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Pluralismus, Gesellschaft und Moral
ОглавлениеWeitere zentrale Punkte des Pluralismus sind nach H. Kremendahl (vgl. Kremendahl 1977, 33–42) die legitime Vielfalt von Gruppen, die Idee des Gemeinwohls, die Einsicht in die Unvermeidbarkeit von Konflikten bei gleichzeitigem Grundkonsens sowie die Option für das Konkurrenzdenken. Diese Reihe ist im Zusammenhang unseres Themas durch einige Merkmale zu ergänzen. So gehört zur pluralistischen Gesellschaft die Rolle der öffentlichen Meinung als wichtiges Moment im Willensbildungsprozess (vgl. Detjen 1988, 169 ff.). Es gehört dazu eine Pluralität von Normautoritäten, wie sie sich z. B. in der Gewaltenteilung darstellt. Es gehört dazu die prinzipiell gleichberechtigte Beteiligung aller Mitglieder an der Einsetzung der Normautorität; ferner ist zu nennen eine gewisse Pluralität im Erziehungswesen, welches sich z. B. in dem Recht zur „Errichtung von privaten Schulen“ (GG Art. 7 Abs. 4) dokumentiert, und unverzichtbar ist natürlich die gesetzlich verankerte, vom Staat garantierte und geschützte Pluralität im Bereich von Moral, Religion und Weltanschauung.
Dass letztere für unser Thema eine besonders wichtige Rolle spielt, liegt auf der Hand. Diese Pluralität impliziert eine weitgehende Zurückhaltung des Staates bei der Einflussnahme auf weltanschauliche, religiöse und moralische Bindungen seiner Bürger. Die Freiheit der weltanschaulichen, religiösen und moralischen Orientierung betrifft den Entwurf des „guten Lebens“, der aus der Personalität des Individuums hervorgeht und zu dessen rechtlich geschützter Würde gehört. Zu den strukturellen Merkmalen einer pluralistischen Gesellschaft gehört somit auch das weitgehende Recht der Bürger, ihr moralisches Leben ohne staatliche oder sonstige institutionelle Bevormundung zu regeln. Selbst J. Detjen, der mit guten Gründen den Gedanken eines allgemeinverbindlichen Gemeinwohls vertritt, weist darauf hin, dass diese Norm das individuelle Gewissen und den modernen Wertepluralismus nicht aufhebe und dass überhaupt dem Staat nicht die Sinnstiftung menschlicher Existenz obliege (Detjen 1988, 227, 294). In einer pluralistischen Gesellschaft kann es nicht zu den Aufgaben staatlicher Institutionen gehören, den Bürgern z.B. vorzuschreiben, an bestimmten Tagen aus religiösen Gründen zu fasten, feste Partnerbeziehungen einzugehen oder sich Freunden gegenüber stets des investierten Vertrauens als würdig zu erweisen. Wenn derartige staatliche Gebote oder Vorschriften weitgehend auch in nicht-pluralistischen Gesellschaften fehlen, dann liegt der Grund dafür weniger im Fehlen des Legitimationsanspruchs als vielmehr im Fehlen der Praktikabilität. Deutliche Ansätze für den Versuch, das Leben der Bürger auch in diesen Bereichen zu regeln, finden wir in Gesellschaften, in denen es die Trennung von Staat und Religion nicht gibt, aber auch in den ehemaligen sozialistischen Gesellschaften, wie das Beispiel der „Zehn Gebote“ im Programm der SED zeigt (vgl. Klaus/Buhr 1972, 2, 748).
In der pluralistischen Gesellschaft gehört die staatliche Zurückhaltung bei der Auferlegung bestimmter moralischer Einstellungen zu den strukturellen Merkmalen, nicht nur im Bereich persönlichen moralischen Verhaltens, sondern auch bei übergreifenden Normen des Zusammenlebens, die es natürlich auch und gerade bei moralischen Normen geben muss.
Zwar ist eine Grenze der Pluralisierung bzw. Individualisierung offenbar da erreicht, wo es um das „ethische Minimum“ geht, ohne welches eine Gesellschaft nicht bestehen kann. Es mag an dieser Stelle genügen, sich bei der Beschreibung dieses Minimums an Kant zu orientieren: „… Ein jeder darf seine Glückseligkeit auf dem Wege suchen, welcher ihm selbst gut dünkt, wenn er nur der Freiheit anderer, einem ähnlichen Zwecke nachzustreben, die mit der Freiheit von jedermann nach einem möglichst allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann, (d. i. diesem Rechte des andern) nicht Abbruch tut“ (Kant, Über den Gemeinspruch, 1983, 145). Niemandem will Kant also z. B. zumuten, sein Interesse am Schutz seines Eigentums zu vernachlässigen, weil er damit u.U. das Glücksstreben einer Diebesbande durchkreuzen würde; wohl aber muss man unter ethischem Aspekt sein Streben nach Vermehrung des Eigentums zügeln, sofern dies etwa nur durch Betrug möglich wäre – weil man damit die Freiheit anderer, „einem ähnlichen Zwecke nachzustreben“, behindern und ein solches Verhalten niemals als Beispiel für die Allgemeinheit oder gar Muster für ein allgemeines Gesetz dienen könnte.
Jeder darf also nach den Prinzipien Kants dem eigenen Glück nachstreben, solange man andere, die dies ebenfalls auf sozialverträgliche Weise tun, nicht behindert. Diese Einschränkung ist nun nicht nur eine ethischmoralische Zumutung, die der Einzelne prüft und dann akzeptiert oder verwirft, sondern eine Forderung, die für so wichtig gehalten wird, dass sie sogar rechtlich abgesichert wird: Auch in einer pluralistischen Gesellschaft ist es nicht nur moralisch, sondern auch rechtlich verboten, andere durch Betrug materiell zu schädigen, zu stehlen, den Ruf des anderen durch Verleumdungen zu schädigen, vom Verbot zu morden oder zu rauben einmal ganz abgesehen.
Das Individuum wird aber nicht nur gegen derartige äußere Beeinträchtigungen geschützt, sondern auch in der positiven Freiheit zur Gestaltung seiner persönlichen Lebensausrichtung, seiner moralischen, religiösen und weltanschaulichen Bindungen. Das alles drückt sich aus in Art. 1 Abs.1 GG, wo die „Würde des Menschen“ unter den besonderen Schutz der staatlichen Gewalt gestellt wird.
Es gibt mithin auch in der pluralistischen Gesellschaft Normen, die die Souveränität und das Selbstbestimmungsrecht, ja die Würde der Person voraussetzen und auf dieser Basis das Zusammenleben der Bürger regeln sollen. Aber eben hier zeigen sich erneut Grenzen, die in jeder Gesellschaft, besonders aber in der pluralistischen Gesellschaft liegen. Das lässt sich an dem zentralen Beispiel der menschlichen Würde zeigen. Zwar gibt es Fälle wie Folter, öffentliche Verunglimpfung, bei denen auch rechtlich ein Verstoß gegen die menschliche Würde festgestellt und verfolgt werden kann, aber die Mehrzahl der möglichen Verletzungen liegt außerhalb dieses Bereichs, sodass staatliche Institutionen mit den Mitteln des Strafrechts ihrer Schutzpflicht nicht nachkommen können. So etwa ist es für eine Person von großer Bedeutung, wie andere Menschen mit ihr umgehen. Man kann durchaus sagen, dass sie in ihrer Würde verletzt wird, wenn andere sie nur als Instrument für ihre eigenen Zwecke benutzen und nicht in ihrer eigenen Personalität, als „Zweck an sich selbst“ ernst nehmen – etwa so, wie es I. Kant und viele andere Ethiker in seinem Gefolge postuliert haben (vgl. Kant, Grundlegung 1983, 61 ff.; Kane 1994, 20 ff.). Wenn man z.B. einer Person freundschaftliche Empfindungen vorspielt, nur weil man sich von ihren politischen oder wirtschaftlichen Beziehungen Vorteile verspricht, oder wenn man sich beständig auf ihre Kosten profiliert, so verletzt man ihre Würde, ohne dass die „staatliche Gewalt“ dies verhindern kann. Der Versuch, es trotzdem zu tun, wäre weder aussichtsreich noch aus der Perspektive der pluralistischen Gesellschaft wünschenswert – jeder Versuch, die Würde des Menschen und die damit gegebenen Rechte, z.B. das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, auf Freiheit des Glaubens und des Gewissens, auf Meinungs- und Bewegungsfreiheit in allen Lebenssituationen zu schützen, würde zu einer Flut von Regelungen, Verordnungen und Kontrollen führen, die die Privatsphäre und damit die zu schützenden Werte selbst schwer gefährden würde.
Dies alles zeigt, dass die Moral weitgehend staatlichem Zugriff entzogen bleibt, und zwar nicht nur im Bereich der speziellen Moral, die im religiösen Glauben, in der individuellen Gewissensorientierung und in frei gewählten Gemeinschaftsbindungen ihren Ausdruck findet, sondern auch für die universale Moral, in der sich die konsensbedürftigen Grundwerte einer Gesellschaft ausdrücken. In beiden Fällen gehört die Zurückhaltung staatlicher Institutionen bei der Reglementierung der Moral zur Struktur der pluralistischen Gesellschaft. Im ersten Fall ist es so, dass der Staat für die Moral seiner Bürger einfach nicht zuständig ist und im Interesse des Pluralismus nicht zuständig sein darf; im zweiten Fall ist es so, dass der Staat als Leitungsorgan der Gesellschaft zwar auf einen Grundkonsens über moralische Werte wie den der Würde des Menschen angewiesen ist, ihn aber gerade um der Bewahrung dieser Werte willen nicht erzwingen darf. Dies ist gleichsam die „offene Flanke“, das konstitutive Risiko einer Gesellschaft, die auf den Prinzipien von Mitbestimmung und Selbstorganisation beruht. Da sie die Zustimmung des Einzelnen zur Bewahrung der Grundwerte, auf denen sie selbst beruht, nicht erzwingen kann, hat sie zwar im Rahmen ihrer Möglichkeiten dafür zu sorgen, dass der Einzelne die Würde seines Mitmenschen nicht verletzen kann; sie ist aber mehr noch darauf angewiesen, dass er dies auch gar nicht will. Die Erziehung wird sich als eine Möglichkeit erweisen, dieser spannungsreichen Grundsituation gerecht zu werden.