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Moralische Erziehung
ОглавлениеDer Begriff der moralischen Erziehung ist natürlich abhängig vom Begriff der Moral.
Ein Blick in einige Werke der einschlägigen Literatur zeigt teils Übereinstimmungen mit der hier gegebenen Bestimmung der Moral, teils aber auch Abweichungen. E. Weber bestimmt moralische Erziehung als das „Insgesamt der intentionalen Sozialisations- und Personalisationshilfen“ (E. Weber 1988, 40f.) und vermeidet so eine einseitige Fixierung auf den sozialen Aspekt. Dies wird deutlich durch die zuvor aufgelisteten Merkmale der Personalität: Freiheit der Wahl, Distanzierung gegenüber gesellschaftlichen Angeboten und Anforderungen, Spontaneität und Kreativität in Bezug auf die Lebensverhältnisse sowie das eigene Selbst, Autonomie („Selbstbestimmung des Handelns“) und Verantwortlichkeit (ebd., 29f.). K. E. Maier definiert unter Rückgriff auf W. Brezinka: „Moralische Erziehung sind Handlungen, durch die Menschen versuchen, die Persönlichkeit anderer Menschen hinsichtlich ihrer Moralität zu fördern“ (Maier 1986, 11). „Moralität“ dient ihm dabei primär als Bezeichnung für ein „Verhalten gegen jemand“, kann sich „aber auch“ auf ein „Verhalten ‘gegen mich selbst’“ beziehen (ebd., 13). Ebenfalls unter Berufung auf W. Brezinka definiert S. Uhl „Moralerziehung“ als jene „Teilklasse“ erzieherischer Handlungen, „mit denen die Erzieher die Entstehung von moralischer (oder sittlicher) Tüchtigkeit bei den Edukanden erreichen wollen“ (Uhl 1996, 11). Die dabei angestrebte „moralisch gute Persönlichkeit“ wird bestimmt als „Ausdruck für die Gesamtheit der Wertüberzeugungen und Tugenden, die den Menschen zum moralisch guten Erleben und Handeln disponieren“ (ebd., 19f.), sodass der Begriff „Moral“ lediglich durch „Sittlichkeit“ und durch einige beispielhafte Teilaspekte wie „Ehrlichkeit“, „Gerechtigkeit“, „Wohlwollen für die Mitmenschen“ (ebd., 20) bestimmt wird.
K.-E. Nipkow analysiert in seinem umfassenden Werk zur Moralpädagogik im Pluralismus die vielfältigen gesellschaftlichen und philosophischen Probleme, denen sich Theorie und Praxis der moralischen Erziehung heute gegenübersehen, und kommt im Rahmen der Beschreibung der verschiedenen Paradigmen zu einer Bestimmung des Begriffs der moralischen Erziehung. „Gleichheit“ und „Individualität“ der Menschen sind für ihn „gleichwertige Leitgrößen“ (Nipkow 1998, 274), deren Realisierung in der Praxis zu einer Pädagogik der „Face to Face-Interaktionen“ (ebd., 286) führt. Das Verhältnis von Moral und Ethik bestimmt er im Anschluss an die heute gängige Unterscheidung so, dass Ethik die jeweils vorfindbare Moral zum Gegenstand hat, wobei „Moral“ aber weitgehend unbestimmt bleibt. Moralpädagogik ist die „Theorie sittlicher oder ethischer Erziehung und Bildung“, moralische Erziehung demnach begrifflich nichts anderes als sittliche Erziehung (ebd., 72f.).
Zurückhaltung in Bezug auf die alte sokratische „Was-ist-Frage“ erlegt sich auch D. Garz hinsichtlich des Begriffs der moralischen Erziehung auf. Im Kapitel über die „Idee der Moralität“ wird zwar deutlich, dass er sokratischen Prinzipien durchaus nicht ablehnend gegenübersteht. Zur Frage: Was ist „Moral“ und „Moralerziehung“?, teilt er jedoch lediglich mit, dass er die übliche Bestimmung der Ethik als „Philosophie oder Wissenschaft von der Moral“ (Garz 1998, 30) nicht übernehme, sondern stattdessen die Begriffe „Moral“ und „Ethik“ semantisch „mit der generellen Bedeutung des Handelns nach sittlichen Grundsätzen“ gleichsetze. Diese in der Tat „weitgeschnittene Definition“ (ebd.) wird nur noch durch den Hinweis ergänzt, dass Moralität ihre Legitimation nicht aus der Natur, sondern nur aus der menschlichen Praxis selbst beziehe (ebd., 34 f.). Immerhin wird deutlich, dass Garz unter Berufung auf Martin Seel die Haltung der „Rücksicht“ ebenfalls als grundlegend für die moralische Haltung gegenüber der sozialen Umwelt ansieht, während Haltungen sich selbst gegenüber außerhalb der Betrachtung fallen: Moral und ihre ontogenetische Entwicklung zu untersuchen „bedeutet … nichts anderes als zu verstehen, auf welche Weise Menschen ihr Zusammenleben gestalten und miteinander umgehen wollen“ (ebd., 31). Die Orientierung am Entwicklungsmodell L. Kohlbergs und der entsprechenden Gesprächsführungsmethode teilt D. Garz mit W. Oser und W. Althof, die gleich zu Beginn ihres umfangreichen Werks zur moralischen Selbstbestimmung feststellen, moralische Erziehung finde statt, „wenn Schüler einzeln oder untereinander … vor ein Problem gestellt werden, das mit Gerechtigkeit, mit Wahrhaftigkeit, mit mitmenschlicher Fürsorge oder mit anderen moralischen Werten zu tun hat und das in einer besseren oder schlechteren Weise gelöst werden kann“ (Oser/Althof 1992, 23). In solchen Situationen lernen Schüler Begründungen, die immer mit Handlungen verknüpft sind. So verfolgen die Autoren trotz der Anerkennung der vielfachen kritischen Einwände gegen die Kohlberg-Schule selbst auch einen kognitiven Ansatz, der sich „auf den Aufbau moralischer Urteilskompetenzen, nicht auf bestimmte Tugenden“ (ebd., 104) richtet.
Auch im englischsprachigen Spektrum finden wir verschiedene Stimmen. Th. W. Lickonas Modell der Charaktererziehung stellt ähnlich wie die hier vorgetragenen Überlegungen die Rücksicht („respect“) in den folgenden Dimensionen ins Zentrum: „Respekt heißt, Rücksicht auf den Wert von jemandem oder von etwas zu zeigen. Das umfasst Rücksicht auf das eigene Selbst, Rücksicht auf die Rechte und die Würde aller Menschen und Rücksicht auf die Umwelt, die alles Leben trägt“ (Lickona 1991, 67, übers. vom Verf.). „Respect“ ist nach Lickona die Wurzel für die verschiedenen moralischen Verbote, die somit der Ergänzung durch Verantwortlichkeit („responsibility“) bedürfen. Die Werte, auf die sich dies alles bezieht, sind: „honesty, fairness, tolerance, prudence, self-discipline, helpfulness, compassion, cooperation, courage, and a host of democratic values“ (ebd., 45). Der gute Charakter, der das Ziel der Erziehung ist, besteht aus „moral knowing“, „moral feeling“ und „moral action“ mitsamt den jeweiligen weiteren Konkretisierungen (vgl. ebd., 53ff.). Moralische Erziehung soll zumindest als schulische Erziehung diese Werte proklamieren und vermitteln, sie auf das Verhalten hin interpretieren sowie definieren und sie öffentlich hochhalten.
R. Starrat schlägt vor, drei Schulen der Ethik integrierend aufeinander zu beziehen und zur Grundlage der moralischen Erziehung zu machen: die Ethik der Kritik, die Ethik der Gerechtigkeit und die Ethik der Fürsorge (Starrat 1994, 46ff.). Diese drei Ethiktypen werden bezogen auf drei Prädispositionen der ethischen Person: Autonomie, Verbundenheit und Transzendenz (ebd., 29 ff.). Die Frage, ob die ethischen Theorien miteinander vereinbar sind und ob das Konstrukt für den Erzieher praktikabel ist, bejaht Starrat mit dem Hinweis, dass die Themen aufeinander verweisen. Ein von ihm entworfenes Diagramm eröffnet denn auch eine multidimensionale Perspektive auf die Aufgaben moralischer Erziehung, verzichtet jedoch auf ein integratives Konzept (vgl. ebd., 55f.).
J. Wilson verfolgt grundsätzlich einen kognitiven Ansatz, indem er die Basis moralischer Erziehung in dem Bemühen sieht, „die Fähigkeiten zu vermitteln, die für gute oder vernünftige moralische Entscheidungen und die entsprechenden Handlungen erforderlich sind“ (Wilson 1990, 27, übers. vom Verf.). In welche Richtung aber erfolgen diese moralischen Entscheidungen? Sie haben insofern personale Bedeutung, als Moral sich primär bezieht auf unsere „geistige oder innere Grundausstattung, auf die Gesundheit unserer Seele“ (ebd., 84, übers. vom Verf.). Dementsprechend steht Wilson auch dem Konzept der Rücksichten gegen sich selbst nicht fremd gegenüber, sondern unterscheidet mit Warnock und Strawson (vgl. J. Wilson ebd., 85) zwischen „social needs“ (= Ausrichtung auf die Interessen anderer) und „individual ideals“ (= „self regarding virtues“). Wilson selbst legt keine stringente Bestimmung der moralischen Erziehung vor – was auch verwunderlich wäre, denn in einer neueren Publikation stellt er fest, bisher wisse man noch gar nicht, was moralische Erziehung sei (Wilson 1996, 86). Erziehung überhaupt meine jedenfalls einen Wandel in der Einstellung der Vernunft, und deshalb sei auch moralische Erziehung auf die Basiskriterien der Vernunft und weniger auf bestimmte Inhalte gerichtet (ebd., 86). Man müsse und könne Schüler lehren, was ein guter Grund sei, und ihnen die Ausrüstung mitgeben, sich theoretisch und praktisch an solchen Gründen zu orientieren. Ein guter Grund aber bestehe in der Annahme des Gedankens, etwas deshalb zu tun, „weil wir davon ausgehen, dass andere Menschen in ähnlichen Situationen uns gegenüber das Gleiche tun sollten“ (ebd., 87, übers. vom Verf.). Zielstrebigkeit, Geduld, geistige Wachheit sowie Kenntnis der eigenen Gefühle und der Gefühle anderer seien erforderlich, um eine solche Haltung einzunehmen (ebd., 87). Sehr bedenkenswert gerade für deutsche Verhältnisse ist übrigens sein Hinweis, die theoretischen Defizite rührten zum großen Teil daher, dass Philosophie, Psychologie und Soziologie heute strikt getrennte Wege gingen. Er fordert aus diesem Grunde Forschungsinstitutionen, die in Form konkreter Forschungsprojekte diese Disziplinen und ihre Perspektiven zusammenführen (vgl. ebd., 91).
A. Hügli versteht unter pädagogischer Ethik im Prinzip trotz einer gewissen Spannung zwischen den Begriffen „Pädagogik“ und „Ethik“ nichts anderes als „Moralerziehung“ (Hügli 1991, 121) und lehnt die Beschränkung von „Moral“ auf den sozialen Bereich ab: „Auch die Moral selbst ist nicht gut, wenn sie nicht für irgendwen … zum Besten ist: zunächst einmal … zum Besten für jene, denen das moralische Verhalten gilt, zum Besten aber nicht zuletzt auch … für den moralisch Handelnden selbst.“ Die pädagogische Ethik wird sich folglich „der Explikation dieses Begriffs des für mich Guten in der ganzen Breite, bis hin zu den einzelnen Traktandenpunkten der Geschäftsordnung der Schule, dem ‚Wann‘, ‚Wozu‘, ‚Wie‘, ‚Wo‘ und ‚Durch wen‘, annehmen müssen“ (ebd., 140).
Der in der vorliegenden Untersuchung leitende Begriff der moralischen Erziehung legt die oben (36ff.) genannten Bedeutungsmerkmale des Begriffs „Moral“ zugrunde. Moralische Erziehung besteht somit aus denjenigen Aktivitäten, die sich intentional bei den zu Erziehenden auf die Förderung der Rücksichten gegen sich selbst und gegen die Mitwelt richten.