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Einleitung: Kein Trost, nirgends?

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Wer wie ich dem tödlichen Inferno des Zweiten Weltkriegs (meine erste Kindheitserinnerung sind die Bombenangriffe auf Hamburg 1944) entronnen ist und sehr lange in Friedenszeiten gelebt hat, könnte mit dem Trost diese Welt verlassen, nicht nur, dass es ihm gut ergangen ist sondern auch, dass es in der Welt doch besser geworden ist. Aber es hat in meinem Leben von dem Moment an, als ich bewusst die Erfahrung des Todes anderer Menschen (angefangen bei dem frühen Tod meiner Mutter) machte und besonders mit dem gewaltsamen Tod anderer Menschen in Vergangenheit und Gegenwart konfrontiert wurde, einen Impuls des Protests, aber auch den Wunsch nach Trost, gegeben. Diese Erfahrungen fremden Leids konnten einen nicht zur Ruhe kommen lassen. Niemals in Ruhe lassen konnten mich die sechs Millionen Toten der Shoah. Jede Lektüre eines Buchs über die Verfolgung und Ermordung der Juden Europas, jeder Besuch einer Gedenkstätte in einem ehemaligen KZ beunruhigte mich zutiefst und provozierte immer die Frage, wie konnte das ein einem zivilisierten Land wie Deutschland geschehen. Es war ja mein Land, auf das ich trotz allem wegen seiner großen Kultur und technischen Errungenschaften stolz war. Wieso haben meine Eltern und Verwandten das hingenommen, fing ich an zu fragen. Sollte ich ihnen glauben, dass sie nichts davon wussten? Als ich in Yad Vashem in den weiten dunklen Raum mit den gespiegelten fünf Lichtern trat, der an die etwa eineinhalb Millionen von den Nazis getöteten Kinder erinnerte, ihre Namen wurden leise verlesen, war es ein schmerzlicher und zugleich tröstlicher Moment. Ihr Andenken ist nicht vergessen, immer wieder werden ihre Namen genannt. Wie ich hätten sie noch leben können, denn die Jüngsten waren in meinem Alter. Sie wurden ausgelöscht, aber sie werden erinnert. Das ist auch ein Trost. Der Trost des Gedenkens.

Nicht in Ruhe lassen mich auch die 60 Millionen Opfer des Zweiten Weltkriegs, besonders die 5,6 Millionen polnischen Opfer und die 23 Millionen Toten der Sowjetunion als Folge des deutschen Vernichtungskriegs. Und die Toten der Kriege danach, Korea, Nahost, Vietnam, Afghanistan, Irak u.a., außerdem Naturkatastrophen wie der Tsunami in Südostasien 2004 mit 230 000 Toten und das Erdbeben auf Haiti mit seinen über 300 000 Toten 2010, die vielen Toten infolge der Flüchtlingsbewegungen, die Ertrunkenen im Mittelmeer. Während meines langen Lebens wurde ich ständig mit dem Tod an anderen Orten konfrontiert. Immer habe ich versucht innezuhalten und der Opfer zu gedenken. Das war mir gerade als Theologe wichtig. Ist doch Gott ein Name für das Gedenken und die Kirche ein Ort, wo das geschehen kann (aber nicht mit revanchistischen Kriegerdenkmälern!). Gegenwärtig sind es die Toten der Corona-Pandemie, die Trauer und Betroffenheit hervorrufen. 4,5 Millionen weltweit, 92 500 in Deutschland. Das sind alles bedrängende Zahlen, die einen billigen Trost ausschließen.

„Kein Trost, nirgends“ (in Abwandlung eines Romantitels von Christa Wolf) ist man versucht, angesichts dieses ungeheuren Leidens auszurufen. Aber ich habe ein Fragezeichen dahinter gesetzt. Was bedeutet dieses Fragezeichen? Als Kinder wurden wir mit der Auskunft getröstet, dass die verstorbene Großmutter als Stern am Himmel leuchtet und uns begleitet. Die fromme Lüge habe selbst ich als kritischer Theologe noch angewandt, als die Kinder nach ihrem verstorbenen Opa fragten.

Wir glauben daran und hoffen darauf, dass die Toten, die in ihrem Leben an Gott glaubten, jetzt bei Gott aufgehoben sind, wäre eine erwachsene Antwort auf die Frage. Doch insgesamt haben die tröstlichen Antworten der großen Religionen an Überzeugungskraft verloren. Das Versprechen einer Existenz im Himmel als Entschädigung für ein elendes Erdenleben überzeugt nicht mehr viele. Zudem sind Jenseitsversprechen durch ihre Pervertierung bei Selbstmordattentätern in Misskredit geraten – wer möchte schon in einem Paradies zusammen mit Attentätern fortexistieren, die hunderte auf dem Gewissen haben. Die Menschheitsgeschichte ist immer noch die Schlachtbank, auf der Millionen geopfert werden. Es gibt leider nicht den Trost, dass es gewiss anders wird und die Menschheit in Kürze lernt, ihre Konflikte friedlich zu lösen. Oder dass Naturkatastrophen ausbleiben, selbst wenn wir jetzt drastische Maßnahmen gegen den Klimawandel auf den Weg bringen. Trotzdem, das Fragezeichen hinter „Kein Trost, nirgends“ ist berechtigt, weil es den Trost des Gedenkens an die sinnlos Gemordeten gibt und die starke Hoffnung, dass die Täter letztlich nicht über die Opfer siegen. Die Geschichte ist für die Opfer nicht abgeschlossen, sagte Walter Benjamin.

Ich habe in den letzten zehn Jahren mich immer wieder mit Fragen des Sterbens, des Erinnerns und Gedenkens in der Literatur und in der Gesellschaft beschäftigt. Als Kind der Täter-und Mitläufer-Generation und als zoon politikon fühlte ich mich dazu ein Leben lang verpflichtet. Und als Christ ist für mich das Gedächtnis der Leidenden, die Memoria passionis, bindend. Ich frage also: Wie geht Literatur mit dem unerbittlichen Faktum des Todes als Auslöschung der Identität um? Kann man der infolge vernichtender Gewalt Getöteten gedenken, ohne aufzurechnen? Wie kann Gedenken dauerhaft sein, ohne zum leeren Ritual zu werden? Gibt es neben dem Gedenken auch die Möglichkeit des Vergebens und Vergessens? Schließlich: Was hat das Christentum heute noch für ein Trostpotential? Trost als verwandelnde Kraft im Diesseits und nicht mehr als Vertröstung? So stelle ich in diesem Büchlein Texte zusammen, die sich dem Thema Gedenken und Vergessen, Sterben und Trost stellen, in der Hoffnung, sie können ausgehend vom Memento mori und der Memoria passionis die Lebenskräfte stärken.

Kein Trost, nirgends?

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