Читать книгу Moral und Erziehung in der pluralistischen Gesellschaft - Hans-Joachim Werner - Страница 20

Freiheit

Оглавление

Eng mit den Werten der Selbstentfaltung verbunden, teilweise in ihnen enthalten, ist der Wert der Freiheit. In einem elementaren Bereich ist die Freiheit der Basiswert der Selbstentfaltung: als negative Freiheit, fremde und unerwünschte Einflüsse abzuwehren, als positive Freiheit eben die Freiheit, das eigene Leben selbst zu gestalten. „Freiheit“ und „Selbstentfaltung“ sind jedoch keine synonymen Begriffe: Es gibt Situationen einer freien Entscheidung, die sich ohne Bezug auf personale Selbstverwirklichung als Möglichkeiten der Wahl zwischen vorgegebenen Handlungsalternativen darstellen, und es gibt auf der anderen Seite Entwicklungsprozesse wie etwa körperliches Wachstum, die als Teil der Selbstentfaltung angesehen werden können, aber nicht auf einer freien Wahl beruhen. Das ändert aber nichts an der engen inneren Beziehung zwischen beiden Begriffen.

Die Wertsuggestion, die vom Begriff oder von der Idee der Freiheit ausgeht, ist so stark, dass die Freiheit oft auch noch für Theoreme oder Theorien usurpiert wurde, die nur noch bei einer weitgehenden Deprofilierung des Begriffs etwas mit ihr zu tun haben. Dies gilt in besonders deutlicher Form für die marxistisch-leninistische Ideologie, in abgeschwächter Form für den Behaviorismus. Die Soziobiologie, soweit sie in einem neuen Reduktionismus menschliches Verhalten auf materielle Grundlagen – Gene oder neuronale Systeme – zurückführt und so von Willensfreiheit nichts mehr wissen will, verzichtet hingegen auf die positive Fiktivbewertung. So finden wir bei G. Vollmer in einem visionär gemeinten Vorgriff auf die Entwicklung der nächsten „Jahrhundertwissenschaft“ die offenbar von entsprechenden Hoffnungen getragene Prognose: „Der dualistisch verstandene Geist oder die unsterbliche Seele werden noch mehr in Wohnungsnot geraten; vor allem aber dürfte sich die Willensfreiheit, auf die wir uns so viel einbilden, als Illusion erweisen“ (Vollmer 1999, 287). Dass Theorien der Moral, die sich statt an der geisteswissenschaftlichen Tradition an der Evolutionstheorie ausrichten, nicht eo ipso in einen solchen Reduktionismus verfallen müssen, zeigt K. Dehner, der vom evolutionsbiologischen Menschenbild sagt: „Denn dieses geht ja nicht davon aus, daß der Mensch durch seine genetischen Informationen determiniert ist; vielmehr rechnet es damit, daß er aufgrund seiner Reflexions- und Entscheidungsfähigkeit Freiheit erlangen kann“ (Dehner 1998, 78).

Selbstentfaltung, Autonomie und Freiheit hängen eng miteinander zusammen und gehören nach dem hier leitenden Verständnis zum Kern der pluralistischen Gesellschaft. Wer sie beseitigen will oder sie für eine Selbsttäuschung des Bewusstseins hält, der wird auch mit der Aufhebung der pluralistischen Gesellschaft rechnen oder diese für eine politische Selbsttäuschung halten müssen.

Nun kann man versuchen, dieser Konsequenz dadurch auszuweichen, dass man zwischen Willensfreiheit und Handlungsfreiheit unterscheidet. Vollmer spricht ja in dem zitierten Text nicht direkt von der Handlungs-, sondern von Willensfreiheit. Handlungsfreiheit wäre dann „das Vermögen, seinem Willen entsprechend zu handeln“ (Steinvorth 1994, 267), eine Aussage über die Freiheit des Willens wäre damit nicht direkt verbunden. Die Situation wäre dann also möglicherweise die, dass unser Wille unbemerkt inneren und äußeren manipulierenden Faktoren unterläge, während die Handlungsfreiheit einfach darin bestünde, das zu tun, was wir tun wollen. Frei im Handeln bin ich demnach also z.B. dann, wenn ich bei einer Wahl mein Kreuz ohne Behinderung von außen so setzen kann, wie mein Wille es zuvor beschlossen hat. Der Wille selbst hingegen könnte theoretisch durch viele Faktoren determiniert sein: geschickte Wahlpropaganda, Sozialisationsprozesse in früher Kindheit, neuronale Systeme, genetische Grundlagen. Man könnte dann z.B. die politische Struktur der pluralistischen Gesellschaft mit dem Argument verteidigen, dass politische Wahlen zur Handlungsfreiheit gehören, die in monistisch-diktatorischen Systemen eben nicht gegeben sei.

Als Verteidigung der pluralistischen Gesellschaft ist dieses Argument jedoch nicht hinreichend. Das sieht man schon daran, dass der Ausschluss der Willensfreiheit genau in die Probleme hineinführt, die eine pluralistische Gesellschaft lösen oder in ihren Auswirkungen zumindest mindern will. Jedem Werbepsychologen ist klar, dass das Ziel der Handlungsbeeinflussung am ehesten über eine Willensbeeinflussung erreichbar ist. Ist der Wille nicht frei, so kann diese Beeinflussung nur eine Determination bzw. Manipulation sein. Eben dies ist die gesellschaftliche Konsequenz einer geistigen Abschaffung der Willensfreiheit: Ist der Wille des Einzelnen auf jeden Fall determiniert, so ist die Willensfreiheit kein Wert und gezielte Manipulationen treten an ihre Stelle. Wenn es nur noch darum geht, dass die Menschen das tun können, was sie tun wollen, der Wille selbst aber nicht frei ist, so ist nicht einzusehen, was gegen den Zustand spricht, in den George Orwell seinen Helden Winston Smith am Schluss seines Romans ›1984‹ kommen lässt. Winston Smith scheint es nach einer intensiven Gehirnwäsche bekanntlich so, als habe er „den Sieg über sich selbst errungen. Er liebte den Großen Bruder.“

Darüber hinaus stellt die oben genannte Differenz zwischen Handlungs-und Willensfreiheit eine willkürliche Verengung des Begriffs der menschlichen Handlung dar. Zur menschlichen Handlung gehört nicht nur die schließliche Ausführung, die Setzung von äußeren Fakten bzw. das äußerlich beobachtbare „Verhalten“ z.B. in Form der Zeichnung eines Kreuzes an einer bestimmten Stelle. Zu dieser Handlung gehört auch die Planung, d.h. der Beschluss des Willens, das Kreuz an dieser Stelle zu setzen; dazu wiederum gehört die Beschaffung der Informationen, die abzuwägen sind und in den Willensentschluss eingehen; es gehört dazu u.U. der Widerstand gegen Überredungs- und Manipulationsversuche in andere politische Richtungen; und es gehört schließlich dazu der Gang zum Wahllokal, der ständig von der ursprünglichen Willensentscheidung getragen ist. Der Handlungsplan, zu dem auch die Zielsetzung gehört, ist ein unabtrennbarer Teil der menschlichen Handlung, sodass schon von daher die Annahme einer Handlungsfreiheit bei gleichzeitiger Willensdetermination einen inneren Widerspruch darstellt. Der Hiatus zwischen „Reiz“ und „Reaktion“, der durch diese vor-exekutive Handlungsphase ausgefüllt wird, ist eben so beschaffen, dass die „Reaktion“ in Wirklichkeit gar keine Reaktion mehr ist. Übersieht man dies, so übersieht man auch bei der Beschreibung der menschlichen Handlung das spezifisch Menschliche, was doch gerade für die Evolutionsbiologie ein fatales Ergebnis wäre (vgl. Treml 1999, 185).

Dagegen kann man einwenden, die ganze Frage sei nicht normativ, sondern deskriptiv zu entscheiden: Wenn der Mensch in seinem Willen und damit auch in seinen Handlungen nicht frei sei, dann könnten ihn gute Wünsche und die Beschwörung der fatalen Konsequenzen auch nicht dazu machen.

Dieser Einwand kann sich etwa des folgenden Vergleichs bedienen: Der Mensch möchte gerne frei sein, ebenso wie er vieles andere gerne möchte, z. B. fliegen wie ein Vogel. Ebenso wenig wie der Hinweis auf die negativen Folgen der Unfähigkeit zu fliegen etwas an dieser Unfähigkeit selbst ändert, ändert der Hinweis darauf, dass mit der Unfreiheit gewisse Risiken gegeben sind, etwas an dieser Unfreiheit selbst. Kommt man mit einer normativen Argumentation zugunsten der Willensfreiheit nicht zu der Konsequenz, über die schon Wilhelm Busch spottet: „dass nicht sein kann, was nicht sein darf“?

Man übersieht dabei jedoch, dass sich das menschliche Selbstverständnis eben nicht wie eine Luftblase an der Peripherie eines objektiven menschlichen Wesens mit genau identifizierbaren Eigenschaften bildet, sondern dass es als dynamisches Prinzip selbst zum menschlichen Wesen gehört. Insofern haben Selbstdefinitionen des Menschen immer auch den Charakter von „self-fulfilling prophecies“. Freiheit und Unfreiheit sind, wenn nicht Möglichkeiten des menschlichen Wesens, so doch Möglichkeiten des menschlichen Lebens, und eine Gesellschaft, die die Willensfreiheit nicht hoch schätzt, weil sie den menschlichen Willen als unfrei erkannt zu haben glaubt, wird auch auf Handlungsfreiheit und Verantwortlichkeit (vgl. Steinvorth 1994, 268) verzichten und schließlich ihre Freiheit selbst verlieren. Dass dieses Selbstverständnis ein temporäres ist, welches die Freiheit nur unterdrücken, aber nicht völlig zum Verschwinden bringen kann, sodass sie eines Tages wieder ins Bewusstsein und auch nach außen dringen wird, ist da ein eher schwacher Trost. „Was für eine Philosophie man wähle, hängt sonach davon ab, was man für ein Mensch ist“, schrieb einst J. G. Fichte. Das ist zweifellos richtig – aber nur unter der Voraussetzung, dass auch das Umgekehrte gilt.

Nach alledem ist die Frage, ob der Mensch frei sei oder nicht, keine Frage eines theoretischen oder empirischen Beweises. Dass alle Versuche vergeblich sind, die Freiheit des Willens philosophisch oder naturwissenschaftlich zu beweisen, hat bereits Kant dargelegt, indem er in der ›Antinomie der reinen Vernunft‹ zunächst einen „Beweis“ für die Freiheit des Willens vorlegte und diesen sodann durch die Gegenposition „widerlegte“ (Kant, Kritik der reinen Vernunft 1983, 426 ff.). Es handelt sich für Kant dabei um ein „dialektisches Spiel“, welches in Wahrheit weder etwas beweist noch widerlegt. Bei „Beweis“ und „Widerlegung“ handelt es sich um Denkebenen, die mit dem „praktischen“ Begriff der Freiheit nichts zu tun haben: „Denn woher mir ursprünglich der Zustand, in welchem ich jetzt handeln soll, gekommen sei, kann mir ganz gleichgültig sein; ich frage nur, was ich nun zu tun habe, und da ist die Freiheit eine notwendige praktische Voraussetzung und eine Idee, unter der ich allein Gebote der Vernunft als gültig ansehen kann.“ Auch der Fatalist müsse jederzeit so handeln, „als ob er frei wäre“ (Kant, Rezension 1983, 777). Es ist möglich, dass Kant mit der Formulierung „als ob“ dem Eindruck Vorschub geleistet hat, die Freiheit sei nichts weiter als eine Illusion. In Wirklichkeit aber ist die Freiheit für ihn eine Realität, an der auch der theoretische Fatalist oder Determinist nicht vorbei kann, sodass er als praktisch Handelnder sich so verhält, als ob es diese theoretische Position gar nicht gäbe.

Moral und Erziehung in der pluralistischen Gesellschaft

Подняться наверх