menschen in die Hauptstadt, um in Bädern in heißem Wasser zu schwimmen. Die Elektrizität kam von den Dächern.

Die Stadt bot ein sehr gleichförmiges Bild; soweit das Auge blickte, sah es gleichhohe Wohnblocks und Geschäftshäuser. Da für den Hochbau geeignete Materialien wie zum Beispiel Stahl fehlten, blieb die Höhe der aus Ziegeln und Holz gebauten Häuser auf vier Etagen beschränkt. Alle standen dicht nebeneinander, auf manchen Parzellen befanden sich kleine Parks, deren Bäume die Fassaden hoch überragten. Die Wohnungen waren klein, denn Wohnraum war teuer, Garagen selten. Vierrädrige Fahrzeuge konnten sich nur wenige Südländer leisten, was die meist engen Straßen dankbar hinnahmen, die wurden von akkubetrieben Zweirädern aller Art beherrscht. Ein sportliches Fahrrad ohne elektrische Hilfe wollten nur wenige. Wer nun auf einem Flachdach stand und mit dem Fernglas um sich schaute, entdeckte an den Hängen der weiter entfernten Berge auch Einfamilienhäuser. Dicht an dicht klebten sie an abenteuerlich steilen Straßen. Dort wohnten die Bürger mit Geld und großen Fahrzeugen; aus dieser Bevölkerungsgruppe entstammten auch die Leute, die sich auf fremde Kontinente trauten. Das Ende der Stadt ließ sich mit dem Fernglas nicht erkennen. Nach dutzenden von Kilometern wurde die Bebauung etwas lockerer, ging kurzzeitig in kurzweiliges Farmland über, um mit den Vororten der zweiten großen Stadt, der Hafenstadt Hickten, wieder dichter zu werden. Im Bereich dieser beiden Städte tummelten sich drei Viertel der Bewohner. Einst lag die Hauptstadt an einem See, dem Tampurosee. Inzwischen lag der See aber in der Stadt und wurde von der Häusermasse schier stranguliert. An den Wochenenden wimmelte es auf ihm von Motor- und Segelbooten. Die Südländer schipperten lieber auf den Binnenseen herum als auf den Ozeanen, das offene Meer war ihnen nicht geheuer. Etwas südwestlicher lag der größte aller Seen, in den großen Ferien ein Naherholungsort für Millionen.

So sehr die Bevölkerung auf Nachrichten aus der weiten Welt gierte, so wenig traute sie sich von ihrer jeweiligen Insel. Die meisten Südländer hielt eine angeborene Urangst davon ab, die Inseln zu verlassen. Draußen in der Welt war es giftig, verseucht, gab es riesige Tiere, fleischfressende Tiere, giftige Tiere, die es in ihrer Heimat nicht gab und unbekannte Krankheiten. Bis sechzig Jahre zuvor war jedem Südländer sogar verboten, die Inseln zu verlassen. Die es taten und von der Polizei ermittelt wurden, wurden zu langjähriger Haft verurteilt. Zu groß war die Angst, dass etwas eingeschleppt wird, was den Menschen und der Ökologie schadet. Schon den Kleinkindern wurden auf drastische Weise die Gefahren der fremden Welten erklärt und ihnen wurde eingeschärft, niemals ihre Heimat zu verlassen, weil das die Existenz der letzten menschlichen Zivilisation, nämlich ihrer, zerstören könnte. Und das saß tief.

Die Inseln umgab ein fantastischer Fischreichtum, den die Südländer ignorierten, weil man zum Fang auf das unberechenbare Meer hinaus müsste. Vor der großen Hungersnot kamen nur Fische aus den sauberen Flüssen und Seen auf den Tisch. Alles aus dem Meer, auch die nahrhaften Algen, die die Not hätten lindern können, hielt man für giftig. Erst nach vielen wissenschaftlichen Untersuchungen erlaubte die strenge Regierung, auch die Meeresfrüchte aus den zahlreichen Buchten zu verzehren und linderte damit den Nahrungsmangel. Inzwischen gab es in ruhigen Buchten auch Fisch- und Algenzucht. Aber Fisch aus dem offenen Meer hatte nach wie vor Seltenheitswert. Dabei gab es unter den Inselbewohnern auch Seeleute. Mit großen, von Solarkraft angetriebenen Frachtern, fuhren sie an entfernte Gestade und brachten Laderäume voller Getreide, Holz, Fleisch und Metalle nach Hause. Die Fahrt um den Globus wagte nur eine Minderheit; diese bestand in der Regel aus Wissbegierigen, Habgierigen, Flüchtigen und Verarmten.


Als die Drei mit dem Mietfahrzeug endlich in der Hauptstadt ankamen, war es schon nach Mitternacht und Sonntag. Landis blieb gleich bei ihrem Freund, sie wollten gemeinsam aufwachen und dann Frühstücken gehen. Koa fuhr mit dem Fahrzeug zu seiner Wohnung im Institut. Am Sonntag redete das Paar wiederholt über das misslungene Orakel. Die Aussage des Schamanen sei doch positiv gewesen, meinte Landis, er könne zufrieden sein. Er müsste nochmals hingehen und sich vergewissern, meinte Anoo, bei der zweiten Windstille würde er es glauben. Landis vertrete die Augen. Es war Dezember, also Hochsommer. Im März oder April, wenn auf der nördlichen Hemisphäre der Frühling Einzug hielt, sollte die große Reise mit dem Wal starten, bei der Landis hoffentlich mit durfte. Doch der Wal ließ auf sich warten. Um ihn zu renovieren und neu auszurüsten, konnten Wochen vergehen. Nach dem Frühstück, das ein Mittagessen war, spazierten sie am See entlang. Anoo hatte bei seinen Eltern ein Motorboot liegen, mit dem er in den heimatlichen Buchten fischte. Das machte er lieber, als im elterlichen Betrieb zu helfen und Fische brachten auch Verdienst. Landis war ein richtiges Binnengewächs und überhaupt noch nie auf einer Wasserfläche gewesen. Das spielte aber keine Rolle, für ihre geplante Reise war das kein Kriterium.

Als es zu schütten anfing, flohen sie in Landis Einzimmerwohnung, die näher lag als Anoos Kammer. Sie war zwar nicht so kuschelig, aber luxuriöser, und sie hatte einen Farbempfänger. Es gab drei Sender, die alle seit einigen Jahren in Farbe strahlten. Das war Fortschritt pur. Ein Fortschritt der durch das Studium alter Bücher zustande gekommen war. Das Liebespaar war mit schwarz/weiß aufgewachsen. Die Nation interessierte sich leidenschaftlich für das Vergessene Zeitalter, dementsprechend häufig kamen zu diesem Thema Wissenssendungen.

An diesem Sonntag sendete das Zweite einen Bericht über Kriege und Waffen, Anoo war elektrisiert, stellte auf dem Projektor den Sender ein und rollte die Leinwand herunter. Abenteurer hatten in einem Land, das Indien genannt wurde, in einem riesigen Gebirge eine ausgebaute Höhle entdeckt. Darin befand sich eine leicht zu öffnende verrottete Stahltür. Unter dem verfaulten oder zu Asche zerfallenen Inventar fanden sie einen Schrank aus Edelmetall, was für sich schon eine Sensation war. Der Schrank wurde ans Licht getragen und mit Gewalt geöffnet. Die Enttäuschung der Schatzsucher war riesengroß, als sich darin nur Plastikteile befanden. Jede Art von alten Kunststoffen durfte in Südland nicht eingeführt werden, zu sehr war der Rest der Welt damit verseucht. Einer der Abenteuer schien ein bisschen wissenschaftlich gedacht zu haben, denn er hatte sich den unbedeutenden Fund genauer angeschaut. Beim Zerbröseln der Teile unter einer Lupe meinte er, Filmstreifen mit winzigen Bildern zu erkennen. Er kam zu dem Schluss, dass es sich um Mini-Mini-Filme aus dem vergessenen Zeitalter handeln musste.

So war nicht der Schrank aus unbekannter Legierung die Sensation geworden, sondern dieser Plastikmüll. Filme für Fotoapparate und Kameras kannte man, aber so winzig kleine wahrlich nicht. Was mussten die früher raffiniert gewesen sein. Und dann die Idee, lesbare Information in einem Berg zu verstecken. Das konnte nur für die Nachwelt gedacht sein, waren sich die Wissenschaftler einig. Seither wurden mit äußerster Vorsicht, damit sie nicht noch weiter zerfielen, die Teile auf Glasplatten geklebt, fotografiert und vergrößert. Bei der Schrift handelte es sich zum Glück um die Alte, die einmal die Englische genannt wurde, und nicht um irgendeine asiatische Zeichensprache. Seit Jahren saßen die Wissenschaftler daran, das Gefundene aufzubereiten, zu kompletten Texten und Bildern zusammen zu setzen, die sie in lockerer Folge der Bevölkerung präsentierten.

Diese Sendung, die sich Landis und Anoo ansahen, war ein Ergebnis solcher wissenschaftlicher Arbeit. Die Beiden staunten und gruselten sich dabei, was die Völker früher so untereinander angerichtet hatten. Total irreal wirkte auf sie das Kriegsgerät. Panzer, Kanonen und Bomber schienen von Irren erfunden. Und alles hatte nur mit riesigen Verbrennungsmotoren funktioniert, die in Südland, wegen der Luftverschmutzung, verboten waren.

Landis überlegte laut: „Will ich so etwas aus der Vergangenheit überhaupt wissen?“

Anoo nickte. „Auf jeden Fall sind diese Mini-mini-Filme ein unschätzbar wichtiger und glücklicher Fund, der uns die Fehler der Menschheit näher bringt.“

„Die Wissenschaftler werden aber weniger über die Fehler der Menschheit erfahren wollen, als vielmehr nach deren abartigen Erfindungen suchen“, meinte Landis grimmig.

„Jetzt stell dir doch einmal diesen riesigen Zufall vor“, ereiferte sich Anoo. „Da marschiert eine Gruppe von Leuten irgendwo zum größten Gebirge der Welt und stößt ausgerechnet auf diese Höhle. So etwas gibt es kein zweites Mal, das muss genutzt werden. Wir haben das Funken ja auch nur aus alten Büchern gelernt, sonst könnten wir überhaupt niemanden anrufen, die Nation könnte sich überhaupt nicht verständigen.“

„Brauchen wir denn noch mehr Neues“, sagte sie betrübt, „ist denn unsere Technik nicht gut genug so wie sie ist?“

„Alles lässt sich verbessern. Dass jemand mit solchen Überlegungen wie du sie hast, nach fernen Kontinenten will, ist mir ein Rätsel.“

Sie wurde eisig. „Ich will keine neue Technik entdecken, sondern neue Lebensmittel. Ich bin Biologe wie du, und komme aus der Landwirtschaft, wie du.“


Am Montagmorgen erkundigte sich Anoo zuerst bei seiner Chefin Mira Feensal nach dem Verbleib des Wals. Der hätte in einer Gegend, in der die Stadt Singapur gelegen haben musste, Metalle gefunden, wusste sie. Jetzt wäre die Mannschaft gerade dabei, möglichst viel davon im freien Teil des Laderaums unterzubringen. Danach könnten sie in zwei Wochen zuhause sein. Die werden vermutlich jeden Tag ihrer Reise auskosten wollen, glaubte Anoo, und erst am allerletzten genehmigten Tag wieder hier aufkreuzen.

Die restlichen Dezembertage plätscherten so dahin, Anoo ging seinen gewohnten Tätigkeiten nach. Zum Beispiel dampfte er mit heißem Strahl importierte Metallteile ab, untersuchte schöne Gesteinsbrocken auf Insekteneier und Einzeller, taute Tierfelle auf, nahm Haarproben und suchte unter dem Mikroskop nach Parasiten. Das interessanteste Fell war von einem Tiger, der ausgestopft einmal in einem Naturkundemuseum Besucher anlocken sollte. In einer Trocken-Kammer wurden die Felle dann aufgespannt und nach zwei Tagen abgebürstet und durchgehechelt, ob sich darin vielleicht Samenkörner versteckten. Gefundene Samen schickte Anoo dann zu Landis ins Institut, die sie wachsen ließ und die Pflanzen auf mögliche Verwendbarkeit testete. Als er importierte Baumstämme untersuchte, machte er einen spektakulären Fund. Er entdeckte eine unbekannte Pilzart. Neue Pilzarten waren begehrt, denn Pilze hatten die ungewöhnlichsten Fähigkeiten. Diesen Fund musste er, so die Vorschrift, seiner Chefin bringen, damit Landis nicht in Versuchung kam, den neuen Pilz ihren Eltern zu schicken. Die Sinadas waren durch Pilzzucht stinkereich geworden.

Ab dem letzten Dezembertag ruhten im Südland die meisten Aktivitäten, drei von vier Einwohnern begaben sich in die großen Ferien. Dann füllten sich die Seen mit Booten, die Zeltplätze mit Zelten, die Ferienhäuser mit Familien und viele besuchten ihre Verwandten. Anoo besuchte seine Eltern an der Westküste und Landis ging dieses Mal mit. Sonst verbrachte sie den Jahreswechsel mit ihrem Bruder bei den Eltern auf der Südinsel. Doch die Ungewissheit, ob Anoo alleine auf die Reise ging und sie mit ihm eine unbestimmte Zeit lang nur noch funken und nicht mehr ins Bett konnte, machte sie unruhig.

Die Südländer sahen sich alle ähnlich. Allgemein waren sie eher gedrungen als langgliedrig, hatten eine leicht olivfarbene Haut und dunkle, leicht gewellte Haare. Selten stach jemand aus diesem Schema heraus. Der Schamane Tairiri zum Beispiel, der deutlich größer war als der Durchschnitt und früher fast schwarze Haare hatte. Aber bei einem Schamanen war das Anderssein durch seine besonderen Eigenschaften entschuldigt. Auch Anoo schlug aus der Art, seine Familie bezeichnete ihn als schmales Hemd. Er war zwar durchschnittlich groß, aber gegen die anderen Wutakees fast zierlich, auch war sein Haar das Hellste seiner Sippschaft. Landis liebte ihn wegen seiner schlanken Gestalt und seinem weichen, mittelbraunen Haar. Dass er die Reise ohne sie antreten könnte, ängstigte sie. In ihren Träumen sah sie ihn inmitten einer Crew, die nur aus schönen Frauen bestand. Landis wusste: ein junger Mann muss hin und wieder sein Sperma loswerden.

Anoos Eltern waren Großbauern, die in einem weitläufigen Tal die wichtigste aller Früchte anbauten. Es war sehr ungewöhnlich, zumindest auf der dichtbesiedelten Nordinsel, dass eine einzige Sippe über dermaßen viel Land verfügte. Landis besuchte die Wutakees nicht zum ersten Mal, deshalb wusste sie schon, was sie erwartet. Von den ausgedehnten Anbaugebieten sah man bei der Anfahrt so gut wie gar nichts. Kilometerweit fuhr man an Reihen hoher, schlanker Bäume entlang, hinter denen sich die höchstens fünf Meter hohen Wella-Bäume verbargen. Wer von der Höhe in das Tal schaute, sah ein Meer dieser Baumreihen, die große Quadrate bildeten. Innerhalb dieser Quadrate standen die wertvollen Wella-Bäume und zwischen ihnen oft noch andere Nutzpflanzen. Die hohen Bäume fungierten als Windbrecher, ohne ihren Schutz wäre der Anbau bestimmter Pflanzen nicht möglich. Der Wind blies fast immer. Kam er von Nordwesten, brachte er heiße Luft vom Äquator, blies er von Südwesten, brachte er Kälte aus der Antarktis.

Die Wella Bäume lieferten die mineral- und vitaminreichste Frucht, die die Südländer kannten. Aus ihr machte man Saft, Marmelade, Süßigkeiten und Gebäck, und Wella wurde anderen Lebensmitteln beigemischt. Viele Nahrungsmittel schmeckten so sehr danach, dass die Bevölkerung jeden Ersatz, der nicht nach Wella schmeckte, freudig aufnahm. Es war abzusehen, dass es zu einer Wella-Abneigung kam, der Reichtum der Familie Wutakee könnte schnell versiegen. Deshalb suchte sie, vor allem der rührige Großvater, seit Jahren nach Alternativen. An den Feldwegen entlang wuchsen nun zwei Reihen Kiwi-Früchte, zwischen den Bäumen wurde Schikoree angebaut. Das Institut, in dem Landis arbeitete, fand in den Schikoree-Knollen eine Substanz, aus der sich Plastikflaschen, Kleidung und Seidenstrümpfe herstellen ließen. Weil es hauptsächlich auf die Knollen ankam, wurden die Märkte mit billigem, wenn auch sehr gesundem, Schikoree-Salat überschwemmt.

Den meisten Gewinn brachte der Familie allerdings eine Neuzüchtung, bei der die Schäden eines Wirbelsturms genutzt wurden. Hinter Anoos Elternhaus, dem Meer zu, hatten aggressive Winde vor einigen Jahren eine riesige Fläche Windbrecher und auch Wella-Bäume geknickt. Auf Druck des Großvaters wurde der Sturmbruch verbrannt und Ackerland geschaffen. Auf diesem Ackerland wurden dann die unempfindlichen Lupinen ausgesät. Lupinen wuchsen wie Unkraut, diese rezessiven Pflanzen verdrängten mit der Zeit alle anderen Pflanzen. Aus den herkömmlichen Lupinen wurde Kautschuk für Reifen, Regenbekleidung und Gummistiefel gewonnen. Der Alte setzte aber auf eine Neuzüchtung, der man die Bitterstoffe weggezüchtet hatte. Die üppigen Kerne dieser Pflanzen waren voller Mineralstoffe und Spurenelemente und wurden zu Mehl für Brot, zu Fleischersatz und Kaffee verarbeitet. Üppige Einkünfte bestätigten den richtigen Riecher des Großvaters. Wer zur Blütezeit im Januar vor dieser endlosen Lupinenfläche stand, dieses blau-weiße im Wind wogende Meer in Richtung Westen überblickte, war nicht fähig zu sagen, wo der Acker aufhörte und der Ozean anfing.


Für die Silvesterfeier, bei der die ganze Sippschaft zusammenkam, räumte Anoos Vater Helster seine Geräte- und Fahrzeughalle aus. Eine Zugmaschine rangierte einen Anhänger voller Klapp-Tische und Bänke hinein, die zu einem riesigen U aufgestellt wurden. Das war der Alkoholbereich für die Erwachsenen. Für die Kinder wurden an den Wänden entlang Tische und Bänke aneinandergereiht. Es war jedes Mal ein freudiges Ereignis, wenn ein Achtzehnjähriger erstmals an das U der Erwachsenen wechseln durfte. Jeder meinte es gut mit ihm und wollte ihn betrunken machen. Innerhalb des U wurden auch Tische aufgestellt, draußen vor der Halle ein bestimmt vier Meter langer Grill aufgebaut.

In der Mitte der Stirnseite saß Großvater Schako. Auf die Tische innerhalb des U wurden, auf große Platten gehäuft, die Speisen gestellt. Jeder konnte mit seinem Teller hingehen und sich aufladen was er begehrte. Auf diese Weise konnte der Großvater jeden seiner Verwandten begutachten und ihn zu einem Gespräch herzitieren. Auch der Alte war überdurchschnittlich groß, viele dachten, er sei Tairiris Bruder, was Schako aber vehement bestritt. Er sei durch und durch Realist und hätte mit Schamanen nichts an der Wolle. Von seiner Größe vererbte er an seine Nachfahren allerdings nichts. Annos Vater Helster, die Onkel und Tanten sowie deren Kinder, waren alle durchschnittlich groß. Links und rechts des Alten saßen seine vier Söhne und fünf Töchter mit ihren Gattinnen und Gatten, weiter weg auch noch Verwandte der Eingeheirateten, dann die über achtzehnjährige Jugend. Annähernd achtzig Erwachsene und hundertdreißig Kinder, die südländischen Familien waren kinderreich, die fast alle auf dem Farmland lebten, mussten gesättigt werden.

Von diesen unübersichtlich vielen Enkelkindern war Anoo des Großvaters Liebling, was der zwar nicht zeigte, aber jeder wusste. Auch Anoo. Dagegen konnte der Alte Anoos Freundin Landis nicht leiden, was er auch nicht zeigte, aber er hatte etwas gegen ihre Eltern. Der Großvater lebte in Anoos Elternhaus, ließ Helster und Moaruna aber gewähren und mischte sich in der Regel nur bei bahnbrechenden Entscheidungen ein. So entschied der Alte zum Beispiel die Lupinen-Frage und, dass Anoo kein Farmer werden, sondern studieren sollte, damit er in die weite Welt reisen und der Sippe Vorteile verschaffen konnte. Es war ungewöhnlich, dass der Älteste von sieben Kindern die Farm verließ, Schako hätte auch einen anderen Enkel schicken können. Der Alte bevorzugte Anoo aber nicht wegen seiner Schönheit, sondern wegen seiner Intelligenz, denn Anno begriff Dinge, bei denen sich seine Verwandten schwer taten.

Anoo und Landis saßen bei den Jungen, dazu gehörten Anoos zwei Schwestern und sein Bruder Borg, der gerade achtzehn geworden war. Die anderen drei Brüder saßen noch bei den Kindern. Jeder der vorbeikam, beglückwünschte Borg, dass er nun am Tisch der Erwachsenen sitzen durfte und stieß mit ihm an. Mancher brachte auch einen Wella-Schnaps mit und fragte hinterhältig, ob er den schon vertrage. Er vertrug einige davon. Aber schon eine Stunde nach dem Essen entleerte er Speisen und Getränke oral hinter der Halle. Landis, die wie Anoo fünfundzwanzig war, unterhielt sich mit dessen jüngeren Schwestern angeregt über die Hauptstadt, Mode und Musik. Er ging hinaus und mischte sich unter die Männerwelt, die sich Bier-, Wein- und Schnaps trinkend am Grill versammelte. Nicht wenige rauchten. Bier brauen, Wein keltern, Schnaps brennen und Tabak anbauen gehörten zu den wenigen Fähigkeiten, die aus dem vergessenen Zeitalter herübergerettet wurden. Fähigkeiten, mit denen die Regierung immer haderte. „Zum Wohle der Bevölkerung versuchen wir mit viel Aufwand die Inseln giftfrei zu halten“, erklärte der Präsident immer wieder. „Und was macht die Bevölkerung? Sie macht sich mit Alkohol und Nikotin krank.“ Mehrmals debattierte das Parlament darüber, zumindest Schnapsbrennen und Tabakrauchen zu verbieten. Doch Mertens Kaloo, der weise Präsident, scheute ein Verbot. Die Neigung zur Sucht könne man nicht verbieten, argumentierte er. Mit dem Verbot von Genussmitteln würde man eine Schattenwelt erschaffen, in der die Bedürfnisse illegal bedient würden. Mit dieser Aussage stieg Kaloos Ansehen in der Bevölkerung beachtlich.

Um Mitternacht wurde das neue Jahr dreihundertzwölf gefeiert, mit Anstoßen, Umarmen, intensiven Küssen, unter den Betrunkenen mit Bierdusche. Der Neustart der Nation war nun dreihundertzwölf Jahre alt. Für Anoo begann das neue Jahr freudig, denn tags zuvor war der Wal angekommen. Auch deren Crew wollte Silvester in der Heimat feiern. Er und Landis setzten sich auf ein Geländemotorad und fuhren zu Anoos Elternhaus, um das neue Jahr im Bett zu begrüßen.

Als sie am nächsten Morgen die Treppe heruntergingen, um sich in der Küche Kaffee zu holen, saß der Großvater schon an seinem Schreibtisch und öffnete die Post der letzten Tage. Der Alte arbeitete nicht mehr, meistens ging er seiner Geschichtsforschung nach. Seine Bürotür war nur angelehnt, Anoo wollte kurz hineinschauen.

„Morgen Schako, gibt es etwas Neues aus der Geschichtsforschung?“

Mit einer Kopfbewegung winkte ihn sein Großvater herein und hielt einen Brief hoch. „Stell dir vor: Nach neusten Berechnungen stammen die Südländer von nur achtzigtausend Menschen ab.“

„Nur achtzigtausend?“ wunderte sich sein Enkel. „Sind die Leute von der Halbmondinsel mit eingerechnet?“ Auf die südlichste ihrer Inseln hatten sich in grauer Vorzeit viele Wissenschaftler und kluge Köpfe zurückgezogen. Dort wurden Tonnen von Büchern gesammelt und eingelagert, dort hatten auch viele wichtige Erfindungen überlebt, zum Beispiel die Herstellung von Solarmodulen und Elektromotoren. Und nur noch dort waren die Jahre gezählt worden. Nur schienen dabei einige hundert, wenn nicht sogar tausend Jahre verlorengegangen zu sein. Darüber wurde unter Forschern ausdauernd gestritten.

„Dort hatten, bevor es zu kalt wurde“, erklärte Schako, „bis zu fünfzehntausend Menschen überlebt. Die sind in den neusten Berechnungen mit dabei.“

Anoo war platt. „Das heißt: Die gesamte Menschheit war bis auf achtzigtausend Individuen geschrumpft. Von einst wieviel Milliarden?“

„Zehn Milliarden könnte eine realistische Zahl sein“, entgegnete der Großvater.

„Zehn Milliarden“, rief sein Enkel ungläubig aus. „Und dann sterben die wegen zu vielen Schadstoffen aus.“ Dass wegen der Schadstoffe auch viele Tiere und Pflanzen ausgestorben waren, war bei den Südländern kein Thema.

„Inzwischen ist verbürgt“, ergänzte der alte Geschichtsforscher seine Neuigkeiten, „dass die Südländer nur überlebt haben, weil die Regierung des damaligen Neuseeland frühzeitig die Inseln von der Welt abgeschottet hat. Sonst wäre es mit menschlicher Zivilisation völlig aus gewesen.“

Die Erkenntnis, die Letzten ihrer Art zu sein, drückte den Südländern aufs Gemüt. Und wieder auch nicht, denn ihnen stand konkurrenzlos die Welt offen.

„Aufklärungsflüge haben aber die Existenz anderer Menschen bewiesen, auf allen Kontinenten. Die könnten eines Tages mit uns konkurrieren“, meinte Anoo, der in Geschichte und Erdkunde auch sehr bewandert war.

„Das sind alles nur Wilde, die nicht einmal Metall kennen“, wusste der Alte. „In ganz Asien gibt es vermutlich nur wenige Tausend. Die können nur in wenigen Gebieten überleben, weil viel Land radioaktiv verseucht ist. Vermutlich leidet ihre Fruchtbarkeit darunter, denn von Radioaktivität wissen sie ja nichts.“

Radioaktivität war auch der Grund, weshalb die Südländer nicht alle Länder, die interessant erschienen, ansteuern konnten. Zum Glück war auch die Funktion des Geigerzählers überliefert worden. So konnten Pioniere vor der Erforschung eines angestrebten Landstrichs die Verstrahlung messen.

„Wenn es stimmt“, überlegte Anoo, „dass unsere Nation bald die zwanzig Millionen überschreitet, dann muss es einmal einen gewaltigen Wachstumsschub gegeben haben.“

„Aber mit Sicherheit“, bestätigte Schako. „Am Tiefpunkt bei achtzigtausend weit verstreuten Menschen, war auf einmal die Unfruchtbarkeit überwunden. Die Südländer müssen Nachwuchs bekommen haben wie die Karnickel. Ich schätze mal, dass sie wegen ihrer enormen Fruchtbarkeit sehr euphorisch wurden und deshalb vor dreihundertzwölf Jahren eine Zentralregierung einrichteten. Danach kam es zu zahlreichen Städtegründungen. Und ich schätze, dass dabei auch eine effektive medizinische Versorgung eingeführt wurde.“

„Und diese enorme Fruchtbarkeit hat dann vor sechzig Jahren zur Hungersnot geführt“, stellte Anoo fest.

„Ich habe die ja erlebt. War nicht schön. Aber ich lernte, was man alles essen kann.“ Der Alte grinste. „Auf jeden Fall war die große Not das Signal, Lebensmittel auch in Australien anzubauen und Meeresfrüchte zu nutzen.“

„Und seit der Hungersnot hat sich die Bevölkerung verdoppelt. Die Familien sind immer noch sehr groß, wo soll das noch hinführen?“ Anoo schaute erwartungsvoll zu seinem Großvater.

„Deshalb brauchen wir Leute wie dich. Zieh hinaus und gründe eine Stadt. Wir Südländer besiedeln wieder die Welt.“


Die Wiederbesiedelung der Welt

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