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Personalität

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Selbstentfaltungswerte, die sich in Form einer freien Selbstwahl, Selbsterhaltung, Selbstverwirklichung und Selbststeigerung realisieren, verweisen normativ auf den Begriff der Person, der in der abendländischen Philosophie ebenso wie in der modernen pluralistischen Gesellschaft einen hohen Stellenwert besitzt. In dem oben definierten Sinne ist Person zwar kein Wert und erst recht keine Norm, sie ist aber als solche Träger von Normen und Werten und insofern selbst auf Werte hingeordnet. Auch beim Begriff der Person werden die entscheidenden Akzente bereits in der Antike gesetzt, der Sache nach bereits bei Aristoteles und Cicero, dem Begriff nach in der ausgehenden Antike bei Boethius, der „Person“ definiert als „individuelles selbständiges Wesen mit einer vernunftfähigen Natur“ (Boethius, zitiert nach Fuhrmann 1989, 280). Die damit gesetzten Akzente der Individualität und Rationalität verstärken sich in der Folge ständig, so z.B. bei Thomas von Aquin, der feststellt, der Begriff „Person“ bezeichne ganz speziell das Individuum mit einer rationalen Natur, und in diesem Zusammenhang den Definitionscharakter hervorhebt: „Person“ bezeichne ein selbständiges Wesen (substantia), also nichts Akzidentelles; jede Person sei individuell, also keine allgemeine Art oder Gattung; und sie bezeichne schließlich ein Wesen mit einer rationalen Natur, also keine Pflanzen und Tiere. Einen zusätzlichen Akzent gegenüber Boethius verleiht Thomas dem Begriff der Person dadurch, dass er ihr spontane Handlungsfähigkeit (vere per se agere) zuerkennt (Thomas von Aquin, de potentia, q. 9, a.2 c.). Etwas später verstärkt er das „per se agere“ noch, indem er die Person als „per se existens“ bezeichnet und darauf ausdrücklich ihren Wertcharakter stützt: „Die Natur, die Person in ihrer Bezeichnung einschließt, ist die würdigste (dignissima) von allen Naturen, nämlich die geistige Natur (natura intellectualis) … Ähnlich ist auch die Weise des Existierens, die in der Bedeutung von ‘Person’ liegt, die würdigste: daß sie nämlich etwas sei, was durch sich existiert“ (ebd., a.3 c., Hervorh. vom Verf.).

Individualität Rationalität/Selbständigkeit/durch sich handeln bzw. durch sich existieren/Würde: damit sind schon die grundlegenden Merkmale beisammen, die personale „Selbstentfaltung“ als Wert charakterisieren, und das wiederum in einer Zeit, in der noch keine Rede sein kann von ethischem und gesellschaftlichem Pluralismus, in der noch keine Rede sein kann von wirklich individuellen Selbstverwirklichungsprozessen und erst recht nicht von der Ego-Gesellschaft.

Dass Individualität und Rationalität als Basis der Selbstwahrnehmung auch Konsequenzen für den moralischen Status der Person besitzen, hebt besonders Leibniz hervor: „Da die intelligente Seele … erkennt, was sie ist und ICH sagen kann, was viel besagt, dauert sie nicht nur und bleibt im metaphysischen Sinne bestehen ebenso wie die anderen, sondern bleibt auch im moralischen Sinne dieselbe und schafft die identische Persönlichkeit. Denn die Erinnerung oder die Kenntnis dieses Ichs befähigt zu Strafe und Belohnung“ (Leibniz 1965, 155). Die moralische Verantwortlichkeit wird hier zu einem konstitutiven Merkmal des Werts, der sich mit dem Begriff der Person verbindet. Dies wird einige Jahrzehnte später von Kant aufgenommen und verstärkt, der ebenso wenig wie die Realität der Freiheit die Realität der Person theoretisch begründen kann, ihr aber eine desto größere moralische Bedeutung zuerkennt. Die Person erscheint nun als dasjenige Wesen, „dessen Dasein an sich selbst einen absoluten Wert“ (Kant, Grundlegung 1983, 59) hat. Dieser Wert ist in allen Handlungen zu respektieren, so wie es der Kategorische Imperativ besagt: „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest“ (ebd., 61).

Die Philosophie hat, wie sich zeigt, den Wert der Person mit Merkmalen verbunden, die die Basis der zuvor beschriebenen Selbstentfaltungswerte ausmachen.

Die Wertigkeit, die mit der Bestimmung der Person von vornherein verbunden ist, macht im Grunde erst eine Diskussion verständlich, die in der Gegenwart mit wachsender Heftigkeit geführt wird: die Diskussion um die Frage, ob Menschen, die durch ihren Entwicklungsstand oder durch schwere Erkrankungen bzw. Behinderungen wesentlich in ihrer geistigen Kompetenz beeinträchtigt sind, Personen seien.

Man könnte versucht sein, die Diskussion um Inhalt und Umfang des Begriffs der Person als philosophisches Sprachspiel abzutun und ihr Bedeutung allenfalls für bestimmte Forschungs- oder Analysezwecke zuzugestehen. Dem widerspricht aber die wachsende Aufmerksamkeit, die das Thema in der öffentlichen Diskussion und selbst im Medium „Fernsehen“ erfährt. Offenbar ist es nicht möglich, die Diskussion der Frage, wer Person ist, auf einer rein akademischen Basis in einem Klima weltanschaulicher oder ethischer Neutralität zu führen. Der Grund hierfür ist offenbar der, dass mit dieser Frage die Zuerkennung oder Aberkennung von Werten untrennbar verbunden ist.

Schon die Diskussion um die Bedingungen der Personalität im Rahmen der analytischen Philosophie lässt trotz ihrer scheinbaren Abstraktheit die Brisanz der Fragestellung erkennen. D. Dennett z.B. beginnt seine kurze Abhandlung über die Bedingungen der Personalität mit der lapidaren Feststellung: „Ich bin eine Person, und Sie ebenfalls“ (Dennett 1983, 23). Dies jedoch ist zunächst eine Sache des praktischen Selbstbewusstseins und eines intuitiven Personverständnisses, dem nach Dennett keine klare Begrifflichkeit entspricht. Er untersucht sechs bekannte Thesen zum Begriff der Personalität, die in einem logischen Abhängigkeits- und Begründungsverhältnis stehen und sich auf das intuitive Personverständnis stützen. Die sechs Thesen drücken die Bedingungen der Personalität aus, wobei offen bleibt, ob es sich nur um notwendige oder – wenigstens in ihrer Gesamtheit – auch um hinreichende Bedingungen handelt. Personen sind demnach erstens „vernünftige Wesen“ (ebd., 24 ff.), zweitens „Wesen …, denen man psychologische bzw. geistige bzw. intentionale Prädikate zuschreibt“. Drittens wird gesagt, das „Gelten von etwas als eine Person“ hänge von unserer Einstellung zu ihr ab. Die vierte Bedingung besteht darin, dass „das Objekt, demgegenüber man diese Haltung einnimmt, diese Haltung muss erwidern können“. Verlangt wird also eine gewisse Gegenseitigkeit, gleichsam ein intentionales System zweiter Ordnung: Ich weiß oder gehe davon aus, dass das Wesen, welches ich als Person behandle, mich auch als Person wahrnimmt, also weiß, dass ich bestimmte Einstellungen, Wünsche usw. habe. Die fünfte Bedingung, durch die die Tiere ausgeschlossen werden, ist nach Dennett die Fähigkeit zur sprachlichen Kommunikation. Damit ist nicht nur die Fähigkeit gemeint, durch Zeichen anderen etwas mitzuteilen; vielmehr bestimmt Dennett die Fähigkeit zur sprachlichen Kommunikation so, dass dazu Intentionen dritter Ordnung vorausgesetzt werden: „S muss intendieren, dass Z erkenne, dass S intendiere, dass Z a hervorbringe“ (ebd., 33). Wenn ich also z.B. zu meinem Sohn sage, er müsse unbedingt fleißiger sein, damit sich seine schulischen Leistungen bessern, so intendiere ich (S), dass mein Sohn (Z) erkennt, dass ich (S) ihn dazu bewegen will (intendiere), dass er (Z) mehr Fleiß zeigen soll (a). Die sechste Bedingung schließlich sieht Dennett unter Berufung auf H. Frankfurt und andere im Selbstbewusstsein. Damit ist nicht lediglich eine Art Selbstgefühl gemeint, sondern vor allem die Fähigkeit, in Zukunftskategorien zu denken bzw. ein „Wollen zweiter Ordnung“ zu haben. Ein Wollen erster Ordnung ist das direkte, objektgerichtete Wollen, welches sich z. B. bei heißem Wetter in dem Entschluss äußert, eine Gartenwirtschaft aufzusuchen, um dort ein Bier zu trinken. Das Wollen zweiter Ordnung richtet sich hingegen auf das eigene Wollen selbst, es ist ein Ausdruck der „reflexiven Selbsteinschätzung“ (ebd., 40), welche sich darin äußert, durch mein Wollen Einfluss auf meine Wünsche zu nehmen, also z. B. die Art der eigenen Wünsche ändern zu wollen. So könnte es sein, dass der oben beschriebene Biertrinker sich schämt, seinem Wunsch nachgegeben zu haben, ja ihn überhaupt gehabt zu haben, und beschließt, an sich zu arbeiten, damit seine Wünsche künftig in andere Richtungen gehen. Volitionen (Willensakte) der zweiten Ordnung sind für Frankfurt Voraussetzung für die Willensfreiheit, ohne die der Begriff der Person sinnlos ist.

Es handelt sich hier anscheinend um sehr abstrakte Merkmalsbestimmungen, die indessen jeder anhand der eigenen Erfahrung nachprüfen kann und im Wesentlichen bestätigen wird: Vernunft, Intentionalität (d.h. die Fähigkeit, Wünsche und Absichten zu haben), Gegenseitigkeit, sprachliche Kommunikation, Selbstbewusstsein – das sind im Wesentlichen die Merkmale, die man auch im Alltagsbewusstsein mit dem Begriff der Person verbindet, während die dritte Bedingung: also die Einstellung, schwerer mit dieser praktischen Ebene zu vermitteln ist. Kaum jemand wird zögern, diese Bedingungen auch auf sich selbst anzuwenden und so die Eingangsfeststellung Dennetts zu bekräftigen: „Ich bin eine Person, und Sie ebenfalls.“ Ganz sicher kann man sich bei dieser Feststellung jedoch nicht sein, da man die Kriterien bald deutlich, bald weniger deutlich erfüllt, sodass am Schluss ein Zweifel steht: Mit Sicherheit vermögen wir „nicht einmal im eigenen Fall zu sagen, ob wir Personen sind“ (ebd., 42).

Soweit dem Leser zugemutet wird, diese Zweifel wirklich auf sich selbst anzuwenden, wird hier in den meisten Fällen seine Gutwilligkeit ihre Grenze erreicht haben. Man wird sich vor allem deshalb gegen eine potenzielle Aberkennung des Status der Person wehren, weil man darin eine massive Abwertung der eigenen Existenz sieht.

Die Ausdehnung dieser normativen Betrachtungsweise ist es, die die derzeitige Diskussion um die Frage der Anwendbarkeit des Begriffs „Person“ verständlich macht. Ob jemand oder etwas Person ist, ist eine Frage der Bewertung dieses Etwas und nicht nur eine Frage der neutralen Zuerkennung bestimmter Merkmale. So erhebt sich sofort die Vermutung, die Aberkennung des Status der Person impliziere auch die Aberkennung von bestimmten Rechten, die mit dem Status der mündigen Person gegeben sind – was ja weitgehend auch der Fall ist. Dass diese Fragen vor dem speziellen Hintergrund der deutschen Vergangenheit, in der Begriffe wie „unwertes Leben“ für Menschen mit schweren Behinderungen benutzt wurden, ein besonderes Gewicht gewinnen, liegt auf der Hand.

Kritisch zu der Auffassung, dass alle Menschen Personen seien, äußert sich bereits M. Scheler. Menschliches Leben erreicht nach Scheler seinen vollen Sinn mit der Personalität, die im Sinne einer Wesens- und gleichzeitig Wertgrenze strikt von allem Organischen geschieden ist (Scheler 1921, 299). Person ist für Scheler im Wesentlichen Geist, sodass die Frage entsteht, ob menschliche Wesen, deren geistige Entwicklung noch gar nicht begonnen hat oder durch Krankheit bzw. Behinderung abgebrochen bzw. blockiert wurde, Personen sind.

Ausführlicher kommt er auf den Geltungsbereich des Begriffs der Person im Kapitel „Die Person in ethischen Zusammenhängen“ zu sprechen. Er kommt dort zu dem Ergebnis, der Ort, „wo uns das Wesen der Person zum erstenmal aufblitzt“, sei „nur bei einer gewissen Art von Menschen, nicht beim Menschen überhaupt“ zu finden (ebd., 496). Ausgeschlossen von dieser „Art“ werden in einem Klammerzusatz ausdrücklich Kinder und Schwachsinnige Es folgt daraus: „Vollsinnigkeit z. B. im Gegensatz zum Wahnsinn ist eine erste Bedingung (des Personseins, Anm. d. Verf.s)“ (ebd.).

Die menschliche Person als „Akzentrum“, d.h. als organisierendes Zentrum ihrer eigenen Tätigkeiten, wird als höchst dynamisches Geschehen begriffen, ja als ein ständiges Setzen von Akten, die die Personalität gleichsam so aufsaugen, dass außerhalb dieser Akte nichts mehr von ihr übrig bleibt, mit der Konsequenz, dass menschlichen Wesen, die – aus welchen Gründen auch immer – nicht in der Lage sind, solche Akte zu setzen, der Status der Personalität aberkannt wird.

Scheler vertrat diese Position in seiner umfänglichen Ethik, die während des Ersten Weltkrieges erschien. Die sich kurz danach ausbreitende Naziideologie, mit der Scheler nichts zu tun hatte, und das aus ihr resultierende zwölf Jahre dauernde „Tausendjährige Reich“ haben dazu geführt, dass sich in Europa und vor allem in Deutschland ein hohes Maß an Sensibilität für den Wert menschlichen Lebens und ein hohes Maß an Skepsis gegenüber allen Versuchen entwickelt hat, bestimmten Formen des menschlichen Lebens die Personalität und mit ihr möglicherweise das Lebensrecht abzuerkennen. So ist es nicht verwunderlich, dass die Thesen des australischen Philosophen Peter Singer hierzulande überwiegend auf kritische Resonanz stießen.

Singer ist nach seinem Selbstverständnis utilitaristischer Ethiker und geht von dem Prinzip der Interessengleichheit aus: „Dies bedeutet, dass wir Interessen einfach als Interessen abwägen, nicht als meine Interessen oder die Interessen der Australier oder die Interessen der Weißen. Das verschafft uns ein grundlegendes Prinzip der Gleichheit: das Prinzip der gleichen Erwägung von Interessen“ (Singer 1994, 39). Moralische Pflichten bestehen überhaupt nur im Hinblick auf die Anerkennung von Interessen, nicht also gegenüber Wesen, denen man keine Interessen unterstellen kann. Dementsprechend macht Singer auch einen Unterschied zwischen dem Umfang der Begriffe „menschliches Wesen“ und „Person“. Wenn wir von einer Person sprechen, so meinen wir ein Wesen, welches die folgenden Merkmale besitzt: „Selbstbewusstsein, Selbstkontrolle, Sinn für Zukunft, Sinn für Vergangenheit, die Fähigkeit, mit anderen Beziehungen zu knüpfen, sich um andere zu kümmern, Kommunikation und Neugier“ (ebd., 118). Wenn wir hingegen von einem menschlichen Wesen sprechen, so meinen wir in der Regel damit, dass es zur biologischen Art „Homo sapiens“ gehört. Als Person bezeichnet Singer somit unter Berufung auf John Locke nur diejenigen menschlichen Wesen, die über die genannten Eigenschaften verfügen.

Ähnlich wie für Scheler, den Singer aber nicht erwähnt, verläuft die entscheidende Trennungslinie zwischen Leben und Geist bzw. Person, und er zieht auch ohne Zögern die ethischen Konsequenzen. Dem Menschen als Lebewesen eine besondere Schutzwürdigkeit zuzuerkennen, ist für Singer wie übrigens auch für N. Hoerster (vgl. Hoerster 1995, 55ff.) eine „speziesistische Auffassung“, die zu revidieren sei (vgl. Singer 1994, 122f.). Ganz anders steht es mit der Schutzwürdigkeit der Person. Während das Leben eines Menschen als Mitglied der Species „Homo sapiens“ keine herausgehobene Schutzwürdigkeit genießt, stellt das „Leben einer Person jeweils einen besonderen Wert“ dar (ebd., 123). Eine Person ist eine „distinkte Entität“, d. h., sie hat die erwähnten Fähigkeiten und kann insbesondere ihre Interessen artikulieren. Eine Person zu töten würde deren Interessen oder Wünschen, ihren „Präferenzen“ (ebd., 128 f.) widersprechen: „Eine Person zu töten, die es vorzieht, weiterzuleben, ist daher, gleiche Umstände vorausgesetzt, unrecht“ (ebd.).

Schon diese Aussagen zeigen, dass die Unterscheidung zwischen Mensch und Person unter ethischem Aspekt zu schwerwiegenden Konsequenzen führt, denn das moralische Tötungsverbot gilt ja nicht für diejenigen menschlichen Wesen, die den Wunsch nach dem Weiterleben nicht haben oder äußern können, d. h., es gilt nach Singer nicht für diejenigen, die zwar menschliche Wesen, aber keine Personen sind. Singer erörtert der Reihe nach die Frage der Zulässigkeit einer Tötung von Tieren, Föten, Kleinkindern und Schwerstbehinderten und kommt dabei zu Ergebnissen, die den öffentlichen Zorn über seine Thesen verständlich erscheinen lassen. Unter Berufung auf Beobachtungen der Primatenforscherin Jane Goodall stellt er im Hinblick auf die erste Gruppe zunächst fest, dass höhere Säugetiere durchaus die oben genannten Kriterien einer „distinkten Entität“ erfüllen, also Personen sind. Schimpansen etwa verfolgen offenbar Intentionen, erwarten bestimmte zukünftige Ereignisfolgen, in denen sie selbst eine Rolle spielen: „Wenn ein Tier einen sorgfältigen Plan ersinnen kann, um eine Banane zu erlangen – nicht gleich, sondern in absehbarer Zukunft –, und wenn es Vorsichtsmaßnahmen ergreifen kann“, um das Vorhaben nicht zu verraten, „dann muß dieses Tier sich seiner selbst als einer distinkten, in der Zeit existierenden Entität bewußt sein.“ Also sind solche Lebewesen, zu denen auch Wale und andere höhere Säugetiere gehören, „nach unserer Definition Personen“ (ebd., 155). Sie sollten demnach ethischen und rechtlichen Schutz genießen, der ihnen derzeit bekanntlich verwehrt wird. Dieses Beispiel macht klar, dass ein wichtiges Anliegen Singers darin besteht, der Beziehung zwischen Mensch und Tier eine neue ethische Qualität zu verleihen.

Die Konsequenzen, die er weiterhin zieht, machen jedoch die Risiken einer Ethik deutlich, die erstens rein utilitaristisch denkt und zweitens – ähnlich wie Scheler – die konkrete Vollziehbarkeit gewisser personaler Akte zum entscheidenden Kriterium macht. Was Föten betrifft, so ist für Singer klar, dass „kein Fötus denselben Anspruch auf Leben (hat) wie eine Person“ (ebd., 197). Das ist sehr zurückhaltend formuliert, denn schaut man genau hin, so zeigt sich, dass Singer Föten überhaupt keinen Anspruch auf Leben zubilligt: „Wenn wir einen weniger als drei Monate alten Fötus nehmen, so würde sogar ein Fisch mehr Anzeichen von Bewußtsein zeigen“ (ebd.). Tötet man gar einen Fötus im Alter von weniger als achtzehn Wochen, so beendet man das Leben einer „Existenz, die überhaupt keinen Wert an sich hat“ (ebd., vgl. auch ebd., 213). Eine gewisse Sorge bereitet Singer hier lediglich die bislang noch zu wenig erforschte Frage, ob die Abtreibung mit den bisher gängigen Praktiken für den Fötus schmerzfrei erfolgt.

Singer diskutiert verschiedene Einwände gegen seine Position, darunter auch den Einwand, dass Föten der Definition zufolge zwar keine Personen sind, aber im Unterschied zu Fischen und Garnelen Personen werden können, und prüft in diesem Zusammenhang die Prämisse: „Es ist unrecht, ein potentielles menschliches Wesen zu töten“ (ebd., 199). Er verwirft diese Prämisse mit einem zweifelhaften Vergleich: „Prinz Charles ist der potentielle König von England, aber er besitzt nicht die Rechte eines Königs“ (ebd.). Weshalb sollte also eine potenzielle Person die Rechte einer Person haben? Der Vergleich ist allein schon aufgrund der Heterogenität der Vergleichsglieder höchst zweifelhaft; er stimmt aber selbst dann nicht, wenn man diesen Aspekt einmal außer Acht lässt und sich überhaupt auf ihn einlässt. Natürlich hat der potenzielle König von England in der Phase seiner potenziellen Regentschaft nicht die Rechte, die er später als wirklicher König haben wird. Aber er hat auch und gerade in dieser Phase der Potenzialität die Rechte des potenziellen, künftigen Königs von England, und die hat er nicht erst später, sondern im Zustand seiner Potenzialität. Seine spätere Regentschaft wirft ständig ihre Schatten voraus, sie stattet ihn mit Rechten und natürlich auch mit Pflichten aus, selbst dann, wenn aus der Potenzialität niemals Aktualität würde. Menschen werden über ihn sagen: „Dieser und kein anderer ist der künftige König von England“, und sie werden dies aufgrund der Merkmale und Beziehungen sagen, die seine jetzige Existenz ausmachen. Wenn Singer also den Vergleich zwischen einem Fötus und Prinz Charles überhaupt vornimmt, müsste er auch zeigen, wie die Rechte, die der Fötus später als Person haben wird, mit seiner derzeitigen Existenz zusammenhängen, und warum ausgerechnet das Recht auf Leben nicht dazugehören soll. Dieser Versuch wird nicht unternommen, und er kann auch gar nicht unternommen werden, denn Singer beschränkt das Recht auf Leben von vornherein auf den Status derjenigen Wesen, die ein aktuelles Interesse am Weiterleben bewusst äußern können; er beschränkt es auf „distinkte Entitäten“, also Personen in seinem Sinne.

Auch weiteren Konsequenzen, die sich aus der definitorischen Einengung des Begriffs der Person ergeben, weicht Singer keineswegs aus. Eine „distinkte Entität“ in dem genannten Sinne wird ein menschliches Wesen ja keineswegs mit der Geburt: Es hat in dieser Phase offenbar kein Bewusstsein von sich selbst, hat keinen expliziten Bezug zur Vergangenheit oder Gegenwart und keine Zukunftswünsche. Die Argumentation Singers in dieser Frage konzentriert sich dabei zunächst auf behinderte Säuglinge, und nach dem Vorherigen kann seine Schlussfolgerung nicht überraschen: „Die Tötung eines behinderten Säuglings ist nicht moralisch gleichbedeutend mit der Tötung einer Person. Sehr oft ist sie überhaupt kein Unrecht“ (ebd., 244). Das Kriterium für die Unterscheidung zwischen Recht und Unrecht wird durch das „Ersetzbarkeits-Argument“ (ebd.) geliefert: Wenn eine Mutter ein behindertes Kind abtreibt und dabei gleichzeitig den Wunsch hat, es durch ein anderes, nicht-behindertes zu „ersetzen“, so schließt sich Singer offenbar der folgenden Argumentation an: „Der Verlust des Lebens für den nicht ausgetragenen Fötus wird aufgewogen durch den Gewinn eines besseren Lebens für das normale Kind, das nur gezeugt wird, wenn das behinderte Kind stirbt“ (ebd., 240). Wenn allerdings für das behinderte Kind die Aussicht auf Adoption besteht, gilt dieses Argument nicht mehr, und eine Abtreibung wäre ein Unrecht, sofern nicht andere Gründe ins Spiel kommen.

Aber auch mit der Einbeziehung behinderter Kinder ist noch nicht die Grenze der moralischen Tötungslizenz erreicht. Alle Argumente, die Singer in Bezug auf die Abtreibung anführt, gelten im Prinzip auch für Neugeborene, und zwar für alle Neugeborenen, ganz unabhängig davon, ob sie behindert sind oder nicht: „Ein Neugeborenes, das eine Woche alt ist, ist kein rationales und selbstbewußtes Wesen, und es gibt viele nichtmenschliche Lebewesen, deren Rationalität, Selbstbewußtsein, Bewußtsein, Fähigkeit zu fühlen und so weiter die Fähigkeit eines eine Woche oder einen Monat alten menschlichen Säuglings übertreffen“ (ebd., 219). So hat also „das Leben eines Neugeborenen für dieses weniger Wert als das Leben eines Schweins, eines Hundes oder eines Schimpansen für das nichtmenschliche Tier“ (ebd.). Unterschiede liegen nicht in dem Säugling selbst, sondern im Prinzip nur in der Reaktion der Erwachsenen auf die Geburt. In den meisten Fällen werden die Eltern das Neugeborene glücklich begrüßen, sodass seine Tötung ihren Glückszustand stark beeinträchtigen würde. Würde das Neugeborene hingegen nur als eine Last, als eine Beeinträchtigung des eigenen Wohlbefindens empfunden, so müsste seine Tötung im Prinzip für Singer moralisch erlaubt sein – eine Konsequenz, die er allerdings nicht ausdrücklich zieht. Er beschränkt sich hier auf vage Äußerungen wie: „Nichts von alledem weist … darauf hin, daß das Töten eines Säuglings ebenso schlimm sei wie das Töten eines (unschuldigen) Erwachsenen“ (ebd., 220); er fordert ebenso vage: „Wir sollten Infantizid sicherlich nur unter sehr strengen Bedingungen erlauben“ (ebd., 224), und er gerät im Übrigen sofort in die Fallstricke, die sich aus der Frage ergeben, bis zu welchem Alter diese Tötungslizenz reichen sollte. Liegt die Grenze bei einer Woche, liegt sie bei zwei oder drei Jahren (vgl. ebd., 222), oder liegt sie, wie Singer schließlich ohne nähere Begründung vorschlägt, bei „etwa einem Monat“ (vgl. ebd., 223)?

Ähnliche kritische Fragen betreffen auch die Position Hoersters, der ebenfalls das Vorhandensein eines realen Überlebensinteresses als Kriterium empfiehlt, jedoch aus rein pragmatischen Gründen die Geburt als Zeitpunkt für die Zuerkennung eines Lebensrechtes vorschlägt, obwohl ein Überlebensinteresse frühestens vom Beginn des vierten Monats nach der Geburt angenommen werden könne. Da man aber ähnlich wie bei Geschwindigkeitsbegrenzungen eine „Sicherheitsfrist“ (Hoerster 1995, 26) brauche, biete sich das markante Ereignis der Geburt an. Die Qualität des Vergleiches würde an sich eine eigene Betrachtung erfordern. Jedenfalls haben wir es auch hier mit einer Ethik zu tun, der im Prinzip nichts anderes übrig bliebe, als die Augen niederzuschlagen oder gar billigend zuzuschauen, wenn man denn – die Zustimmung der Eltern vorausgesetzt – wirklich daran ginge, neugeborene Kinder unmittelbar nach der Geburt umzubringen. Dass er genau diese Konsequenz will, ist Hoerster natürlich nicht zu unterstellen. Entscheidend ist jedoch, dass sie nach den Prinzipien seiner Ethik möglich ist. Immerhin ist ihm für die Klarheit zu danken, mit der er zeigt, wohin eine „metaphysikfreie“ (ebd., 20) Ethik führen kann.

Lässt man hingegen die Potenzialität als Argument zu, so kommt man zu anderen Ergebnissen. Die „neuesten Ergebnisse der Humangenetik“ besagen immerhin, „dass der Mensch in der befruchteten Eizelle bis in letzte und kleinste Eigenarten angelegt ist.“ – angelegt, nicht festgelegt. Die „anschließende substanzielle Entwicklung“ vollzieht sich natürlich „durch Außeneinflüsse“, die weit über die Geburt hinaus das ganze Leben andauern. „Biologisch gibt es bei dauernden Veränderungen keinerlei Brüche“ (M. Lütz 2001, 6), sodass von daher alle festgelegten Fristen willkürlich sind.

Zweierlei ist zur Position Singers noch zu bemerken: Erstens zeigt sich hier, dass der anscheinend obsolete Begriff einer personalen Substanz in Wirklichkeit keineswegs überholt ist. Die ethisch äußerst problematischen Konsequenzen, die Singer selbst zieht, ergeben sich nicht, wenn man davon ausgeht, dass die verschiedenen Zustände, Entwicklungen und Aktivitäten einer Person Phasen einer zugrunde liegenden Identität sind, die sich im Wechsel von Aktualität und Potenzialität bewegt, aber eben nicht selbst aufhebt. Das entspricht übrigens auch der eigenen Erfahrung, die man bei anthropologischen und ethischen Fragestellungen grundsätzlich miteinbeziehen sollte. Eine „Verdinglichung“ der Person liegt wohl weniger bei einer solchen Konzeption vor als in der Art der Singer’schen Argumentation und bei einer Zulassung der Möglichkeiten, die er selbst beschreibt.

Auch hier liegt zweitens der Einwand nah, dass die Erwünschtheit oder Unerwünschtheit der Konsequenzen nicht über die Richtigkeit oder Falschheit einer Theorie entscheiden. Der Umstand, dass für passionierte Raucher die Forderung, das Rauchen einzustellen, in der Regel unerwünscht sein wird, ändert an der Wahrheit der Theorie der cancerogenen Wirkung des Rauchens nicht das Geringste. In diesem Punkt ist es mit der Frage der Personalität des Menschen indessen ähnlich bestellt wie mit der Frage der Freiheit. Es handelt sich hier um keine Theorie, die man durch unabhängige Beobachtungen bestätigen oder widerlegen kann, sondern um ein Konzept, bei dem der Mensch eine grundsätzliche Entscheidung trifft über sich selbst und über die Art und Weise seines Umgangs mit seinesgleichen. Die hier zu treffende Entscheidung ist nicht die, ob Säuglinge und geistig Schwerstbehinderte vielleicht doch sprechen, begrifflich denken und ihre eigene Zukunft planen können, sondern vor allem diejenige, ob man als Definitionselement von „Person“ nur den jeweils individuellen Aktvollzug gelten lässt oder die Aktpotenz als das entscheidende Merkmal ansieht, wobei wiederum zwischen individueller Potenz und gattungsmäßiger Potenz zu unterscheiden ist. Einer pluralistischen Gesellschaft steht es wohl an, die Extensionen der Begriffe „Person“ und „Mensch“ als identisch anzusehen und von einer entsprechenden Definition des Begriffes „Person“ auszugehen. Eine Gesellschaft, die die Würde des Menschen nicht mehr an die Würde der Person und vice versa koppelt, wird die Achtung vor beidem bald verlieren.

Eine differenziertere Position als Singer vertritt D. Birnbacher, der zumindest in der bioethischen Diskussion den Begriff der Person nicht verwenden möchte, weil in diesem deskriptive und normative Bedeutungsanteile kaum noch auseinander zu halten seien. So werde die Zuschreibung moralischer Rechte ständig an die Anerkennung des Status der Person gebunden, sodass der ganze Streit zwischen den Vertretern der extensionalen Äquivalenz oder Differenz von „Mensch“ und „Person“ sich um die Frage drehe, in welcher Verfassung ein Wesen sein müsse, um als Person mit den entsprechenden Rechten zu gelten. Obwohl Birnbacher sich selbst den Vertretern der „Nichtäquivalenz-Doktrin“ zurechnet (Birnbacher 1997, 21), hält er von der Verwendung des Personbegriffs in der wissenschaftlichen Diskussion nichts wegen der mit ihm gegebenen „Konfusionen“, der Vorspiegelung semantischer „Bestimmtheit“ und der Bindung moralischer Rechte an den Status der Person, die z. B. dazu führe, Tieren solche Rechte abzusprechen. Ein Verzicht eröffne demgegenüber „Chancen für eine feinkörnigere Analyse und Begründung moralischer Rechte“ (ebd., 24). Dazu ist zu sagen, dass man im wissenschaftlichen Kontext natürlich auf den Begriff der Person verzichten kann. Dadurch freilich würde man sich mindestens so weit von der alltagssprachlichen Ebene entfernen, wie Birnbacher dies bei L. Siep kritisiert, der den Begriff der Person je nach Verfassung in abgestuftem Sinn verwenden möchte.

Dabei soll nicht bezweifelt werden, dass die Ausweitung von Tierrechten ethisch von großer Bedeutung ist. Vor allem die heute immer noch, sogar verstärkt stattfindende qualvolle und krank machende Massentierhaltung, die in ihrem Gefolge stattfindenden Massentötungen, die Art und Weise der Tiertransporte, die oft sinnlose Nutzung von Tieren für Forschungs- und Ausbildungszwecke sind eine Schande für unsere Zivilisation, und es ist zu hoffen, dass die von Singer in der ersten Auflage seiner ›Praktische(n) Ethik‹ gestellte Frage: „Wird man dereinst von dieser Industrie so denken, wie man heute über den Sklavenhandel denkt?“ (Singer 1984, 135), eine in der Tendenz bejahende Antwort erfahren wird. Nur werden die Wege, die zu einer solchen Bejahung führen, wohl kaum die von Singer vorgeschlagenen sein. Was wird denn die wahrscheinliche praktische Folge sein, wenn man den Begriff „Person“ so definiert, dass bestimmte Gruppen von Menschen nicht mehr darunterfallen und stattdessen bestimmte Gruppen von Tieren plötzlich als Personen betrachtet werden sollen? Man wird über den Versuch einer Einbeziehung von Tieren je nach Charakter zynisch, höhnisch, gleichgültig oder kopfschüttelnd hinweggehen, den Versuch eines Ausschlusses bestimmter Menschengruppen aber je nach Interessenlage als willkommene Argumentationshilfe begrüßen. Will man den Tierschutz verstärken, so muss man dazu nicht den Begriff der Person einerseits auf unsinnige Weise ausdehnen und andererseits gleichzeitig auf hoch problematische Weise einschränken, sondern statt dessen endlich anerkennen, dass es andere, nicht-personhafte Lebewesen gibt, die einen ethischen Anspruch auf artgerechte Lebensbedingungen haben: „Empfindungsfähigkeit kann für den Besitz moralischer Anspruchsrechte hinreichend sein, während sie nach keiner Personenkonzeption –…– für den Personenstatus hinreichend ist“ (Birnbacher 1997, 21).

Mit dem Begriff der Person rühren wir an den Kernbestand der Moral der pluralistischen Gesellschaft. Wenn wir von der Grundidee des Pluralismus ausgehen, Pluralität, d.h. aber auch: Andersheit, grundsätzlich zuzulassen und zu fördern, so erscheint es als inkonsequent, wenn man gerade beim Begriff der Person von einer enggefassten Gleichheit gewisser personaler Vollzüge als einzigem Kriterium ausgeht, das gesamte Spektrum der viel weiter reichenden Potenzialitäten, die hinter diesen Vollzügen stehen, hingegen ausblendet.

Dass eine solche Ausblendung keineswegs erfolgen muss, zeigt sich an der Monographie ›Person und Ethik‹ von H. Rotter, aber auch an den Ausführungen von L. Kerstiens. Der Bedeutung einer wesensbestimmten Potenzialität trägt L. Kerstiens in seinem Buch ›Erziehungsziel: Humanes Leben‹ Rechnung. Gleichzeitig unterbreitet er einen diskussionswürdigen Vorschlag, mit dem Problem umzugehen. In einem Exkurs über die Personalität des Menschen listet er zunächst Vertreter der konsequent metaphysischen Position auf, nach der der Status der Personalität ohne Ausnahme und Abstriche jedem menschlichen Wesen zukommt, stellt diesen sodann Vertreter der konträren Position gegenüber, wonach das Individuum zur Person erst im Verlauf seiner Entwicklung wird, um schließlich einen Vermittlungsvorschlag zu machen, der allerdings mehr zur ersten Seite hintendiert: „Am besten erscheint es mir, wenn man zwischen Personalität als einer prinzipiellen Wesensbestimmung und der Aktualisierung der Person in einem ‘wesensgemäßen’ Leben unterscheidet“ (Kerstiens 1991, 60). Der Vorschlag ist deshalb bemerkenswert, weil er einerseits keinen Zweifel daran lässt, dass der Status der Personalität eine unverlierbare Wesensbestimmung ist, die jedem Menschen zukommt, andererseits aber hervorhebt, dass mit dieser „Wesensbestimmung“ grundsätzlich auch die Fähigkeit und das Recht zu konkreten Aktvollzügen verbunden sind. Wer diese Fähigkeit aus welchen Gründen auch immer nicht besitzt, ist zwar Person, kann aber die daraus folgenden Akte nicht setzen, insofern also nicht „wesensgemäß“ leben. Kerstiens führt nicht aus, was dies konkret bedeutet; man kann jedoch die entsprechenden Konsequenzen leicht selbst ziehen. Wesensgemäß zu leben bedeutet in diesem Sinne z. B. die Fähigkeit, die von Dennett genannten Akte zu vollziehen, es bedeutet die Fähigkeit, Verantwortung für sich und sein Tun zu übernehmen, mündig im Sinne Kants zu leben. Es schließt darüber hinaus aber auch Wesenssachverhalte ein, die von diesen im engeren Sinne personalen Akten vorausgesetzt werden, also z.B. ein im vitalen Sinne gesundes Leben, Ernährung, Kleidung usw. Wer die im engeren Sinne personalen Akte aus Gründen, die in ihm selbst liegen, nicht setzen kann – also z. B. weil er krank und/oder behindert ist –, verliert somit nicht etwa den Status der Personalität, er verliert auch nicht das Recht auf Leben oder Gesundheit oder auf sonstige ihm mögliche Entfaltungsformen, sondern genau die Rechte, die an die Fähigkeit zum Vollzug des entsprechenden Aktes gebunden sind. Wer also z.B. infolge eines Unfalls nicht in der Lage ist, über Maßnahmen zur Erhaltung oder Wiederherstellung seiner eigenen Gesundheit zu entscheiden, verliert eo ipso für die Dauer dieses Zustandes auch das Recht darauf und muss diese Entscheidung anderen überlassen, wobei freilich etwaige zuvor getroffene Dispositionen des Betroffenen in ihrer Entscheidung zu berücksichtigen sind.

Die Unterscheidung zwischen der prinzipiellen Wesensbestimmung und den konkreten Aktvollzügen führt aber nicht nur zu Konsequenzen für die Zu- oder Aberkennung bestimmter Rechte, die an die Fähigkeit zur Setzung bestimmter Akte gebunden sind, sondern auch zu Konsequenzen in Bezug auf die Pflichten, die die Gesellschaft ihren Mitgliedern gegenüber zu übernehmen hat. Aus dem personalen Status folgt das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, wozu z. B. das Recht auf freie Religionsausübung gehört. Es gehören weiter dazu das Recht auf freie Meinungsäußerung, das Recht auf Versammlungsfreiheit – alles das also, was das Grundgesetz rechtlich abzusichern versucht. Staaten, die ihren Bürgern diese Rechte vorenthalten, heben nicht deren personalen Status auf, missachten aber die Rechte, die mit einem „wesensgemäßen Leben“ verbunden sind. Für eine pluralistische Gesellschaft hingegen folgt daraus die Pflicht, durch ein leistungsfähiges Bildungswesen, durch die Zulassung und Förderung von Informationsvielfalt und ähnliche Maßnahmen alles in ihren Kräften Stehende zu tun, um die Entfaltung der individuellen Persönlichkeit zu fördern.

Bei der Begriffsbestimmung der Moral wurde unterschieden zwischen Rücksichten gegen sich selbst und Rücksichten gegen andere. Es leuchtet ein, dass die Selbstentfaltungswerte unter die Rücksichten gegen sich selbst fallen. Die weitergehende Unterscheidung in Bestrebungen und Pflichten spielt im jetzigen Zusammenhang keine Rolle, da es ja hier nicht um die Art der Realisierung von Werten durch das Individuum geht, sondern um charakteristische Werte der pluralistischen Gesellschaft.

Die Beschreibung der Selbstentfaltungswerte, die in eine Diskussion des zentralen Wertes der Personalität mündete, soll zunächst auf dieser allgemeinen Ebene verbleiben. Präzisere Inhaltsbestimmungen werden bei der Diskussion der Ziele moralischer Erziehung vorgenommen.

Wenn es um charakteristische Normen und Werte der pluralistischen Gesellschaft geht, genügt die Exposition von Selbstentfaltungswerten selbstverständlich nicht. Vielmehr ist entsprechend der oben entwickelten Begriffsbestimmung der Moral auch auf die Rücksichten gegen die Mitwelt einzugehen, und zwar entsprechend der Gliederung der Mitwelt in Mensch und Natur, also auf soziale Werte und natürliche Werte.

Moral und Erziehung in der pluralistischen Gesellschaft

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