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„Auch mich, den Tod, gibt es in Arkadien.“ Die neue Aktualität des Memento Mori- Gedankens infolge der Corona-Pandemie

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„Memento Mori.“ Sei dir deiner Sterblichkeit bewusst. Denke daran, dass du sterben musst. Man findet diesen mittelalterlichen Spruch heute gelegentlich noch auf Grabsteinen, auf Gemälden, aber auch an öffentlichen Gebäuden. Im Mittelalter war er Ausdruck der von dem Kloster Cluny ausgehenden monastischen Reformbewegung, die die Reinigung von allem Weltlichen in den Klöstern und die Vorbereitung auf den Tod und das Jüngste Gericht ins Zentrum des Glaubens stellte. Ab der Mitte des 14. Jahrhunderts führte das pandemische Auftreten der Pest, dem die damalige Menschheit hilflos gegenüberstand, aber nur begrenzt zu einer Verstärkung des Memento Mori-Gedankens.1 Trotzdem nahmen Totentanzdarstellungen zu. Sie zeigten den Tod als Gerippe-Spielmann mit Geige, der die Menschen ohne Unterschied zum letzten Tanz holt, den Bettler wie den König. Das Motiv fand großartige bildliche Darstellungen unter anderem auch im Ostseeraum (man denke an den im Zweiten Weltkrieg zerstörten Lübecker Totentanz von Bernd Notke). Auch Pestsäulen erinnern bis heute an diese Seuchenzeiten. Gleichzeitig entstand, die Totenmusik des Requiems mit dem Dies Irae, die allerdings erst Ende des 18. Jahrhunderts, als der Glaube an das Jüngste Gericht schon geschwunden war, große Kompositionen aus sich heraussetzte. Der Vergänglichkeitsgedanke Vanitas vanitarum fand im Barock zur Zeit des Dreißigjährigen Kriegs in Kunst und Literatur noch einmal große Verbreitung. Auf Gemälden Guercinos und Poussins stehen Hirten betroffen vor einem Totenkopf bzw. vor einem antiken Grabmal in der schönsten Landschaft, auf dem „Et in arcadia ego“ zu lesen ist–auch mich, den Tod, gibt es in Arkadien. Doch schon am Ende des 18. Jahrhunderts geriet die Darstellung des Sensenmanns außer Mode (mit der Ausnahme von Matthias Claudius, der ihn „Freund Hain“ nannte). Die Menschheit witterte dank medizinischer und technischer Fortschritte Morgenluft. Die Lebenszeit verlängert sich schon Ende des 19. Jahrhunderts. Das tat sie auch im 20. Jahrhundert trotz seiner schrecklichen Kriege und Völkermorde mit Abermillionen Opfern. Vollends im 21. Jahrhundert ist das Genieße das immer längere Leben, das carpe diem zum bestimmenden Motto der Wohlstands- und Erlebnisgesellschaft geworden (mit den bekannten sozialen Unterschieden zwischen Nord und Süd). Auch wollen immer mehr Menschen nicht mehr daran erinnert werden, dass der Tod „ein Meister aus Deutschland“ ist, dass es für Millionen ermordeter Juden nur ein „Grab in den Lüften gab“. Das Auschwitz-Gedenken wurde von einem Friedenspreisträger des deutschen Buchhandels sogar als Moralkeule diskreditiert.

Und das ging so, bis die Corona-Pandemie ausgehend von China alle Länder der Welt erfasste. In Zahlen ausgedrückt: Am 26. 8. 2021 gab es weltweit 212 884 693 bestätigte Infektionen und 4 447 120 Tote. In der Bundesrepublik 3 877 612 bestätigte Infektionen und 92 022 an und mit Corona Gestorbene. Aber auch 53 405 091 Geimpfte. An dem Tag, an dem ich dies schreibe, liegt die Siebentag-Inzidenz je 100 000 Einwohner bei 58,0. Das öffentliche Leben hat sich weitgehend normalisiert. An den Wochenenden mit schönem Wetter waren die Seen und ihre Ufer ebenso überfüllt wie die Restaurants und Cafés.

Das Memento Mori, sprich die Erinnerung an die Infektionsgefahr von Seiten der vorsichtigen Epidemiologen und Politiker, die vor neuen Varianten des Virus (Delta) warnten, wurde nicht gerne gehört. Die im Fernsehen ständig wiederholten Bilder von den Intensivstationen, in denen Corona-Infizierte während des zweiten und dritten Lockdowns um ihr Leben kämpften, sind weniger geworden. Fast vergessen sind die Fotos der Militärlaster mit den Särgen der Corona-Toten von Bergamo im März 2020. Immerhin gemahnen die täglichen Tabellen mit der Erwähnung der an Covid-19 Verstorbenen in der sommerlichen Freizeitgesellschaft weiter an das „Et in arcadia ego“.

Ein Freund (Martin Cordes aus Hannover) schrieb mir vor über einem Jahr im April 2020 prophetisch ausgreifend: „Die Menschheit ist offensichtlich jetzt so herangereift, dass sie die Pandemie meistern kann. Sie ist nicht mehr dem Untergang geweiht, sondern kann das Unglück bewältigen. Sie kann anders als die Dinos sich wehren – aber erst jetzt, vorher wütete die Pest ungebremst. Macht euch die Erde untertan würde dann bedeuten, euch wachsen auch ungeahnte Kräfte zu. Die intelligenten und geistbegabten Menschen entdecken und schaffen Gegenmittel.“ Ja, so kann man es mit einer Prise sarkastischem Optimismus sehen. Da ist einerseits trotz des priesterschriftlichen „Siehe, es war sehr gut“ die unfertige Schöpfung mit ihren Katastrophen infolge der Verschiebung der Kontinentalplatten, mit Erdbeben, Tsunamis, Vulkanausbrüchen und den Folgen der Klimaerwärmung. Andererseits die Gefährdung durch seuchenartige Krankheiten, die aus mangelnder Hygiene und unvorsichtigem Umgang in der Massentierhaltung entstehen. Diese Gefahren werden bleiben. Kein Gott kann daran etwas ändern. Aber die Jahrtausende alte Hilflosigkeit des Menschen gegenüber Pandemien wie die im 14. Jahrhundert auftretende Pest (von China nach Europa brauchte sie zehn Jahre!), die die Bevölkerung Europas um ein Drittel dezimierte oder vor 100 Jahren noch die Spanische Grippe mit 50 Millionen Toten, ist weitgehend überwunden. Selbst gegen die zoonotischen Infektionen, die sich von den Wildtiermärkten infolge der fortgeschrittenen Globalisierung schnell ausbreiten (Sars, Covid-19), entwickeln moderne Wissenschaft und Medizin Gegenmittel. Ja, es gibt schon 4,5 Millionen Tote weltweit, das ist schrecklich und immer noch wütet Corona in den Ländern und Kontinenten, die nicht so große medizinische Möglichkeiten haben, das Virus durch Impfen einzudämmen. Trotzdem – in the long run, so scheint es jedenfalls, ist die Corona-Pandemie trotz der Entstehung neuer Viren beherrschbar. Es gibt Gegenmittel, Schutzmasken, Tests und Beatmung auf Intensivstationen in den Krankenhäusern. Vor allem gibt es die Impfstoffe Biontech, Astra Zeneca und Moderna, die seit Beginn des Jahres 2021 zum Einsatz kommen, vor Ansteckung schützen können und mildere Verläufe der Infektion ermöglichen. Auch ich bin inzwischen zwei Mal geimpft, und ich muss gestehen, dass mich das sehr erleichtert und aus einer zeitweilig depressiven Phase herausgeholt hat. In nur einem knappen Jahr wurden diese Impfstoffe entwickelt, geprüft und zur Anwendung gebracht (auch wenn sich leider! längst nicht alle impfen lassen wollen). Merkwürdig genug – die traurige Geschichte der Pestilenzen mit ihren Millionen Opfern stellt zugleich den Trost bereit: Die Menschheit hat es überlebt. (So Yuval Noah Harari in der SZ vom 17. 4. 2020) Das macht die Opfer nicht wieder lebendig. Die Hunderttausende von Aids-Waisen in Afrika werden durch diese Auskunft nicht getröstet. So ist es auch jetzt, wenn Enkel ihre Großeltern durch Covid-19 verlieren, wenn jüngere und mittelalte Menschen sterben und nicht wenige nach überstandener Infektion trotzdem an „Long Covid“ leiden. Wie soll man sie trösten? Wie den Glauben an einen barmherzigen Gott bewahren?

Wir müssen in der Moderne so handeln, als ob es Gott nicht gäbe, etsi deus non daretur, hat Dietrich Bonhoeffer 1944 unter Beziehung auf Hugo Grotius formuliert. Deutlich gesagt: Es gibt keinen direkt in Natur und Geschichte eingreifenden rettenden Gott, keinen Gott, der die Pandemie verhindern oder begrenzen kann. (Und schon gar nicht einen Gott, der durch Naturkatastrophen und Unglücksfälle die Menschen erziehen und strafen will, wie manche Fundamentalisten auch jetzt wieder behaupten). In der Natur treten Lebewesen wie die sich vermehrenden Viren auf, die aufs Überleben hin optimiert sind und die für den Menschen gefährliche Mutationen durchlaufen. Auch wenn unsere technischen und wissenschaftlichen Fähigkeiten gewachsen sind, wir haben die Zukunft nicht im Griff. Sie ist unverfügbar.

Als Theologie und Kirche müssen wir zugeben: Gott kann nicht eingreifen. Aber das macht Gebete nicht überflüssig. Sie bringen Klagen und Überforderungen expressiv vor Gott. „Herr, was tust du?“, ruft Jakob aus, als Rahel bei der Geburt Benjamins stirbt. „In solchen Fällen erfolgt keine Antwort“, heißt es in Thomas Manns Roman Joseph und seine Brüder weiter. „Aber der Ruhm der Menschenseele ist es, daß sie durch dieses Schweigen nicht an Gott irre wird, sondern die Majestät des Unbegreiflichen zu erfassen und daran zu wachsen vermag.“ Ähnlich hat es der islamische Mystiker Rumi gesagt: „Die Antwort liegt im Schrei“. Noch mal: Der eingreifende Gott ist lange tot. Aber es ‚gibt‘ Gott als Beziehungskraft. Als Christen sollen wir den Glauben an den Gott, der sagt, meine Kraft ist den Schwachen mächtig, nicht aufgeben. Gerade in schwierigen Zeiten nicht, wo hunderttausende an Covid-19 sterben. Auch wenn Gott nicht eingreift ins Naturgeschehen, so kann er doch eine stärkende Beziehungsmacht sein. Die Pandemie ist eine Erinnerung an das Unverfügbare vor allem in dem Sinn, dass dieser Glaube den Menschen trotz aller Schwierigkeiten in seinem Kampf um Rettung stärken kann. Auch die Kranken und ihre Angehörigen, die ÄrztInnen und PflegerInnen, die ForscherInnen und PolitikerInnen, die VerkäuferInnen und andere sogenannte ‚systemrelevante‘ Gruppen. Dass dies Unverfügbare den Menschen zwar demütig, aber nicht resignativ macht, wie das in Pestzeiten oder zur Zeit der Spanischen Grippe vor 100 Jahren noch der Fall war. Und dass der Grundsatz antiselektiver Rettung, der den barmherzigen Gottesgedanken seit dem Exodus der israelischen Sklaven aus Ägypten begleitet, in den ethischen Debatten um die harten Maßnahmen in der Corona-Pandemie weiter zur Geltung kommt. Denn wie sonst könnte eine Kanzlerin eine ganze Gesellschaft dazu auffordern, einen harten Lockdown mitzutragen, um die besonders gefährdeten Großeltern vor Ansteckung durch das Virus zu schützen?! Die Schwachen zuerst schützen! Ja, und schließlich darf dann auch der Gott, der nach dem Zeugnis der Offenbarung am Ende die Tränen abwischt, zitiert werden als letzter Trost für die, die in diesem Kampf noch zu Opfern wurden und für ihre Angehörigen.

Kein Trost, nirgends?

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