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Josef

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reitet durch üppige Getreidefelder in Richtung Wald. Zwischen den goldenen Halmen und Ähren leuchten blaue und rote Blüten. Kornblumen, Klatschmohn und andere Getreidekräuter. Deren Samen machen das Brot erst richtig gesund und bekömmlich. Josef ist brotlos aufgewachsen. Als Kind kannte er auch keine Brötchen, Kekse, Kuchen und Nudeln aus Getreide. Aber alle möglichen Ersatzprodukte, die lange nicht so gut schmeckten. Und seine Familie war nicht arm. Seinen ersten richtigen Kuchen genoss er bei seiner Einschulung. Bis es in seinem Zuhause regelmäßig Brot gab war er schon im dritten Schuljahr. Ab da gab es wieder so viel Mehl, dass man jeden Tag Brote zur Arbeit oder zur Schule mitnehmen konnte. Von seinem ersten Brot war er gar nicht begeistert. Was sollte er mit dem trockenen Zeug? Warum sollte er darauf Wurst und Käse legen, wenn er beides auch so essen konnte? Die Mutter griff zu einem Trick, beschmierte eine Scheibe dick mit Butter und noch dicker, mit der süßesten Marmelade die der Haushalt hergab. Butterbrot mit Marmelade ist bis heute Josefs Lieblingsessen.

Seine Mutter ist Susanne, die neue Oberärztin des Hospitals. Josef selber ist ein Spätling. Als er zur Welt kam, waren seine Schwestern schon sechzehn und achtzehn Jahre alt. Als Kleinkind wusste er zunächst nicht, dass man als Mensch eine Mutter hat. Mutter und seine viel älteren Schwestern kümmerten gleichermaßen um ihn. Er brauchte Jahre um dahinter zu kommen, aus welchem der drei Bäuche er geschlüpft war. Beide Schwestern sind auch Ärztinnen. So wie die Mutter, wie Großmutter Kim, Urgroßmutter Meggy und Ururgroßmutter Zora, die vor hundert Jahren das Hospital eingerichtet hat. Zora hatte braune Haut und feuerrote Haare, wird erzählt. Meggy war schon heller, hatte aber schwarze Haare. Auch Kim hatte schwarze Haare, aber eine helle Haut, wie seine Mutter. Josef selber hat die Haare seines Opas, glatt und hellbraun. Dunkelhäutig zu sein und feuerrote Haare zu haben, fände Josef gar nicht schlecht. So als Farbtupfer unter Gleichen würde er sich wohler fühlen.

Nun ist er dreiundzwanzig und Vater zweier Kinder. Vor ihm auf dem Sattel sitzt sein vierjähriger Sohn. Er ist blond und heißt Hans. Nach einer halben Stunde wird er unruhig werden, während dem Ritt um den Vater herumkrabbeln und sich nach hinten setzen. Hans musste nicht mit, er wollte. Wo der Vater ist, ist auch sein Sohn. Keiner versteht die Anhänglichkeit. Josef bemüht sich nicht einmal besonders um den Kleinen. Wally, seine Frau, fühlt sich vom eigenen vierjährigen Kind zurückgesetzt und verschmäht. Ist auf ihren Mann eifersüchtig. Deswegen gab es schon einige unschöne Momente, die der Kleine aber unmöglich verstehen konnte.

Josef und die gleichaltrige Wally haben früh angefangen sich zu entdecken. In der Phase, in der Jugendliche verschiedene Partner ausprobieren, bevor sie sich für einen endgültigen entscheiden, ist Wally schwanger geworden. Deshalb gibt es Hans‘ sechsjährige Schwester Mona. Sie gaben sich gegenseitig die Schuld nicht aufgepasst zu haben. „Das kommt davon, wenn man es zweimal hintereinander treibt“, sagte seine Mutter „und das Waschen vergisst. Die Spermien lauerten noch vom ersten Mal unter der Vorhaut.“ Josef wollte Wally mit ihrer Leibesfrucht aber nicht alleine lassen, hat sich zu ihr bekannt und mit ihr ein frisch renoviertes Haus bezogen. Es ist zwar nicht die große Liebe, aber sie kommen miteinander aus.

Hans lacht gerne, findet alles witzig und spaßig. Wenn sein Gesicht aufleuchtet, entwaffnet er jeden schlechtgelaunten Erwachsenen. Er kann sich sehr gut selber beschäftigen. Während sein Vater arbeitet, spielt er in seinem Zimmer stundenlang mit einem Berg Bauklötzchen, oder im Freigehege mit den Kaninchen und Meerschweinchen. Versunken in fernen Welten schaut er bei Störung wie aus Träumen gerissen um sich, bevor seine Mundwinkel wieder nach oben gehen und er seinen Charme versprüht, um den Störer zu gewinnen. Kann man in diesem Alter schon den Charme anknipsen wie man ihn gerade braucht? fragt sich Josef manchmal. Kann man mit vier Jahren schon so berechnend sein? Sein eigener Sohn ist ihm ein Rätsel.

Sie führen ein Packpferd mit, denn vor ihnen liegen ein paar freie Tage. Es sind Kindergartenferien. Das Packpferd trägt Verpflegung, Wasser, Wein, Schlafsäcke, Hafer, eine Axt und ein Gewehr. Josef hat keine Ahnung wie lange sie unterwegs sein werden, aber er will zu einem Schwarzwalddorf, in dem einige seiner Freunde manchmal ihren Urlaub verbringen. Der Weg, eigentlich ein breit ausgetretener Wildwechsel, ist gut zu erkennen. Er wurde diesen Sommer schon von anderen Reitern benutzt. Leider geht es stundenlang nur durch Unterholz. Er muss permanent aufpassen, dass er von den dünnen Zweigen keine Ohrfeigen bekommt. Wenn der Gaul sich am Geruch eines Raubtiers erschreckt und durchgeht, wird der Reiter nicht ohne rote Gesichtsstriemen davonkommen.

Raubtiere gibt es im Schwarzwald nicht wenige. Erst letzte Woche wurde am Waldrand ein Tiger gesichtet und vorletzte Woche in Dorf Nähe ein Puma erschossen. Natürlich bevölkern auch Wölfe und Braunbären den Wald. Aber alle vierbeinigen Jäger gehen den Menschen aus dem Weg, weil diese immer gleich überreagieren und laut werden. Noch nie in den letzten hundert Jahren wurde ein Mensch Opfer eines Raubtiers. Eines Rindes oder Pferdes schon. Aber noch nie hat ein Bär, Tiger, Leopard oder Puma einen Menschen auch nur verletzt. Wolfsrudel trauen sich nicht einmal an einzelne Menschen. Wenn Wölfe auf Zweibeiner stoßen, hören sie innerlich schon Schüsse. Man muss das Wild erziehen, damit es das macht, was man von ihm erwartet. Das einzige Opfer eines Raubtieres wurde vor langer Zeit ein Alkoholiker, der bei seinen Ziegen einen Leoparden überraschte. Der Mann bekam einen Herzinfarkt und starb, ohne dass die Katze ihn berührt hatte.

Auf eine Aussicht brauchen Vater und Sohn nicht zu hoffen. Im Schwarzwald gibt es nur dort offene Flächen, wo ein Orkan Bäume umgerissen hat. Und diese Flächen sind unpassierbar. Gleichförmig und langweilig geht der Ritt unter hohen Bäumen hindurch und durch Unterholz. Aber die zwei können sich jederzeit beschäftigen. Sie singen. Das hält die wilden Tiere auf Distanz. Zuerst singen sie die Lieder die beide kennen. Pferdehalfter und so. Und das Lied vom Ziegenmelker, der auch als Nachtschwalbe bezeichnet wird und lieber eine schöne Rauchschwalbe wäre, die in den Ställen nistet und tagsüber herumfliegt. Nachdem das Kinderrepertoire abgearbeitet ist, bringt Josef seinem Sohn neue Lieder bei.

Sie singen auch noch, während sie nach drei Stunden absatteln und an einem Bach eine Rast einlegen. Verscheuchen eine Hirschkuh mit Kalb. Die Rösser tun sich am Gebüsch gütlich, die Menschen an belegten Broten. Alle vier trinken vom Gewässer. Josef zeigt seinem Sohn diverse Pflanzen. Nach der Mahlzeit sucht Hans nach Insekten und fragt nach deren Namen. Dann geht es weiter berghoch. Josef redet und singt ohne Pause, damit bei dem gleichmäßigen Schaukeln der Kleine nicht einschläft. Er soll müde ankommen, denn Hans schläft wenig und Josef hat sich für die Nacht Lesestoff mitgenommen. Nach zwei weiteren Stunden kommen sie an den ersten Häusern von Ottoschwanden vorbei. Am niederen Bewuchs erkennt er, dass sie nun auf einer ehemaligen Asphaltstraße weiterreiten. Die Gegend hieß früher Freiamt und war offenes Hochland aus Feldern und Wiesen gewesen. Jetzt besteht alles aus unterschiedlich hohen Bäumen und unter und zwischen ihnen steht das Dorf.

Josef hat auch einen Auftrag. Im Namen von Grisslys ältester Tochter soll er nach ihrem Wochenendhaus schauen. Ob das Dach dicht ist, ein Bär oder andere Tiere im Haus waren. Von den Alten lebt nur noch Carlina. Grissly, Buran, Sigsig, Klara und Kim sind alle nach und nach verstorben.

Vater und Sohn gelangen auf die Hauptstraße. Josef fummelt aus der Kargotasche seiner Hose ein Stück dünne, elastische Birkenrinde heraus, auf die er sich Notizen gemacht hat. Sie lässt sich leserlicher beschriften als Leder. Papier ist selten und teuer. Das Haus ist leicht zu erkennen, es ist von Büschen, Efeu und anderen Kletterpflanzen befreit. Sie dürfen darin wohnen. Steigen ab, binden die Pferde an und gehen auf Besichtigungstour. Das Dach scheint dicht zu sein. Leider finden sie keine Tiere. Keine Marder, keine Vögel, keine Siebenschläfer, nicht einmal Fledermäuse. Das Packpferd wird abgeladen, die Lebensmittel und Schlafsäcke ins Wohnzimmer gebracht. Schlafen wollen sie in einem Doppelbett.

Die Pferde haben aber noch keinen Feierabend. Der Vater hilft seinem Sohn auf das Packpferd. Bevor die Sonne untergeht wollen sie noch eine Ortsbesichtigung machen. Sie reiten weiter berghoch, dorthin wo es noch hell ist, beschauen sich von den Pferderücken aus die Häuser, müssen sich oft tief bücken, um unter Ästen hindurch zu kommen.

„Die Leute hier oben müssen einmal schön gewohnt haben“, meint Hans.

„Die hatten aber alle keine Tiere. Oder hast du so etwas wie einen Stall gesehen?“

Hans schaut sich aufmerksam um. „Nur Garagen. Für Fahrzeuge.“

„Wir müssen noch einen Brunnen suchen, um die Pferde zu tränken“, mahnt der Vater. „In den Häusern gibt es leider kein fließendes Wasser.“

„Wieso hatten die Leute früher kein Wasser? Das war doch bestimmt umständlich so zu wohnen.“

„Die hatten alle Wasser. Die Leitung zum Dorf muss verstopft oder kaputt sein.“

Als sie am obersten und letzten Haus angekommen sind, dreht Josef um und macht sich auf die Wassersuche.

„Papa, was hängt denn dort für eine seltsame Stange auf dem Dach?“ fragt sein Kleiner.

Der Vater schaut zurück und sieht tatsächlich eine seltsame Stange, die an einem Draht befestigt auf dem Dach des letzten Haus liegt. Er schaut zur untergehenden Sonne.

„Wir schauen schnell rein“, entschließt er sich.

Die Pferde werden an den Resten eines Gartenzauns befestigt, die Zweibeiner gehen entschlossen zur Haustür. Sie ist unversehrt. Wo gibt es denn sowas. Eine verschlossene Haustür. Josef wird es heiß. Das könnte bedeuten, dass dieses Haus noch nie geplündert wurde. Dass sich darin Schätze verbergen. Noch nie hat er ein Haus betreten, in dem nicht schon viele vor ihm waren und mitgenommen hatten was zu gebrauchen war.

„Das schauen wir uns morgen ganz genau an“, verspricht er seinem Sohn. „Wasser ist jetzt wichtiger.“

An einem Bächlein, das sich sein Bett selbst gegraben hat, dürfen die Rösser saufen, so lange sie wollen. Die Menschen füllen sich einen Fünf-Liter-Kanister. Die Pferde kommen in die Garage ihres Ferienhauses, bekommen Hafer. Die Zweibeiner machen im Hof ein Lagerfeuer, kochen Tee, essen nochmals, bevor es ins Doppelbett geht, wo Hans gleich einschläft und Josef im Kerzenlicht seinen mitgebrachten Roman anfängt.

Nach dem Frühstück stehen sie wieder vor dem Haus mit der Stange auf dem Dach. Gehen außen herum, drücken sich durch Büsche und Schlingpflanzen. Türen und Fenster lassen sich nicht öffnen.

„Wir müssen wohl einbrechen“, meint der Vater.

Hans schaut besorgt. Das hört sich irgendwie böse an. In Zoratom gibt es keine verschlossenen Türen. Einbrechen ist etwas Unbekanntes.

Josef entscheidet sich für die Scheibe des Toilettenfensters, das am einfachsten gegen Tiere abzudichten ist. Mit einem Stein aus einer Trockenmauer wirft er sie ein. Versucht den Griff umzudrehen. Es geht nicht. Es ist ein Fenster, das seit hundert Jahren nicht mehr geöffnet wurde. Mit einem anderen Stein klopft Josef die Scheibe restlos aus dem Rahmen, schwingt sich aufs Fenstersims, klettert vorsichtig auf die Brille. Hans schaut mit großen Augen zu ihm hinauf.

„Ich öffne dir die Haustür“, spricht der Vater hinaus.

Innen steckt ein Schlüssel, es ist aber nicht abgeschlossen. Die Haustür knarrt sehr laut, lässt sich überraschend leicht öffnen.

„Jetzt sind wir in einem Haus, in dem seit hundert Jahren keiner mehr war. Seit der großen Katastrophe. Sehen wir uns mal um.“

Zuerst geht er in die Küche. Überall Insektendreck und herunter gerieselter Putz und abgeblätterte Farbe, von in Decke und Wänden aufgeplatzten Rissen. Er sieht Geschirrspüler, Kühlschrank, Abzugshaube und Mikrowelle, was ihn aber nicht interessiert. Er sucht in den Schränken nach Küchengeräten. Findet Küchenmaschine, Mixer, Toaster, Eierkocher und andere, die sich in sehr gutem Zustand befinden. Josef ist Elektriker von Beruf und bekommt ein Hochgefühl.

Auf einmal steht Hans vor ihm, kreidebleich. „Da liegen Gespenster“, flüstert er.

Im Wohnzimmer sitzt in einem tiefen Sessel, der auf einen Bildschirm ausgerichtet ist, ein Skelet. In einem schwarz-roten Adidas Trainingsanzug. Auf der Couch liegt ein weiteres. Mit langen blonden Haaren und mit Unterhemd und Slip bekleidet.

Josef nimmt Hans auf den Arm. „Du musst keine Angst haben. Das sind wohl die Hausbesitzer, die damals hier gestorben sind. Wenn ein Mensch oder Tier stirbt, bleiben nach Wochen nur die Knochen übrig. Das ist ganz normal. Wir durchsuchen zuerst das Haus nach weiteren Gerippen.“

Zur Entspannung, geht er mit Hans zuerst in den Keller. Dort finden sie eine Motorsense, eine Kettensäge und einen Rasenmäher. Ersatzketten, Kettensägen-Öl und Benzinkanister sind auch vorhanden. Wenn er das alte Benzin destilliert, könnte es, mit Öl vermischt, Sense und Säge wieder antreiben. Im Keller stehen auch viele Vorräte, die bestimmt niemand mehr verzerren wird. Nach den erfreulichen Funden wagen sie sich ins Dachgeschoss wo die Schlafzimmer liegen. Das erste Zimmer ist dunkel. Josef will den Rollladen hochziehen, doch der Gurt reißt. Das Fenster geht aber auf. Er stemmt den Rollladen nach oben, hört ein „Ui“ hinter sich. Das Zimmer ist voller Spielsachen. Lego und Playmobil. Ritterburg, Traumschloss, ein Flughafen. Im Bett liegt ein Schädel mit braunen Locken.

Hans nimmt fasziniert ein Piratenschiff in die Hand. „Hatten damals alle Kinder so viel Spielzeug?“

„Keine Ahnung, woher soll ich das wissen, ich habe diese Zeit ja nicht erlebt. Aber so wie es überliefert ist, war kaufen die Lieblingsbeschäftigung der Menschen aus der alten Zeit. Sie haben auch Sachen gekauft, die sie gar nicht brauchten.“ Josef klemmt zwischen Rollladen und Fensterbank einen Stuhl, damit sich Hans umschauen kann.

Nebenan sind Bad, Elternschlafzimmer und ein Ankleideraum mit riesigem Kleiderschrank. Josef schaut Jacken und Hosen durch, dann die Kleider der Frau. Die Sachen sind alle noch in Ordnung, die Stoffe fest. Aber so würde heutzutage niemand mehr herumlaufen. Höchstens an Fasnacht. Vielleicht ist einiges als Arbeitskleidung zu gebrauchen. Die Unterwäsche auf jeden Fall, besonders die Winterunterwäsche, die Schuhe sowieso. Er probiert einige an, die Sohlen fallen ab. Neue Lederschuhe unterliegen einer aufwendigen Herstellung, deshalb tragen im Alltag die meisten Menschen Rosshaar-Sandalen, Stroh-und Holzschuhe.

Der nächste Raum ist ein Büro. Er findet Computer, Laptop, Fotoapparat, CD-Player und anderes Gerät, das er Zuhause gründlich untersuchen will. Und er findet, sein Herz hüpft bis zur Schädeldecke, Papier. Kiloweise DINA4-Papier. Ein richtiger Schatz den er unbedingt mitnehmen muss. Auf einem Beistelltisch sieht er ein Gerät mit vielen drehbaren Knöpfen, das ihm Rätsel aufgibt. Er lässt es links stehen und durchsucht lieber die Schränke. Hans spielt mit Playmobilpiraten, hat aber noch nie ein Schiff gesehen. Im Schrank entdeckt Josef Schallplatten, einen Plattenspieler und Lautsprecherboxen. Es wird immer besser. Plattenspieler kennt jeder. Die langlebigsten Geräte überhaupt. Es wird immer deutlicher, dass er mit einigen Mulis zurückkommen muss.

In den Regalen stehen Ordner, deren Rücken er nur überfliegt. Er geht die Bücher durch. Bekommt mehrere in die Hände, die mit Funken zu tun haben. Was bloß ist Funken? Er lässt die Seiten durch den Daumen gleiten und entdeckt ein Foto, schaut es genauer an, dann das Gerät auf dem Beistelltisch. Josef setzt sich in den Bürosessel, beginnt zu lesen und vergisst die Welt.

„Ich habe Hunger, großen Hunger“, steht Hans vor ihm.

Josef schaut aus dem Fenster, sieht an der hochstehenden Sonne, dass offenbar beide die Zeit vergessen haben. „Die Pferde haben bestimmt großen Durst. Reiten wir hinunter.“

„Kommen wir nachher wieder zurück?“

„Unbedingt.“

„Das ist der schönste Tag in meinem Leben“, findet der Vierjährige. Im Kinderzimmer hat er den Schädel zugedeckt und auf den Boden einen Bauernhof mit Tieren, Reitern und Kutsche gestellt. „So würde ich gerne leben. Das bist du und das bin ich“, zeigt er auf die zwei berittenen Playmobilfiguren.

Nach einer Stunde sind sie schon wieder zurück. Bis zur Dämmerung beschäftigen sich das Kind mit den Spielsachen und der Vater mit dem Funkgerät. Die halbe Nacht liest Josef im Schein einer Kerze in den Büchern über Funken, um sich diese Welt zu erschließen. Langsam kapiert er, was die abgebrochene Stange auf dem Dach soll, lernt andere Teile kennen und erfährt, was es mit Frequenzen auf sich hat.

Ein Funkgerät alleine macht keinen Sinn. Am nächsten Morgen durchsucht er das Büro und das Haus nach Zubehör und Ersatzteilen, stellt alles auf den Schreibtisch. Er will mit Tragtieren zurückkommen und alles, auch die Antenne auf dem Dach, mit nach Hause nehmen wo es Strom gibt. Als aktuelle Beute packt er die Motorsäge samt Zubehör zusammen und für die Gemeindeverwaltung das jungfräuliche Papier. Eine gewisse Zeit braucht er, um den Playmobil- Bauernhof auseinander zu bauen, denn der muss auch mit. Nachdem das bewerkstelligt ist, findet Hans in einer Schublade die passende Bauanleitung, auch für die Ritterburg, das Traumschloss und den Flughafen. Und Spielzeugkataloge. Die müssen erst recht mit, denn das sind Comic-Hefte für Kindergartenkinder. Was sowieso eingepackt wird, sind die Bücher über das Funken. Singend machen sie sich auf den Heimweg. Der Ausflug hat sich wahrlich gelohnt.


Zoratom besteht aus vielen renovierten Häusern, aus neuerbauten im Blockhaus-und Fachwerkstil und aus verfallenen Gebäuden, die abgetragen werden, wie man gerade ihre Bestandteile benötigt. Vor den Häusern blühen Blumenbeete, stehen alte Kübel und Wannen, in denen Pflanzen wachsen, die über den Winter in den Keller müssen. Am Schönsten blüht es vor der Gemeindeverwaltung und dem Hospital. Carlina hat sich neben dem Hospital in einer Wohnung ein Büro eingerichtet, das in den letzten beiden Jahrzehnten stetig gewachsen ist. Von hier aus verwaltet der Rat die neunhundertköpfige Gemeinschaft von Zoratom. Die Hälfte der Familien lebt auf den Höfen und in Ettenheim. Dazu kommen noch einige, die alleine in irgendeinem Dorf wohnen und sich eine kleine Landwirtschaft eingerichtet haben. Doch alle zählen sich zu Zoratom, helfen gerne, weil sie wissen, dass dann auch ihnen geholfen wird. Und nicht nur medizinisch.

In Carlinas Büro haben sich eine Menge Ordner angesammelt. Jedes kulturelle, sportliche und andere Ereignis wird chronologisch festgehalten. Jede Geburt und jeder Todesfall auf Listen notiert. Eheschließungen, Schulbildung und Berufsausbildung der Kinder werden verewigt. Die Unterlagen verraten, wo die einzelnen herkamen, wo sie wohnen oder wohin sie gezogen sind. In ihrem Büro werden die Schuldscheine verwahrt, die Viehbestände und Erntemengen erfasst. Alles wird von ihr doppelt geführt. Die Duplikate lagern in einem feuerfesten abschließbaren Hospital-Schrank. Carlina stellt auch eine Art Reisepapier aus, mehrsprachig. Dazu hat sie sich einen komplizierten Stempel schnitzen lassen, der mit eingedicktem Brombeersaft funktioniert. Damit sollen sich die Bürger in der Fremde ausweisen, um beim Handel vertrauen zu wecken. Hinter ihrem großen Schreibtisch organisiert sie, auf einem unbequemen Stuhl sitzend, das Zusammenleben. Wenn etwas geregelt werden muss, wie gemeinsame Ernten, Baumaßnahmen oder der Handel, geht man zu Carlina, die morgens drei Stunden lang Verwaltung betreibt. Als Hilfe steht ihr Doris zur Seite, die Kims Enkelin und Josefs sechszehn Jahre ältere Schwester ist. Die älteste der drei Geschwister wohnt in Frankreich. Wo und mit wem und wie viele Kinder sie hat, ist bei Carlina nachzulesen.

Die Informationen sind in kleiner Schrift aufgeschrieben, Papier ist selten und wertvoll. Papier aus der alten Zeit ist verbraucht oder verrottet. Zwar bieten Händler immer mal wieder neue Funde an, doch zu hohen Preisen. Es gibt auch Handwerker die neues Schreibpapier herstellen. Das ist noch teurer, denn es wird Blatt für Blatt hergestellt.

Carlina ist immer noch die Größte unter den Frauen, nur zwei junge Männer sind gleich groß. Man sieht ihr das Alter nicht an, ihr Körper scheint für Falten nicht geschaffen. Dennoch ist sie aus der jugendlichen Form gegangen, auch bei ihr haben die üblichen Körperpartien den Drang sich hängen zu lassen. Zum Beispiel Backen und Kinn.

„Ich hab dir was mitgebracht“, begrüßt Josef die über siebzigjährige Carlina, und legt ihr ein paar Kilo Schreibpapier auf den Tisch.

Ihre Augen vergrößern sich und leuchten. „Das ist mal eine angenehme Überraschung. Das befreit mich auf Jahre von Sorgen. Hast du eine unentdeckte Druckerei gefunden?“

Josef erzählt von dem höchstgelegenen Haus in Ottoschwanden. „Weißt du was Funken ist?“, überrascht er sie.

„Klar. Hatten wir früher auch“, überrascht sie nun ihn. „Alle südbadischen Gemeinschaften waren über Funkgeräte verbunden. Bei uns hatten sogar die Höfe eins und das Hospital sowieso. Dann ging eins nach dem anderen kaputt und seither gibt es Boten.“

Er legt ihr ein Buch auf den Tisch. „Ich traue mir zu, so ein Gerät zum Leben zu erwecken. Dazu müsste der Rat mich von ein paar Pflichten befreien und mir ein Paar Packpferde oder Mulis zu Verfügung stellen, damit ich das Funkzeug bergen kann.“

„Gibt es dort noch mehr Papier?“

„Nein. Aber verschiedene neuwertige elektrische Geräte und eine Motorsense. Und Playmobil und Lego für die nächsten zehn Geburtstage.“

Da er ihr das Papier gebracht hat, gönnt sie ihm das viele Spielzeug. Sie lehnt sich zurück. „Du willst das Funken eher aus Neugier probieren, nicht weil wir es brauchen. Die berittenen Boten lieben ihre Aufgabe. Wenn sie durch ein Funkgerät ersetzt werden, gibt es garantiert Stunk.“

„In anderen Kommunen könnte es Leben retten. Es würde den Boten und damit Zeit sparen, wenn ihr gleich zum Patienten reiten könnt. Außerdem muss immer geforscht werden. Man weiß nie, zu welch nützlichen Ergebnissen man kommt.“

„Sehe ich auch so. Außerdem muss man nicht immer alles neu erfinden. Man kann auch getrost Altes reaktivieren.“

Doris kommt herein. „Guten Tag Brüderchen. Wieder zurück. Carlina, du solltest ins Hospital kommen, wir haben eine echt komplizierte Operation und brauchen deine Erfahrung.“

„Das mit den Mulis leite ich in die Wege“, verspricht Carlina beim hinauseilen.

Einige Tage später schreibt Josef auf die Schiefertafel die an seiner Werkstatttür hängt: „In wichtiger Mission unterwegs“, verabschiedet sich von Frau und Kinder und marschiert zu den Pferdeställen hinüber. Grisslys Hof wird nun von Tundra geleitet, seiner ältesten Tochter. Eben die, mit dem Wochenendhaus in Ottoschwanden. Sie ist zwar nicht die Fähigste, kann aber am schönsten reden. Ihr jüngerer Bruder Basti sattelt mit Josef zwei Pferde und fünf Mulis. Das Pferdegeschirr aus der alten Zeit wird nicht mehr benutzt, trotz guter Pflege wurde das Leder brüchig. Das Zaumzeug wird nun aus Pferdeschweifen geflochten, die Sättel werden aus Büffelleder genäht, die Metallteile aus alten Eisenteilen handgeschmiedet. Basti begleitet ihn auch und wird ihm beim Bergen der Antenne und Packen helfen.

Drei Tage später sind sie zurück. Bei Tundras Hof laden sie die Motorsense und andere Maschinen ab, die Elektrogeräte und alles was mit dem Funken zu tun hat, bei Josefs Werkstatt. Die Spielsachen werden geteilt, auch Basti hat zwei Kinder und will für seine Hilfe belohnt sein. Er bekommt die Legosachen. Die folgenden Tage verbringt Josef in seiner Werkstatt. Wenn ihn jemand braucht, weil eine Solaranlage spinnt oder irgendeine elektrische Pumpe den Dienst verweigert, geht er nur äußerst wiederwillig an die Reparatur. Zu fesselnd ist das was er gerade betreibt. Ob das Gerät vom Beistelltisch richtig funktioniert kann er nicht wissen, setzt es aber voraus. Er baut es auseinander um es kennenzulernen und reinigt die Teile. Aus den gefundenen Ersatzteilen baut er ein Zweites. Bald darauf dringen aus seiner Werkstatt beängstigende und nervende Töne. Es summt, rauscht und quietscht, zum Missfallen seiner Mitmenschen. Neugierige werden mit dem Satz abgewiesen: „Ich forsche für die Zukunft“, die Bastelarbeit wird abgedeckt. Einzig Carlina wird über den Stand der Forschung unterrichtet. Einen halben Tag verbringt Josef auf dem Schrottplatz, um Material für eine zweite Antenne zu suchen. Eines Tages wird es spannend.

Nachdem er die Bücher fast auswendig kennt und der Meinung ist, dass es funktionieren müsste, baut er vor Carlinas Büro eine Antenne auf. Stellt auf ihren Schreibtisch ein Gerät und legt zur Antenne hinaus eine überprüfte Leitung. Die Stromkabel sind auch nicht mehr das was sie einmal waren. Abgebrochene Drähte und verrottete Isolierungen sind keine Seltenheit. Er schließt alles an den Stromkreislauf an und hofft, dass die Solarpaneele genug Spannung liefern, denn die schwankt. Bei viel Sonne und Wind erfreut sich Zoratoms Stromnetz an zweihundertzwanzig Volt. Je nach Wetter kann es aber weniger sein. Dann laufen die Elektromotoren langsamer. Nicht wenige Geräte funktionieren mit Schwachstrom, was sehr erfreulich ist. Das heißt, man muss die zweihundertzwanzig Volt drosseln. Dazu sind Transformatoren notwendig, die Josef in seiner Werkstatt baut. Doch das gefundene Funkgerät erfordert die volle Volt Zahl.

Carlina war immer die Frau die alles kapiert, auch wenn sie nun über siebzig ist, hat sich daran nichts geändert. Josef erklärt ihr was sie zu tun hat, das ist nicht viel. Sie muss nur lauschen ob sie seine Stimme vernimmt und einige Knöpfe in der richtigen Reihenfolge bedienen. Er stellt das Funkgerät an, es reagiert mit Rauschen.

„Das Gerät steht nun auf Empfang. Ich gehe hinüber in meine Werkstatt und spreche in den Äther. Wenn mein Geschick so groß ist wie ich es einschätze, können wir uns dann unterhalten“, meint er unbescheiden.

Fünf Minuten später schreibt er auf die Schiefertafel „Bin nicht da“, und geht hinein zu seinem Werktisch. Streckt alle zehn Finger aus, stellt sich vor das Gerät. Obwohl er vorsätzlich sachlich und nüchtern agiert, überkommt ihn ein Schauer. Mehr Blut als üblich schießt ihm in den Kopf. Er dreht einen Knopf, Lämpchen gehen an. Dann holt er tief Luft und drückt eine Taste. Spricht.

„Hier ist die Werkstatt von Josef, dem größten Erfinder überhaupt. Carlina, kannst du das bestätigen?“

Doch die Antwort bleibt aus. Der Erfinder ärgert sich nicht wenig.

„Carlina, du musst zuerst den Schalter umlegen und danach die Taste betätigen. Hörst du mich?“

Mit Hochspannung lauscht er dem Rauschen. Doch da ändert sich nichts. Keine neuen sphärischen Klänge, nicht die allerleistete Stimme ist zu hören.

„Carlina, hier ist ein verzweifelter Josef. Ich war fest davon überzeugt, dass es funktioniert. Ich muss gestehen, dass ich es hier in der Werkstatt schon mit dem Hund ausprobiert habe. Wenn auch auf kurze Entfernung. Aber ich meine, dass ich sein Gebell aus dem Lautsprecher gehört habe.“ Enttäuscht schaut er vor sich hin.

Dann schlägt es ihn fast vom Hocker. „Wau, Wau“, bellt es ihm laut entgegen. Dann hört er Carlina lachen. „Ich höre dich klar und deutlich. Ich wollte nur einen überheblichen Erfinder zappeln lassen. Ich hoffe, dass du mich so gut hörst wie deinen Hund. Warte auf Antwort.“

„Juchu“, brüllt er, „jetzt können wir überlegen, welche Kommune das Zweitgerät bekommen könnte. Ich wäre für die Straßburger.“ Denn die liefern ihnen immer den Cannabis, der auch für das Hospital wichtig ist. Mit Cannabis werden, in Verbindung mit einem giftigen Pilz, die Patienten sediert. Früher war Cannabis ein echtes Problem. Aber nicht, weil die Leute jeden Morgen High waren, sondern weil kettenrauchende Mütter und Väter an Lungenkrebs starben. Die Nachfahren waren gewarnt, rauchen nur noch mäßig.

„Josef. Wenn ich sprechen kann, musst du das sagen. Entweder sagt du wie ich, „Warte auf Antwort“, oder sagst, „Bitte sprechen“ oder „Fertig“ oder sonst irgendwas woran man erkennt, dass dein Beitrag zu Ende ist.“

„Das ist eine sehr gute Idee. Du blickst wie immer voll durch. Wärst du mit Straßburg einverstanden? Fertig.“

„Die sind von allen noch am Einfachsten zu erreichen. Ich bin da eher für eine Kommune im Wald oder weiter nördlich. Donaueschingen oder Bruchsal. Fertig.“

Von ihren direkten Nachbarn, den Religiösen in Lahr, die strikt die Regeln eines alten Buches befolgen, ist keine Rede, denn die mag keiner und die Religiösen vermeiden den Kontakt mit anderen Gruppen. Nur bei akuter Lebensgefahr bringen sie manchmal einen Patienten ins Hospital.

„Wir müssen aber zuerst die Reichweite testen, denn die ist begrenzt“, erklärt er. „Dazu werde ich wohl eine kleine Reise machen müssen. Wann stellen wir das Funkgerät der Gemeinschaft vor? Fertig.“

„Das können wir jederzeit machen. Neuheiten sind immer gefragt. Am besten gleich nächsten Samstag, im Sportheim, vor dem Tanz. Fertig.“

Bevor die ersten Gäste kommen, baut Josef vor einem Fenster die Anlage auf und deckt sie mit einem Tischtuch ab. Legt ein Kabel durchs gekippte Fenster hinaus zur Antenne. Seine Mutter, die Chefärztin Susanne, kommt auch. Die Technikversessenheit des Sohnes sieht sie einerseits mit Bedauern. Er wäre bestimmt ein sehr guter Chirurg geworden. Andererseits findet sie es faszinierend, was er alles zusammenflickt und zum Leben erweckt.

„Das eine OP-Licht hast du immer noch nicht repariert“, begrüßt sie ihn.

„Ja bin ich hier denn der einzige Elektriker?“, wehrt er sich gleich. „Die Forschung ist nicht unwichtig. Forschung ist für die Zukunft.“

„Als ob wir nicht alles hätten“, meint Doris, die ihrer Mutter folgt. „Ich sehe das so: Dein Hobby geht zu Lasten deiner Arbeit. Erst die Lichter und der Strom, dann die Forschung.“

„Werde mich bessern“, verspricht er.

Mit dem Satz: „Und nun präsentiere ich euch den Fortschritt, um den wir nicht herum kommen werden“ und entfernt das Tischtuch. Ohne etwas zu erklären setzt er sich an den Tisch, stellt das Gerät an und lässt es pfeifen. Sofort sind alle still. Das nutzt er.

„Hallo Carlina, hier Josef. Kannst du mich hören?“

„Klar und deutlich“, kommt es klar und deutlich aus dem Lautsprecher.

Sie unterhalten sich noch ein wenig, um die Funktionsweise zu demonstrieren, sagen immer brav fertig am Ende, bis sie ihm zu seinem neusten Werk gratuliert und sich verabschiedet. Erst danach erklärt er den Besuchern des Abends, was ein Funkgerät ist.

Als er davon redet, was er für ein Glück hatte diese Ausrüstung zu finden, entgegnet Tundra: „So ein Zeug steht bei uns auf dem Dachboden herum.“


Pandemie des Todes III Teil

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