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6) Gesichter

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Es gibt Erfahrungen im Leben eines Menschen, einer Familie, eines Volkes die so elementar und aufwühlend sind, dass es Jahre, ja mitunter Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte braucht, sie zu verstehen und zu begreifen. Dabei muss es nicht ein verheerender Krieg, eine Katastrophe oder ein anderes großes Unheil sein. Zuweilen versteckt sich die mahnende Erinnerung als Ausdruck grenzenloser Angst und unfassbaren Leids hinter einer unscheinbaren Tapete, besser gesagt hinter einer Trennwand, auf der das vorbenannte Papier als verschönender Raumschmuck vor vielen Jahren aufgeklebt wurde. Die Geschichte, welche ich hier erzähle, ist wahr, so wahrhaftig wie die Tatsache, dass sich die Erde um die Sonne dreht und wir nur ein unbedeutendes Sonnensystem sind in einer gewaltigen Galaxie. Aber all zu oft verbirgt sich das wirklich Große, das Bedeutende - aber auch das Tragische und Verhängnisvolle, in den weniger beeindruckenden Arrangements unserer Vorstellungswelt von Sein und nicht Sein. Doch lassen Sie mich zum eigentlichen Kern meiner Erzählung kommen, die, so hoffe ich, Ihnen ein wenig mehr den Sinn schärft für jene Dinge, die unsichtbar, kaum wahrnehmbar, dabei doch mit aller Gewalt vorhanden und die Geschicke der Menschheit lenkend, unseren täglichen Lebenslauf bestimmen. Alles nahm seinen Anfang im Berlin der ausgehenden Sechziger und beginnenden Siebziger Jahre. Als Student der Betriebswirtschaft gehörte ich wie selbstverständlich zu jener berühmt-berüchtigten Generation, die sich mit Brachialgewalt von ihrer altehrwürdigen, vermufften und mit überkommenen Vorurteilen gesegneten Elterngeneration trennten und den Staat - so damals einhelliger Tenor - an den Rand des Bürgerkriegs führten. Heute wissen wir alles viel besser, wie schon so viele Generationen vor uns im Nachhinein alles besser wussten, und haben uns entsprechend arrangiert. Trotz aller Schwierigkeiten, wenn ich diesen mehr als unsere, der Studenten wirkliche Lage betreffenden Zustand entschärfenden Begriff verwenden darf, gelang uns, und damit auch mir, der relativ unbeschadete Eintritt in die tags zuvor noch verdammte kapitalistische Wohlstandsgesellschaft, die mir und meinen Mitkommilitonen meine theoretischen und praktischen Ausflüge ins Che Guevara- und Ho-Tschih-Minh Lager nicht Übel nahmen. Im Gegenteil, ich hatte das Gefühl, dass mir meine Arbeitgeber und Kollegen ganz besonderen Respekt entgegenbrachten, hatten wir uns doch auch für die Belange der Arbeitnehmer vehement eingesetzt. In mir keimten Empfindungen, die sich durchaus mit denen eines Samurai vergleichen ließen, jedenfalls theoretisch. Aber das nur als Anmerkung, ich möchte Sie nun auf den eigentlichen Pfad meiner Erzählung zurückführen, denn sicher sind Sie begierig darauf zu erfahren, was nun in Berlin geschah, und vor allem was mit mir geschah. Da meine lukrative Einkommensaussicht auf längere Zeit gesichert schien, widmete ich während meiner nicht gerade üppig bemessenen Freizeit mein Augenmerk den Schönheiten Berlins, nicht nur den Baulich-Kulturellen, sondern auch den Weiblichen. So ergab sich fast zwangsläufig die Bekanntschaft mit einer reizenden Wannseeschönheit, aus der sich eine intensive, leidenschaftliche Beziehung entwickelte, die im Hinblick auf die anderen Umstände, in der sich meine Angebetete plötzlich befand, zu rascher Heirat drängte, was dann auch geschah. Ich habe diesen Schritt bis heute nicht bereut, das sei nur am Rande erwähnt und auch als Trost für all diejenigen die glauben, dass nach ungezählten Ehejahren nichts mehr übrig ist von jener Leidenschaft, die in schwül-heißen Sommernächten der Liebe Glut wallende Gewänder umlegt. Sie ist noch da und es liegt nur an uns selbst, sie von Zeit zu Zeit neu zu entdecken. An einem wunderschönen Augusttag schenkte mir meine junge Frau ein bezauberndes Mädchen, und es gab an diesem Tag nichts Größeres auf der Welt als den Augenblick, als ich unser Kind zum ersten Mal sehen durfte. Anfassen traute ich mich diesen rosigen Wurm nicht, denn ich befürchtete ihn ob dieser Berührung zu zerbrechen. Später bekam ich dann unverhofft und ungewollt Einblick in die Babystation, und von da an hatte ich wesentlich mehr Vertrauen in die Überlebensfähigkeit von Neugeborenen, die sich energisch und lautstark den Zugriffen der Säuglingsschwestern widersetzten. Nachdem nun meine Frau mit unserem Kind aus der Klinik entlassen wurde stellte sich die Frage, wie eine optimale Unterbringung dieser auf drei Personen angewachsenen Intimorganisation, so nannten wir unsere Familie in jenen Tagen, unterzubringen sei. Nach Studium der einschlägigen Zeitungen und unter selbstloser Hilfe eines Kollegen gelang es uns kurzfristig, eine Wohnung in Berlin-Kreuzberg zu bekommen. Bei dieser Wohnung handelte es sich um die Hinterlassenschaft eines ehemaligen kaiserlichen Offiziers, der sich den damaligen Verhältnissen entsprechend großbürgerlich und damit klassizistisch etablierte. In einem Haus in der Reichenberger Straße, unweit des Landwehrkanals, als Eckhaus zur Lausitzer Straße gebaut, bezogen wir in der ersten Etage zu beiden Seiten unsere Wohnung, und ich muss sagen, dass mir bis dahin jegliche Vorstellung darüber fehlte, wie die bürgerliche Wohlstandsgesellschaft des ausgehenden Neunzehnten und beginnenden Zwanzigsten Jahrhunderts zu leben und vor allem zu residieren pflegte. Die angemieteten Räumlichkeiten maßen über alles mehr als Einhundertfünfzig Quadratmeter und das zu einem Preis, der mehr als freiwillige Spende Berechtigung finden könnte, geschweige denn als Mietsumme. Wie dem auch sei, wir waren mehr als froh über unser neues Heim, wenn sich auch die drei Menschlein in diesem Irrgarten der Räume hoffnungslos verloren. Eingangs der Wohnung schloss sich ein in der Unendlichkeit verlierender Korridor oder Flur an, was der Wohnung einen Hauch von lebendiger Vergangenheit, aber auch eine, in leichtem Anflug unerklärliche, ein wenig unheimliche Ausstrahlung verlieh. Seltsamerweise gestand mir meine Frau noch am gleichen Abend, der erste übrigens in unserer gemeinsamen Wohnung, dass sie sich vor diesem langen Korridor fürchtete. Ich versprach mein Bestes zu tun, um unser trautes Heim so anheimelnd wie möglich zu machen. Neue Tapeten, neue Lampen, frische Farben, viel Licht überall, besonders im Korridor, was meiner Angebeteten und Mutter meiner Tochter sehr gefiel. Zur rechten und linken des Korridors lagen die großzügig bemessenen Zimmer der Wohnung, eine Küche, ein Wohnzimmer, Schlaf- und Kinderzimmer sowie ein Zimmer für das Hausmädchen, das wir uns aus menschlichen, weniger aus finanziellen Gründen nicht halten wollten. Meine Frau verabscheut die Sklaverei. Darüber hinaus gab es noch ein Badezimmer, das von der Ausgestaltung und Größe her einer mittleren Badeanstalt Konkurrenz machen konnte. In der Küche befand sich neben einem mächtigen Herd, zu beheizen mit Kohle, Holz und anderen festen Brennstoffen, noch der Heizkessel, der für das warme Wasser im Haushalt zuständig war. Klugerweise hatten sich die Baumeister beim Einbau damals für die Nordseite entschieden, so dass auch in heißen Sommern der Aufenthalt in der Küche erträglich war. Zur Freude meiner Frau entdeckten wir neben dem Herd, gut getarnt durch eine übertapezierte Tür, die Speisekammer, die uns während unserer Anwesenheit in dieser Wohnung gute Dienste leistete. Bernadette, so nannten wir unsere Tochter, bezog das ihr gemäße Kinderzimmer auf der Ostseite, durch dessen Fenster die morgendlichen Sonnenstrahlen fielen und ihr das Aufwachen, nicht jedoch das Aufstehen leichter machten. Im Gegensatz zu allen anderen Zimmern erschien uns das Kinderzimmer kleiner als die verbleibenden Räume, was uns aber im Hinblick auf die Gesamtgröße der Wohnung nicht störte. Bernadette verfügte über mehr Platz zum Spielen und Toben als andere gleichaltrige Kinder, und so liefen die ersten ehelichen Jahre mit all ihren Höhen und Tiefen doch recht sorglos an uns vorbei. Es gab die eine oder andere Kinderkrankheit, was ganz normal ist, es gab die ersten Querelen im Kindergarten. Irgendwann mussten wir uns an die Tatsache gewöhnen, dass unsere Tochter Bernadette kein Säugling mehr war, sondern ein Kind von sechs Jahren, das sehr selbstbewusst nicht nur durch unsere Wohnung tollte. Eigentlich waren wir mit der Entwicklung sowohl wirtschaftlich, mein Einkommen entsprach dem damaligen Niveau gut dotierter Diplomstellen, als auch familiär, wir erwarteten unser zweites Kind, sehr zufrieden. So maßen wir den anfänglichen, nächtlichen Störungen durch Bernadette keine übermäßige Bedeutung zu, beruhigte uns doch die seit Jahren bekannte Kinderärztin mit den Worten, dass es für Kinder dieses Alters durchaus normal sei, unruhige Träume zu haben. Hinzu käme noch die Schwangerschaft meiner Frau, die auf ein Kind doch gewisse Einflüsse ausüben konnte. Wir sollten uns nicht weiter sorgen und den Dingen ihren natürlichen Lauf lassen. Würde es widererwarten aber zu einer Steigerung des nächtlichen Unruheverhaltens unserer Tochter kommen, so stünde sie uns jederzeit zur Verfügung. Meine Frau und ich begnügten uns mit dieser Erklärung, die uns im Hinblick auf die wissenschaftliche Begründung plausibel und glaubwürdig erschien. Im weiteren Jahresablauf gab es keine beunruhigenden nächtlichen Attacken mehr, und die ganze Angelegenheit geriet in Vergessenheit. Bernadette wurde eingeschult und entwickelte sich gemäß den elterlichen Erwartungen, die alle Mütter und Väter auf der Welt in ihre Kinder setzen, recht gut. Das Jahr ging zur Neige, die bekannten Festlichkeiten standen vor der Tür, und unsere Tochter bekam nicht nur zum Weihnachtsfest reichlich Geschenke von der allseits hofierten Verwandtschaft, sondern noch ein Geschwisterchen dazu, unsere zweite Tochter Beatrix, die schon nach wenigen Tagen ihre große Schwester Bernadette an Lautstärke und Lebendigkeit übertraf, was uns nicht immer in euphorische Stimmung versetzte. Das neue Jahr kam, die Zeit verflog wie im Wind, meine Tätigkeit bei einem bedeutenden Baumaschinenhersteller wurde zur Unentbehrlichkeit deklariert, was mir einerseits schwindelerregende Einkünfte bescherte, andererseits in regelmäßigen Abständen die der Familie zugedachten Wochenenden versauerte, musste ich doch ein über das andere Mal meine heiligen Zusagen brechen und wohl oder übel meinem hohen Boss untertänig sein. Der April des Jahres 1974 ging in die Geschichte unseres Familienlebens ein wie die Geburtstage unserer Kinder. Genau war es der Achtzehnte April des genannten Jahres, ein Freitag, als sich in der Nacht folgendes ereignete. Lautes Weinen und Jammern erscholl kurz vor Elf Uhr abends aus dem Zimmer unserer Tochter Bernadette. Da sich das eheliche Schlafzimmer entgegengesetzt auf der anderen Seite des langen Korridors befand, vermischten sich die klagenden Rufe des Kindes mit den letzten Starts und Landungen von Flugzeugen aus aller Herren Länder, denen durch Sondergenehmigungen die Erlaubnis zur nächtlichen Überfliegung Berlins gestattet wurde. Die an unserer Wohnung vorbeiführende Ausfallstraße tat ihr übriges, und aus diesem Grund blieb die Tür unseres Schlafgemachs an diesen Freitagen stets geschlossen. Allein der mütterliche Instinkt meiner Frau, ihre ausgeprägte Sensibilität im Umgang mit den Kindern und auch meine ungewöhnliche Unruhe, ließen uns fast gleichzeitig erwachen. Beatrix, die Jüngste in unserem Kreis, bekundete keinerlei Interesse am Geheul ihrer großen Schwester und schlief den Schlaf der kindlichen Unschuld.

"Was ist das - hörst du es auch, das kommt aus Bernadettes Zimmer. Mein Gott, das Kind hat wieder diese schrecklichen Träume!"

Laut und stoßweise rief meine Frau diese Worte in die spärlich beleuchtete Atmosphäre unseres Schlafzimmers, und wie auf ein geheimes Signal hin stimmte Beatrix, aufgeschreckt aus ihrem Schlummer, in das Konzert nächtlicher Beunruhigung ein.

"Ist schon gut, ich schau nach - das sind bestimmt diese blöden Flugzeuge. Wieso dürfen die hier nachts über die Stadt fliegen. Wo Millionen Menschen leben? Unglaublich."

Ich bemühte mich dem Tonfall meiner Worte ein wenig Entrüstung zu verleihen, aber die rechte Überzeugung wollte sich nicht einstellen. Raschen Schrittes erreichte ich das Zimmer unseres Kindes, und als ich die Tür zu Bernadettes Schlafraum öffnete, erschrak ich beim Anblick des Mädchens derart, dass ich laut nach meiner Frau schrie, worauf diese wie ein Wirbelwind herbeieilte, zum Bett von Bernadette stürzte und ihr Kind liebevoll und beschützend in ihre Arme nahm. Aber so sehr sich meine Frau auch mühte, unsere Tochter streichelte, liebkoste, mit ihr leise und einschläfernd sprach, nichts konnte den gestörten Nachtschlaf Bernadettes retten, geschweige denn sie umstimmen.

"Mama - Mama - überall sind Gesichter - da in der Wand - so schlimme Gesichter - viele Köpfe sind da, so viele Köpfe. Sie weinen und schreien - Mama - ich habe solche Angst."

Meine Frau und ich brachten in dieser Nacht kein Auge mehr zu, dafür schlief unsere Tochter im ehelichen Bett wie in Abrahams Schoß. Auch Beatrix besann sich kurzfristig eines Besseren und stellte ihr solidarisches Geschrei auf schmatzendes Mümmeln um, als meine Frau ihr kurzerhand die Brust in den Mund steckte. Die nächsten Tage verbrachte mein Eheweib mit Bernadette bei diversen Kinderärzten in Berlin, aber trotz aller Bemühungen gelang es nicht, die Ursachen für das Verhalten unserer Tochter zu ergründen.

"Vielleicht liegt es an den Tapeten, das Muster ist schon beeindruckend. Diese riesigen Blumen, da kann ein Kind schon die eine oder andere geistige Verbindung herstellen. Was wissen wir Erwachsenen schon von der Vorstellungswelt eines Kindes? Allein unsere eigenen Erinnerungen geben uns einen winzigen Einblick in die Beweglichkeit kindlicher Fantasie. Und im vergangenen Jahr war es genauso - sagen Sie? Und wie war es davor - haben Sie dieses Verhalten schon vorher beobachtet?"

Wir verneinten die Fragen der Kinderärztin, versprachen aber für eine neue Tapete zu sorgen, die schon wenige Tage nach diesem nächtlichen Albtraum durch einen örtlichen Malermeister aufgeklebt wurde.

"Ist die schön" rief Bernadette immer wieder aus, "ist die schön".

Das fanden wir auch und waren mehr als erfreut über die wohlwollende Anerkennung unserer Tochter. Allmählich normalisierte sich unser Familienleben, und bald dachte niemand mehr an diese schlimme Nacht im April zurück. Auch Bernadette hatte allem Anschein nach diesem unerfreulichen nächtlichen Ereignis aus ihrem Gedächtnis gestrichen. Sie schlief fest und ruhig, was uns mehr als befriedigte. In den meisten Fällen werden familiäre Vorgänge dieser Art in absehbarer Zeit zum Gespräch der Nachbarschaft, sei es durch einen selbst, durch die Ehefrau oder durch wohlmeinende Nachbarn oder Schwiegereltern. In unserem Fall kam sicher alles zum Tragen, denn auf einem ihrer Einkäufe in die naheliegenden Geschäfte, wurde meine Frau von einer gleichaltrigen Dame angesprochen, die offensichtlich ein gesteigertes Bedürfnis an einem Gespräch hatte, wobei sicherlich die Neugier die eigentliche Triebfeder ihrer Frage war.

"Wie geht es denn Bernadette, ihrer Tochter? Ich hoffe doch gut. Nach allem was mir mein Sohn erzählt hat. Sie müssen wissen, mein Sohn und ihre Tochter, die gehen beide in dieselbe Klasse. Ist ja schrecklich für ihr Kind immer solche fürchterlichen Träume zu haben. Mein Mann meint, das hängt bestimmt mit dem Haus zusammen. Da soll während des Krieges was ganz Schlimmes passiert sein. Aber genaues weiß ich auch nicht, bin ja erst in den Fünfzigern geboren. Na ja, ich wünsche Ihnen und Bernadette jedenfalls alles Gute. Vielleicht sehen wir uns ja mal beim Elternsprechtag."

Meine Frau stand wie verdattert und wusste ihre Gedanken kaum zu ordnen, als Herr Maschultke, der Inhaber des Ladens, nachdem die mitteilsame Dame gegangen war, sich an meine Frau wandte.

"Entschuldigen Sie, es geht mich ja nichts an, habe nur eben zufällig das Gespräch mit angehört. Wohnen Sie hier in der Nähe. Vielleicht in der Reichenberger Straße?"

Flackernd beobachteten die Augen des alten Mannes meine Frau, und als diese bejahte und ihm noch den genauen Wohnort nannte, nämlich Ecke Lausitzer Straße, da zuckte es im Gesicht des Ladenbesitzers und er stöhnte laut, wobei er seinen Atem ausblies.

"Ja, ja - der alte Maibaum. So eine liebenswerte Familie. So nette Leute - wie konnten wir das nur zulassen? Schrecklich - einfach schrecklich."

"Wer ist Maibaum und was ist schrecklich" fragte meine Frau, aber der alte Maschultke winkte nur ab.

"Es ist das Beste, wenn Sie umziehen in eine andere Wohnung. Ihre Tochter wird niemals Ruhe finden in diesem Haus. Niemand der diese Zeit erlebt hat, wird jemals zu Ruhe kommen. Glauben Sie mir, es wird mit jedem Jahr schlimmer werden. Und jetzt entschuldigen Sie mich, ich habe zu tun."

"Nein - nein Herr Maschultke, so einfach ist das nicht. Wir wohnen in diesem Haus, und unsere Tochter hat schreckliche Albträume - aber nur im April. Dann ist es wieder vorbei. Sie wissen anscheinend mehr über dieses Haus als Ihnen lieb ist. Und nun sagen Sie mir bitte, wer ist Maibaum? Bitte - unser Kind soll nicht länger leiden!"

"Ich weiß doch nichts, nicht mehr als all die anderen hier. Hätte ich Ihnen doch bloß nichts gesagt. Jetzt habe ich den Ärger und Sie wollen eine Antwort. Dann kommen Sie in Gottes Namen heute Abend zu mir, schellen Sie zweimal, ich werde öffnen. Und bringen Sie Ihren Mann mit, sonst glaubt er Ihnen vielleicht nicht. Und nun gehen Sie bitte, ich muss mich um meine Kunden kümmern."

Zwischen Hoffen und Bangen verließ meine Frau den Kramladen und eilte unserer Wohnung entgegen. Die wildesten Gedanken gingen ihr durch den Kopf. Was konnte denn so Schreckliches geschehen sein, damals in den Kriegsjahren? Vielleicht sind dort Leute bei einem Bombenangriff umgekommen? Aber dann würde das Haus nicht mehr stehen oder zumindest neu gebaut sein. Es war ein altes Haus, in dem wir unsere Wohnung besaßen, ein Haus, gebaut um die Jahrhundertwände von wohlhabenden Leuten. Wer sich damals so ein Gebäude leisten konnte, der hatte viel Geld. Nein, das war es sicher nicht. Eine Bluttat, ein Mord, war es das? Meine Frau schauderte bei dem Gedanken, dass möglicherweise im Kinderzimmer unserer ältesten Tochter ein Mensch auf gewaltsame Weise um sein Leben gebracht wurde. Jedenfalls ist in unserer Wohnung etwas geschehen, das bis zum heutigen Tage seine Spuren hinterlässt und Bernadette solche Albträume beschert. Und was hat es mit diesem Maibaum auf sich? Der alte Maschultke nannte diesen Namen. Waren das vielleicht die Vormieter oder gar Besitzer dieses Hauses? Wie dem auch sei, wir werden es heute Abend erfahren.

"Und du meinst, dass Herr Maschultke uns erklären kann, warum Bernadette diese Träume hat? Was hat er genau gesagt? Wir sollten am besten die Wohnung verlassen und uns eine andere Bleibe suchen. Wie stellt der sich das vor - hier in Berlin? Nur weil vor dreißig oder vierzig Jahren in dieser Wohnung oder diesem Haus etwas Schlimmes geschah sollen wir verschwinden?"

"Dann müssten viele Häuser und Wohnungen geräumt werden, das kannst du mir glauben. Aber vielleicht ist es ja ganz nützlich mit dem alten Maschultke zu sprechen. Warten wir es also ab."

"Ich bin sicher, dass er uns wichtige Dinge zu sagen hat, Dinge, von denen wir bisher keine Kenntnis hatten und die ganz sicher für Bernadettes Verhalten verantwortlich sind. Wir werden sehen, was uns Herr Maschultke zu sagen hat."

Der Abend rückte näher und wir baten unsere Nachbarin, Frau Seeliger um Aufsicht unserer Kinder für zwei Stunden, was die freundliche Dame auch sofort bejahte. Mit gemischten Gefühlen machten wir uns auf den Weg zu Maschultke, und nachdem wir zweimal den Klingelknopf betätigten, gab es für uns kein Zurück mehr.

"Guten Abend Herr Maschultke, vielen Dank, dass Sie uns Ihre kostbare Zeit.“

"Ja - ja, nun kommen Sie herein, es muss ja nicht jeder sehen, dass Sie zum alten Maschultke kommen. So - die Tür, Ihre Garderobe legen Sie bitte ab - und hier entlang. Meine Frau hat sich bereits zu Bett begeben. - Wir müssen leise sein, ich möchte mir keinen Ärger einhandeln. So - nehmen Sie Platz. Darf ich Ihnen etwas anbieten - Cognac - Wein - Bier. Oder eine Schorle - nach Berliner Art. Wäre vielleicht das Beste. Ich trinke auch eine. Bin gleich wieder da."

Wir sahen uns an und zuckten mit den Schultern, wobei auf unseren Gesichtern mehr Fragen zu lesen waren als ein Lexikon Antworten zu geben in der Lage war.

"Schöne alte Möbel, und da schau, dieses große Gemälde, ein richtiges Meisterwerk. Sicher alles Erbstücke von Maschultke. Und da in der Vitrine, welch wunderschönes Porzellan. Ob das Meißener ist."

"Susanne - ich bitte dich, du kannst doch nicht als Gast in einer fremden Wohnung auf Entdeckung ausgehen. Was soll denn Herr Maschultke denken" murmelte ich hinter vorgehaltener Hand.

"Ich finde solche alten Wohnungen einfach ..."

"So - da bin ich wieder. Ein Glas für die Gemahlin, eins für den Gemahl und eins für den alten Maschultke. Und schön langsam durch den Strohhalm einsaugen. Mit Genuss. Wohl bekomms."

Genüsslich sog Maschultke am herb - süßen Getränk, das über alle Maßen erfrischte, jedenfalls wurde das gesagt. Meine Frau und ich taten wie Maschultke und ließen das prickelnde Getränk in unserem Mund zergehen.

"In der Tat, sehr erfrischend."

"Ja - so eine gute alte Schorle ist immer noch etwas Besonderes. Zumal wenn die Temperaturen ansteigen. Dann sollte man tunlichst auf Alkohol verzichten. Meine Frau trinkt ohnehin nichts, nicht mal ein Bier. Allenfalls Schorle, aber die besteht dann fast nur aus Apfelsaft. So bin ich für die Kurzhaltung der geistigen Getränke zuständig", lachte Herr Maschultke leise.

"Aber nun zu Ihnen. Sie leben und arbeiten in Berlin, das ist sehr zu begrüßen. Diese Stadt hat ja immens was zu bieten, nicht nur die Mauer und ihre Insellage. Berlin steckt voller Historie, Kultur und Lebensfreude. Wäre das nicht so, dann hätten die Russen die Stadt längst kassiert." "Ich denke, wir haben es trotz aller Schwierigkeiten ganz gut getroffen. Finden Sie nicht auch? Ach so, wie geht es denn Ihnen und Ihren Kindern" fragte Maschultke vorsichtig.

"Danke der Nachfrage, uns geht es gut. Die Kinder fühlen sich wohl in Berlin und auch Bernadette hat ihre schlimme Phase überstanden. Sie träumt nicht mehr und schläft jede Nacht durch. Hin und wieder wird sie nachts mal wach, so wie jedes Kind, und dann kommt sie zu uns ins Bett. Das ist soweit alles. Nur im April, da hatte sie es ganz schlimm, aber davon wissen Sie sicher."

Der alte Maschultke schwieg und trank von seiner Schorle. Dann stand er auf, ging zu einem alten Nussbaumsekretär, öffnete eine Lade und entnahm daraus einen vergilbten Umschlag. Vorsichtig, als könnte er etwas darin zerbrechen, glitten seine Finger in die knisternde Papierhülle und zogen behutsam ein Bündel Papiere hervor. Ich glaubte Zeitungsausschnitte zu erkennen und wurde in meiner Vermutung bestätigt. Ohne weitere Erklärungen legte Maschultke meiner Frau und mir die Presseausrisse auf den Tisch, lehnte sich in seinen Sessel zurück und atmete tief aus. Dann trank Maschultke nochmals, wischte sich über die Lippen und begann mit seiner Erzählung.

"Es war im Jahre Neunzehnhundertvierundvierzig, genau im April, der Achtzehnte, zwei Tage vor Führers Geburtstag. Die letzten Juden wurden aus Berlin deportiert, nach Auschwitz und Lublin-Madjanek, was uns - mir - damals aber nicht bekannt war. Darauf gebe ich Ihnen mein Ehrenwort, auch wenn es für Sie vielleicht wie eine abgedroschene Ausrede klingt. Umsiedlung in den Osten hieß es, aber bei der Geschwindigkeit, mit der die Russen auf Deutschland vorrückten haben wir uns gefragt, was es für einen Sinn macht noch umzusiedeln, wenn doch alles verloren geht. Wir glaubten um diese Zeit nicht mehr an den Endsieg. Ich war als Soldat bei der Luftverteidigung der Reichshauptstadt eingesetzt und erlebte Tag für Tag und Nacht um Nacht die fürchterlichen Bombenangriffe. Wenn Deutschland noch siegen wollte, dann musste es sich verdammt noch mal beeilen. Hier in der Cottbusser Straße fielen Bomben wie überall, aber unser Haus, das Haus meiner Eltern und Großeltern, blieb wie durch ein Wunder verschont. Ein paar kaputte Fensterscheiben, ein paar Dachpfannen gingen zu Bruch, aber das waren Lappalien gegen die Vernichtung ganzer Stadtteile. Ich habe die Menschen rennen sehen, wie Wahnsinnig schreiend vor Angst und Schmerzen, wenn sie Phosphor überschüttet durch die lichterloh brennenden Straßen taumelten. Zum Landwehrkanal wollten sie, aber die meisten brachen unterwegs zusammen und verbrannten elendig. Der Asphalt auf den Straßen verflüssigte sich ob der ungeheuren Hitze und regelrechte Teerbäche schossen die Straßen hinunter, schwappten über Gehsteige hinein in die Keller, wo Tausende auf ein Ende des Infernos hofften. Nach solchen Angriffen lag ein Gestank über der Stadt, als stünden sämtliche Krematorien der Welt an diesem Ort. Und irgendwie waren die deutschen Städte während des Krieges alles große Krematorien. Voll mit Menschen. Die Keller und Bunker wurden zu Öfen, die Bomben und der Phosphor zum ewigen Feuer. Es war eine fürchterliche Zeit. Zwischen den Angriffen mussten wir Flak-Soldaten Aufräum- und Rettungsdienste leisten, rund um die Uhr. Und dann machten fanatische und aufgehetzte Gruppen aus der Bevölkerung Jagd auf abgeschossene feindliche Flieger. Ich habe nie einen lebend gesehen, und wir haben Dutzende Bomber runtergeholt. Auch ihre Leichen wurden selten entdeckt, denn sie verbrannten mit jenen Menschen, denen sie zuvor den Tod brachten. Einige behaupteten und schwörten darauf, dass sie gesehen haben, wie die SS und Hitlerjugend die gefangenen Amis und Engländer gefesselt und lebend auf die Scheiterhaufen warfen, auf denen die ungezählten Leichen in der Stadt verbrannt wurden. Es war ein einziges Chaos. Na ja - und in diesem Chaos interessierte sich kaum jemand für den Abtransport von Juden, die noch versteckt im Stadtgebiet lebten. Es wurde ja nicht einfacher durch die täglichen Luftangriffe, im Gegenteil. Immer mehr Wohnraum wurde zerstört, immer weniger Verstecke standen zur Verfügung. Die Standgerichte jagten durch Berlin auf der Suche nach Opfern, die sie an der nächsten Ecke liquidieren konnten. Es sind damals viele Menschen auf diese Weise umgekommen. Ein falsches Wort, ein unbedachter Griff nach einem Stück Brot oder Wurst, schon wurden die Unglücklichen wegen Wehrkraftzersetzung oder Plünderns standrechtlich erschossen. Ich habe das alles erlebt - hautnah. Aber jetzt bin ich etwas vom Thema abgekommen doch ich denke, dass es wichtig ist die Hintergründe zu verstehen, warum das passierte, was geschah. Also im April sollten die letzten Transporte mit Juden aus Berlin in die Vernichtungslager durchgeführt werden, was hinsichtlich der katastrophalen Verkehrslage enorme Probleme verursachte. Das Haus, in dem Sie wohnen, gehörte einer Familie Maibaum. Herr Dr. Maibaum war ein angesehener und erfolgreicher Mediziner an der Berliner Charité und arbeitete mit dem alten Sauerbruch zusammen. Maibaum war sehr beliebt, nicht nur bei seinen Patienten, sondern bei allen Anwohnern in der Reichenberger Straße. Das änderte sich auch nicht, als die Nazis an die Macht kamen, wenngleich sich die Lebensbedingungen für Maibaum und seine Familie drastisch verschlechterten. Maibaum hatte eine Frau und vier Kinder. Zwei Jungen und zwei Mädchen. Und noch eine Zugehfrau für den großen Haushalt. Dann verboten sie Maibaum die Klinik, sie warfen ihn hinaus. Selbst Sauerbruch konnte dagegen nichts tun. Eines Tages verschwand die Zugehfrau, ebenfalls eine Jüdin und wurde nie mehr gesehen. Sie ist in Treblinka ermordet worden. Die verbleibenden Juden organisierten ihren Lebensalltag so gut es ging, aber als immer mehr abgeholt wurden und für immer verschwanden, bekam es auch Maibaum mit der Angst. Seine Kinder durften keine Schule mehr besuchen, ihm wurde verboten zu praktizieren, dennoch tat er es heimlich und half dadurch einigen seiner Landsleute zu überleben. In dem Haus, in dem Sie ihre Wohnung haben, da versorgte Maibaum die vor Angst halb wahnsinnigen Menschen mit dem was er noch hatte. Inzwischen war es auch zu den letzten Berliner Juden durchgedrungen, was da im Osten mit ihnen geschah. Nur wir Deutschen, wir hatten von alledem keine Ahnung. Und wir wollten auch gar nichts wissen, denn man hatte genug mit sich selbst zu tun. Wie dem auch sei, bis zum April Neunzehnhundertvierundvierzig wurde Maibaum von den Nazis verschont, aus welchen Gründen auch immer. Gemunkelt wurde, ein hoher Nazi-Offizier hätte seine Hand über Maibaum gehalten, weil dieser seiner Frau bei einer komplizierten Geburt, bei der es auf Leben und Tod stand, geholfen hatte zu überleben. Ob an dieser Sache was dran ist, wurde nie geklärt. Es gibt auch keinen Menschen mehr, der darüber etwas weiß. Und diejenigen die noch Auskunft geben können, schweigen wie die Gräber."

Maschultke unterbrach seine Erzählung und nahm einen kräftigen Schluck Schorle. Wir saßen stocksteif auf dem Sofa und wagten kein Wort zu sagen, so sehr ging uns Maschultkes Schilderung unter die Haut. Wir fühlten uns ausgetrocknet, trauten uns aber nicht von unserer Erfrischung zu kosten, wollten wir doch endlich erfahren, was damals in unserer Wohnung geschah.

"Ja - wo war ich denn noch, ach - der alte Maibaum. Sehen Sie, in Ihrer Wohnung gab es zur damaligen Zeit ein Mädchenzimmer. Dieses Zimmer war durch eine schmale Tür zugänglich, die durch einen beweglichen Schrank geöffnet und geschlossen werden konnte. Natürlich hatte das Mädchenzimmer auch eine richtige Tür, aber die wurde nur vom Hausmädchen benutzt. Wenn Maibaums Kinder nicht schlafen konnten oder Angst hatten, so habe ich es nach Maibaums Tod von Luise, so hieß sie, erfahren, kamen die Kinder durch diese Geheimtür in Luises Kammer und in ihr Bett, wo sie Trost und einige Stunden Geborgenheit fanden. Luise wurde nach Kriegsende von russischen Soldaten mitgenommen. Ich habe sie nie wieder- gesehen. Was mit Maibaum und seiner Familie passierte; hier in den Zeitungsartikeln steht die offizielle Version oder vielmehr jene, die sich aus all den Informationen zusammen stricken ließ, die damals bekannt waren. In erster Linie ging es darum herauszufinden, ob es noch Hinterbliebene, Erben oder andere Angehörige von Maibaum gab, die Anspruch erheben konnten auf das Anwesen in der Reichenberger Straße. Aber es meldete sich niemand, und nach zehn Jahren wurde das Haus an einen Berliner Interessenten verkauft. Aber zurück zu Maibaum. Natürlich wussten er und seine Frau von den heimlichen Besuchen ihrer Kinder in Luises Zimmer und waren recht froh, dass Luise, eine Polendeutsche übrigens, sich so liebevoll um die gemeinsamen Kinder kümmerte. Das war das Einzige, was uns in dieser Zeit auffiel, dass ein deutsches Mädchen bei einer jüdischen Familie Hausdienst leistete. Irgendwie muss also etwas dran gewesen sein, dass da ein hohes Nazi-Tier seine Finger im Spiel hatte. Für Luise wurde die Maibaum-Familie zum Lebensinhalt, denn ihre eigenen Eltern wurden vor Kriegsbeginn von den Polen nahe Bromberg erschlagen. In Luises Zimmer, damaligem Zimmer, die Trennwand mit der Geheimtür wurde längst herausgerissen, lag im Eckbereich des Fensters zur Lausitzer Straße, da wo die Deckenbalken mit dem Dachgestühl zusammenlaufen, ein baubedingter Hohlraum, der weder von außen noch von innen eingesehen werden konnte. Durch einen Zufall müssen Maibaums Kinder auf dieses Versteck gestoßen sein. Um in diesen Hohlraum zu gelangen, musste lediglich eine Holzplatte unter dem Fenstereck aus dem Rahmen herausgenommen werden, und schon konnte man durch die Öffnung in die Nische hinter der Wand kriechen. Ein fabelhafter Unterschlupf, wie sich später herausstellte. Natürlich war es für sechs Personen nur ein Notbehelf, aber wenn die Gestapo die Maibaums abholen wollte bestand immer noch die Möglichkeit, sich in dieser Nische zu verbergen. Die Holzfüllung wurde von innen mit Riegeln versehen, so dass diese selbst einem Stiefeltritt standhalten würde. Bis auf Maibaums wohnte niemand mehr im Haus, alle jüdischen Bewohner waren bereits vor langer Zeit deportiert worden. Schließlich kamen auch keine Juden mehr zu Maibaum, da das viel zu gefährlich war. Maibaum selbst machte seine Runde als Arzt so gut er konnte, traf Überlebende in Kellern, im Grunewald, in Ruinen und Laubenkolonien. Dann jedoch musste Maibaum seine Tätigkeit ganz aufgeben und konnte mit seiner Familie nur noch auf ein Wunder und auf das baldige Ende des Krieges hoffen. Und dann kam jener Achtzehnte April Neunzehnhundertvierundvierzig. Der letzte Transport Berliner Juden sollte nach Auschwitz rollen. Alles was an Polizei und Sondereinsatzkommandos verfügbar war, durchkämmte das von Berlin, was noch übrig war. Auch die Reichenberger Straße, die in unmittelbarer Lage zum Landwehrkanal bei der damaligen bürgerlichen Gesellschaft und bei den jüdischen Familien begehrt war. Die Gestapo wusste das und Maibaum hat es irgendwie auch erfahren. Jedenfalls stürmten die Nazis frühmorgens das Haus in der Reichenberger Straße, aber außer einer erschreckt wirkenden Luise, fanden sie niemanden vor. Alles durchsuchte diese Bande, alles stellten sie auf den Kopf, traten Türen ein, Schränke, zerschlugen Wände und Decken, aber jene kleine Holzfüllung in Luises Zimmer bemerkten sie nicht. Dann nahmen sie sich Luise vor. Mein Gott, was hat das Mädchen geheult. Sie muss vor Angst um ihr eigenes Leben fast durchgedreht sein. Und dann hat sie der Gestapo gesagt, dass sie nicht weiß wo die Maibaums sind, sie wäre eben selbst gekommen, was die Gestapo-Schergen bezeugen konnten, die vor dem Haus auf der Lauer lagen. Sie, Luise, wäre die letzten Tage bei ihrer Tante gewesen, die zu den Ausgebombten gehöre und überdies nicht mehr regelmäßig zu Maibaums gegangen, weil das viel zu gefährlich sei, wegen der Bombenangriffe. Ihr Jammern und Klagen muss dem diensthabenden Wachführer auf die Nerven gegangen sein, denn er befahl ihr zu verschwinden und sich nie mehr hier blicken zu lassen. Und dann gab er ihr Anweisung sich unverzüglich auf der nahegelegenen Dienststelle zu melden, um ihre Aussage zu machen. Luise musste ihm ihre Ausweise, ihr Arbeitsbuch und die Freistellungsbescheide aushändigen und konnte dann gehen. Schluchzend verließ sie das Haus an der Reichenberger Straße und lief durch die zerbombte Stadt zu ihrer Tante, die in Lichterfelde bei einer Freundin untergekommen war. Luise hat die Maibaum-Familie nie mehr wiedergesehen. Luise, ihre Tante und die Freundin der Tante verließen am nächsten Tag auf ihren Fahrrädern Berlin und fuhren aufs Land, zu einer entfernten Kusine, die in der Nähe von Großbeeren eine kleine Landwirtschaft betrieb. Dort blieben alle bis zum Jahr Neunzehnhundertfünfundvierzig. Als der russische Großangriff auf Berlin begann, verweilten sie zunächst noch auf dem Land, denn dort waren sie halbwegs sicher vor Bombenangriffen. Doch dann wurde es auch in Großbeeren ernst und Ironie des Schicksals, Luise, ihre Tante und die Freundin der Tante, flüchteten zurück nach Berlin, das rundum von der Roten Armee eingeschlossen war. Es gab kein Entrinnen mehr. Auf ihrer Flucht kamen die Frauen an unserer Flakbatterie vorbei, als ein neuer Luftangriff gemeldet wurde. Dadurch sind Luise und ich uns ein wenig nähergekommen, und sie hat mir ihre Geschichte erzählt. Meine jetzige Frau, die Martha, habe ich nach Rückkehr aus der Gefangenschaft Neunzehnhundertzweiundfünfzig kennen gelernt. Eine tragische Zeit. Nach dem Angriff wurde Luise aufgegriffen und einem Feldlazarett zugeteilt. Niemand überprüfte ihre Personalien, denn Tante und Freundin kamen bei diesem Angriff ums Leben. - Den Ausweis verloren, verbrannt, was weiß ich. So kam mancher zu einer neuen Identität. Luise wurde nach der Kapitulation mit vielen anderen Rot-Kreuz-Helferinnen von den Russen weggebracht. Es gibt bis heute keinen Hinweis auf ihren Verbleib. Wahrscheinlich liegt sie mit all den anderen in irgendeinem Massengrab. Was die russischen Soldaten mit den Rot-Kreuz-Schwestern und vielen anderen Frauen und Mädchen gemacht haben, brauche ich Ihnen wohl nicht extra erklären. Es war grauenhaft, das Schreien der Frauen und Mädchen klingt mir noch in den Ohren. Überall in den Straßen machten die Russen Jagd auf sie. Mehr möchte ich dazu nicht sagen, will ich auch nicht. Dann haben sie mich und meine Kameraden kassiert. Ab ging es nach Osten, in den Ural. Erzbergwerk. Sieben lange Jahre."

Maschultke stand auf und ging zum Fenster, öffnete es weit und ließ die angenehm frische Abendluft in das Wohnzimmer. Wir hockten wie versteinert auf dem Sofa und waren nicht fähig ein Wort zu sagen.

"Na - nun trinken Sie doch Ihre Schorle. Die wird ja sonst schal. Oder möchten Sie lieber was anderes?"

"Wie - was - oh ja - ich - wir meinen nein, es ist schon gut, wir trinken die Schorle - danke der Nachfrage. Danke" stotterte meine Frau verlegen.

"Bleiben nur noch die Maibaums. Was geschah mit der Familie Maibaum? Stellen Sie sich vor, sie müssten einen ganzen Tag in einem Verschlag zubringen, einer licht- und einer schlecht belüfteten Nische, eingepfercht zu sechst, gepeinigt von Todesangst, immer damit rechnend, doch noch entdeckt zu werden. Diese Angst, die Menschen in den Wahnsinn treibt, die um ihr Leben zitternden Kinder. Was glauben Sie, wie es in der Enge dieses Gefängnisses zugegangen ist? Grauenvoll diese Vorstellung, einfach grauenvoll. Und dann ist die Gestapo mit ihrem kompletten Verein abgerückt. Unverrichteterdinge. So ein Aufmarsch bleibt ja nicht verborgen. Diese Strolche sind abgehauen ohne die Maibaums. Das ist nachgewiesen und schriftlich festgehalten. Die Familie Maibaum schien gerettet. Aber nun drohte eine andere Gefahr, nämlich die der Wohnraumbewirtschaftung. Ausgebombte Familien würden in das nun frei gewordene Anwesen der Maibaums einrücken und irgendwo mussten Maibaums bleiben. Doch daran dachte die gepeinigte Familie nicht. Sie dankte ihrem Gott für die Rettung. Und dann geschah etwas, dass sich niemand bis zum heutigen Tag erklären kann. Ein Bergungstrupp kam die Reichenberger Straße entlang, Soldaten, die nach Verschütteten suchten. Mit speziellem Gerät und mit Suchhunden. Plötzlich springt aus einem Kanalrohr nahe dem Landwehrkanal eine Ratte und rennt in das Maibaum-Haus. Ehe sich der Hundeführer versieht, reißt sich ein Schäferhund los und jagt der Ratte hinterher. Ein Tumult geht durch das Haus, der wie entfesselt bellende Hund, der rufende und Kommandos brüllende Soldat, und eine Gruppe feixender und lachender Kameraden, die dem Hundeführer hinterher stolperten, hinein in das Maibaum-Haus. Ob Schicksal oder Zufall, Bestimmung oder Tragik, der Hund rannte hinauf genau in die Wohnung, in der Sie jetzt wohnen und in der sich damals die Maibaum-Familie versteckte. Und war es nun wieder Schicksal, Bestimmung oder einfach der Instinkt des Tieres Verschüttete zu suchen und zu finden; der Hund kratzte und biss an der Holzplatte, sprang dagegen und war nicht zu beruhigen. Die nachfolgenden Soldaten waren ratlos, allein der Hund ließ nicht locker. Selbstverständlich hörten die Maibaums den Lärm, den unnachgiebigen Hund und die Worte der Soldaten. Aber noch einmal gewährte das Schicksal den Maibaums eine Frist, denn die Soldaten rückten ab und verließen die Wohnung. Schließlich waren sie angetreten um Verschüttete zu bergen, nicht aber um Ratten zu jagen. Als die Männer das Haus verließen wurden sie vom hinzukommenden Offizier in Empfang genommen, der sich in Begleitung eines Gestapo Mannes befand. Es hat wüste Beschimpfungen gegeben und die Androhung von Kriegsgericht wegen Plünderns, aber dann konnten die Soldaten das Geschehen aufklären und den Sachverhalt erläutern, dass nämlich der Hund einer Ratte nach sei, genau in das Maibaum-Haus bis in die oberste Etage ins Eckzimmer. Dort habe er sich vor eine Holzfüllung gestellt, hinter der die Ratte verschwunden sein muss und wie von Sinnen gebellt und an dem Holz herumgekratzt. Aber was soll hinter einer Holzverkleidung schon sein außer Mauerwerk. Und die Ratte hatten sie nicht mehr gesehen. So sei es gewesen. Plötzlich wurde der Gestapo-Mann hellhörig, schrie etwas von jüdischen Saboteuren die sich in dem Haus versteckt hielten und beorderte den Zug nochmals in die Maibaumsche Wohnung. Dann begannen die Männer die Holzverkleidung aufzureißen und fanden das Versteck mit der Maibaum-Familie. Noch am gleichen Tag gingen sie mit dem letzten Transport nach Auschwitz, wo sich ihre Spur verliert."

Herr Maschultke schwieg einen Moment und holte tief Luft.

"Das ist die Geschichte des Hauses in der Reichenberger Straße, die Geschichte der Familie Maibaum und einiger Personen, die mit dieser Familie irgendwie zu tun hatten. Die Gesichter, die Ihre Tochter im Traum sieht, das sind die angsterfüllten Antlitze der Kinder und ihrer Eltern, die ihre Todesangst nicht heraus schreien durften, denen aber letztlich ihr Schweigen in dieser Wandnische zum tödlichen Verhängnis wurde. Ihre Angst hat sich in den Balken, den Wänden und Decken dieses Hauses festgesetzt. Und ich sage Ihnen, Sie sollten aus diesem Haus ausziehen. Es ist besser für Sie und für Ihre Kinder. Das ist alles, was ich Ihnen dazu noch sagen kann. Es ist spät geworden, Zeit zum Schlafen, ich habe einen langen Tag morgen. Eine gute Nacht und kommen Sie gut nach Hause, wo immer das auch sein möge."

"Auf Wiedersehen - Herr Maschultke - auf Wiedersehen" stammelten wir bruchstückweise unseren Abschiedsgruß. Die Beine waren eingeschlafen, und in unseren Köpfen drehte sich die Geschichte einer Stadt, einer Familie, und wir hatten nur noch einen Wunsch, so schnell wie möglich in unsere Wohnung zu kommen zu unseren Kindern. Die Schorle schmeckte schal und bitter, ein Geruch von Moder hing in der Luft, und erst an der frischen Frühlingsluft fanden wir zu unserer vertrauten Gemeinsamkeit zurück. Meine Frau und ich sagten kein Wort. Stumm schritten wir rasch zur Wohnung in der Reichenberger Straße. Graumetallisch schimmerte das Wasser des Landwehrkanals, aus dessen Fluten vor vielen Jahrzehnten das Schicksal den Sendboten des Todes in Gestalt einer Ratte in das Haus der Familie Maibaum sandte. Noch im gleichen Monat bat ich meine Firma um Versetzung in die Bundesrepublik, und schon im Juni desselben Jahres zogen wir fort aus Berlin, der Reichenberger Straße und aus dem Haus, das einstmals der Familie Maibaum gehörte, einer jüdischen Berliner Familie, die für viele Menschen so viel getan hat, für sich jedoch keinen Weg zur Rettung fand. Wir haben die Reichenberger Straße nie mehr wieder gesehen.

Die Geister treten aus ihrem Schatten heraus und kommen näher.

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