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„Mit dem letzten (deportierten) Juden verschwindet auch das Christentum aus Deutschland.“ Elisabeth Schmitz’ mutiges Eintreten für die Juden und das Versagen der Kirche

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An jedem Sonntag der schrecklichen zwölf Jahre von 1933 bis 1945 wurde in zehntausenden katholischer und evangelischer Gemeinden Gottesdienste gehalten. Es wurde gepredigt, gesungen, das Abendmahl gefeiert, gebetet, getröstet, ermahnt. Diese Gottesdienste blieben, von der Machtübernahme im Januar 1933 bis zum Kriegsende im Mai 1945, als viele Kirchen zerstört und die Pfarrer oft an der Front waren, die größte nicht nazistische Öffentlichkeitsveranstaltung, die das gleichgeschaltete Dritte Reich kannte. Doch diese massenhafte Predigt bewirkte offensichtlich unter den Christen keine Bereitschaft zum Protest gegen die verbrecherische Politik der Nationalsozialisten. Und es gab nur wenige Ausnahmen von der eher unpolitischen Tendenz dieser Predigten – ich nenne die Predigt des württembergischen Pfarrers von Jan nach der Reichspogromnacht 1938, der inhaftiert wurde und ein Predigtverbot erhielt, und die des Lübecker Pastors Karl Friedrich Stellbrink, der am Palmsonntag 1942 die verheerenden Bombenangriffe auf Lübeck als „Gottesgericht“ bezeichnete, inhaftiert und 1943 mit drei katholischen Kaplänen in Hamburg ermordet wurde1. Weder die Errichtung von Konzentrationslagern für politische Gegner noch die sich ständig steigernde Ausgrenzung der jüdischen Mitbürger aus dem gesellschaftlichen Leben von 1933 bis 1938 wurden von den Kanzeln oder von den Kirchenleitungen als mit dem christlichen Glauben unvereinbar kritisiert. Die Pastoren und die Bischöfe schwiegen. Aber das nicht, weil diese Ausgrenzungspolitik nicht bekannt war. Zunächst mit dem Arierparagraphen, dem Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums und dann mit den Nürnberger Rassegesetzen wurden die jüdischen MitbürgerInnen in Deutschland in aller Öffentlichkeit ausgegrenzt und diskriminiert. Es gab 1933 den Boykott jüdischer Geschäfte. Es gab 1935 eine schlimme Welle antisemitischer Aktionen. Und spätestens im November 1938 in der sog. Reichskristallnacht hätte jeder ‚Volksgenosse‘ die mörderische Bereitschaft der Nazis erkennen können. 1400 Synagogen wurden angesteckt und zerstört, 7500 Geschäfte demoliert, hunderte von Juden umgebracht und siebenundzwanzigtausend jüdische Männer in Konzentrationslager deportiert. Hitler erklärte im Januar 1939 im Reichstag: „Wenn es dem internationalen Finanzjudentum in und außerhalb Europas noch einmal gelingen sollte, die Völker in einen Weltkrieg zu stürzen, dann wird das Ergebnis nicht die Bolschewisierung der Erde und damit der Sieg des Judentums sein, sondern die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa.“ Nach dem Überfall auf Polen sagte Hitler in einer öffentlichen Rede: „Dieser Kampf wird mit der Ausrottung des Judentums in Europa sein Ende finden.“2

Hitlers Absicht der Judenvernichtung, die dann im Januar 1942 mit der Wannseekonferenz von der Naziführung organisatorisch in die Wege geleitet wurde, war also den Bischöfen und Pastoren der Kirchen wie den Gemeindemitgliedern bekannt. Trotzdem hat sich bis auf einzelne Ausnahmen die christliche Bevölkerung Deutschlands mit dem Mordregime abgefunden. Auch die Bekennende Kirche hat nach anfänglichem Protest vor allem versucht ihren Bestand zu retten und ist öffentlich nicht für die verfolgten Juden eingetreten. Immerhin verhalf die 1938 im Auftrag der Bekennenden Kirche gegründete Hilfsstelle für Nichtarier mit christlicher Taufe, das sogenannte Büro Grüber, ca. 2000 Juden in Zusammenarbeit mit den regionalen Hilfsstellen zur Auswanderung3. Nach Grübers Verhaftung 1940, seiner Einlieferung in das KZ Sachsenhausen und der Schließung des Büros konnte die von der Wohlfahrtsabteilung geleistete Hilfe nur noch im Untergrund und beschränkt durchgeführt werden. Es gab aber weiter einzelne Christen mit „ungewöhnlicher Zivilcourage“, vor allem Frauen, die auch danach „Mut und Phantasie bei der Rettung jüdischer Frauen und Kinder bewiesen.“4

Man schaute weg, weil man es nicht sehen wollte. Eine, die genau hingeschaut hat und was sie sah, dokumentierte, war die Berliner Lehrerin Elisabeth Schmitz. Eine liberale Protestantin, 1893 in Hanau geboren, die bei Ernst von Harnack in Berlin studierte und bei dem Historiker Friedrich Meinecke promovierte, war seit 1929 im Höheren Schuldienst und mit Juden befreundet. Als große Teile der evangelischen Kirchen mit ihrem völkischen Protestantismus die Machtergreifung durch Hitler begeistert begrüßen, ist sie entsetzt. 1934 schließt sie sich der Bekennenden Kirche an, die das Führerprinzip und die Anbetung von Rasse und Volk in ihrem Barmer Bekenntnis im Mai 1934 entschieden ablehnt, aber kein Wort zu den Judenverfolgungen sagt. An ihrer nichtarischen Freundin, der evangelisch getauften Ärztin Martha Kassel, mit der sie eine Zeitlang zusammen wohnt, bis es ihr verboten wird, erlebt sie hautnah das Geschehen der Ausgrenzung jüdischer Mitbürgerinnen. Dagegen muss die Kirche doch ihre Stimme erheben, denkt sie und wird aktiv. Sie beschwört wichtige Kirchenführer und Theologen wie Karl Barth, Friedrich von Bodelschwingh, Martin Niemöller und Walter Künneth in eindringlichen Briefen, gegen Unrecht und Verfolgung besonders der Juden öffentlich aufzutreten. An den bekannten Theologieprofessor Karl Barth schreibt sie Anfang 1934: „Sollten die Gesetze, so wie sie heute sind, längere Zeit bestehen bleiben, so würde das das glatte Todesurteil bedeuten für hunderttausende, vielleicht für Millionen.“5 Doch ihre Warnungen sind vergeblich. So entschließt sie sich, als im Juli 1935 eine neue antisemitische Welle mit fast pogromhaften Zügen durch Deutschland geht, eine Denkschrift „Zur Lage der deutschen Nichtarier“ zu verfassen und anonym in mehreren Exemplaren zirkulieren zu lassen. Zu diesem Zweck schafft sie sich eine kleine Schreibmaschine vom Typ Erika an. In dieser Denkschrift fordert sie ein öffentliches Eintreten der Bekennenden Kirche für die Juden. Sie schildert die „innere Not“ der verfolgten Juden, dann ihre „äußere Not“ und fragt schließlich nach der „Stellung der Kirche“ dazu: „Was soll man antworten auf all die verzweifelten Bitten, Fragen und Anklagen? Warum tut die Kirche nichts? Warum läßt sie das namenlose Unrecht geschehen? Wie kann sie immer wieder freudige Bekenntnisse zum nationalsozialistischen Staat ablegen, die doch politische Bekenntnisse sind und sich gegen das Leben eines Teils ihrer Mitglieder richten? Warum schützt sie nicht wenigstens die Kinder? Sollte denn alles das, was mit der heute so verachteten Humanität schlechterdings unvereinbar ist, mit dem Christentum vereinbar sein?“ Ausdrücklich verurteilt sie den theologischen Antijudaismus, der in der Verfolgung und Ausgrenzung der Juden meint, dem Judentum das Gericht und die Gnade Gottes verkündigen zu können: „Seit wann ist es etwas anderes als Gotteslästerung zu behaupten, es sei der Wille Gottes, daß wir Unrecht tun?“6 Eine Zeitlang wurde vermutet, dass ihr Text der dritten altpreußischen Bekenntnis-Synode in Berlin-Steglitz im September 1935 übergeben, aber nicht behandelt worden sei. Doch das ist inzwischen zweifelhaft.7 Vermutlich kursierte das anonyme Papier zunächst nur in wenigen Exemplaren. Aber es gibt wieder keine öffentliche Reaktion der Bekennenden Kirche (BK).

Schmitz entschließt sich, weiteres Material zu sammeln und die um einen Nachtrag, „Folgen der Nürnberger Gesetze“, erweiterte Denkschrift im Mai 1936 erneut unter die Leute zu bringen. In der Zwischenzeit hatte sie einen Vervielfältigungsapparat erworben. Diesmal schrieb sie den Text auf Matrizen und stellte eigenhändig 200 Exemplare her, die sie an wichtige Personen wie den BK-Pfarrer Wilhelm Niesel, an die Vorläufige Leitung der BK und an die Provinzialbruderräte schickt. Aus einem Bericht der Londoner Times übernimmt sie den Begriff „cold Pogrom“ und belegt dieses kalte Pogrom durch den Hinweis, dass es inzwischen in den jüdischen Gemeinden zwischen Sterbefällen und Geburten ein Verhältnis von sechs zu eins gebe.8 Sie betreibt diese nicht ungefährliche Aufklärungsarbeit in einer gleichgeschalteten Öffentlichkeit, weil sie, wie sie gegenüber Karl Barth formuliert, erreichen möchte, „dass die Kirche anerkennt, daß es sich um ein Gebiet handelt, das sie angeht.“ Ihre Aktivitäten in den ersten fünf Jahren des NS-Regimes zusammenfassend, formuliert ihr Biograph Manfred Gailus: „Da der Verfolgungsdruck wuchs und von der Kirche wenig geschah, fasste sie den einsamen Entschluss, die Denkschrift zu schreiben, um aufzuklären und aufzurütteln. Diese Schrift war eine mutige Tat: der Text selbst, die Schreibmaschine, die Anschaffung des Vervielfältigungsapparats, die riskante Verteilung der hochbrisanten Flugschrift an mehr als ein Dutzend Stellen, das Abziehen von 200 Exemplaren, der Berg subversiven Papiers in der eigenen Wohnung. Die christlich-fromme Studienrätin in der weißen hochgeschlossenen Bluse und dem langen, grauen Faltenrock war damit zur Widerstandskämpferin geworden.“9

Der Dienst in der Schule wurde für Elisabeth Schmitz angesichts der stärker geforderten Indoktrinierung der jungen Generation immer schwieriger. Eine nichtarische Kollegin, Lottesophie Hartzfeld, brachte sich um. Kirchlich orientierte sie sich in dieser Zeit stärker zur Dahlemer Gemeinde hin, wo Martin Niemöller sonntags oft vor eintausend Zuhörern in der Jesus-Christus-Kirche predigte. Dann kam es zu einer Zuspitzung des Kirchenkampfes mit der Verhaftung Martin Niemöllers am 1. Juli 1937; als Hitlers persönlichen Gefangenen brachte man ihn in das KZ Dachau. Es ist anzunehmen, dass sich Elisabeth Schmitz an den Fürbittgottesdiensten für die inhaftierten Pfarrer der BK beteiligte. Sie trat in Kontakt mit dem inoffiziellen Nachfolger Niemöllers in Dahlem, dem jungen Pfarrer Helmut Gollwitzer, einem Barth-Schüler. Noch einmal unternimmt sie im September 1938 einen Versuch mit einem Brief-Appell an den BK-Pfarrer Niesel, „die Bekennende Kirche möge endlich über die Behandlung der Juden in Deutschland ein Wort an die Gemeinden richten.“ Sie schreibt diesen Brief vor dem Hintergrund der Sudetenkrise und der damit drohenden Kriegsgefahr. Sie mahnt: „Denn was ein Krieg für die Behandlung der Juden in Deutschland bedeuten würde, ist nicht abzusehen.“ Die Gemeinden müssten über die Verfolgung der Juden in Deutschland besser informiert werden. Sie müssten ihre Mitschuld an der Vereinsamung und Verzweiflung erkennen, denn „wir“ hätten geschwiegen, wo „wir“ hätten reden müssen, zu den Misshandlungen in den Lagern und zum Mord.10 Ein solches klares Wort, durch Unterschrift bekräftigt, wozu sie bereit sei, müsse jetzt kommen. Doch wieder kommt keine positive Reaktion von der BK. Diese war mit den Folgen der Gebetsliturgie zur Erhaltung des Friedens angesichts der Sudetenkrise beschäftigt und wollte sich nicht durch eine solche Stellungnahme zu der Verfolgung der Juden zusätzlich in Schwierigkeiten bringen. Die Ereignisse um den 9./10. November, die sie vorausgesehen hatte, versetzen Elisabeth Schmitz in schlimmste Aufregung. Sie lässt sich krankschreiben (und kehrt danach auch nicht in den Schuldienst zurück, der für sie ohnehin wegen der ihr abgeforderten nationalsozialistischen Lehrinhalte immer schwieriger geworden war.) Zugleich unternimmt sie einiges, um das Ungeheuerliche der Reichspogromnacht mit genaueren Berichten in der Kirche bekannt zu machen. In drei Briefen an den Dahlemer Pfarrer Helmut Gollwitzer versorgt sie diesen mit zusätzlichen Informationen zum minutiös geplanten Ablauf des Pogroms, die sie durch eigene Recherchen und Lektüre ausländischer Presse herausbekommen hatte. „Die Verhaftungen dauerten gestern noch an. Es wird die Zahl von 40.000 genannt. In München, Nürnberg, Breslau und wohl auch in Frankfurt a. M. scheinen alle Männer im Alter von 16–40 Jahren verhaftet zu sein.“ Sie gibt zu bedenken, dass zu einem solchen Vorgehen die Kirche nicht schweigen dürfe, sondern „sofort in allen Gemeinden Bußgottesdienste ansetzen müsste.“

Gollwitzer, der zunächst erwog, zu der Pogromnacht und ihren Folgen zu schweigen, fühlte sich durch Schmitz’ Intervention ermutigt, doch in seiner Bußtagspredigt dazu Stellung zu nehmen und ohne die Juden wörtlich zu nennen, die Aktionen des Pogroms zu verurteilen und die Mitschuld der Kirche zu benennen: „Was hat nun uns und unserm Volk und unserer Kirche all das Predigen und Predigthören genutzt die ganzen Jahre und Jahrhunderte als daß wir nun da angelangt sind, wo wir heute stehen?“ „Wir (sind) mitverhaftet in die große Schuld, daß wir schamrot werden müssen.“ An der wachsenden Grausamkeit „sind wir alle beteiligt, der eine durch die Feigheit, der andere durch Bequemlichkeit, durch das Vorübergehen, das Schweigen, das Augenzumachen (…) durch die verfluchte Vorsicht.“ Gollwitzer entließ seine Zuhörer mit den Worten: „Nun wartet draußen unser Nächster, schutzlos, ehrlos, hungernd, gejagt und getrieben von der Angst um die nackte Existenz, er wartet darauf, ob heute die Gemeinde wirklich einen Bußtag begangen hat. Jesus Christus wartet darauf. Amen.“11

Nach Gollwitzers mutiger, wenn auch die brutale Ausgrenzung der Juden nur indirekt benennender Predigt am 16. November 1938, hat Elisabeth Schmitz, sie wohnte dem Gottesdienst bei, dann noch einmal an Gollwitzer geschrieben. In diesem Brief vom 24. November stehen die Sätze, die mit Recht als prophetisch bezeichnet werden und die zu den großen Briefdokumenten im 20. Jahrhundert gehören: „Als wir zum 1. April 1933 schwiegen, als wir schwiegen zu den Stürmerkästen, zu der satanischen Hetze der Presse, zur Vergiftung der Seele des Volkes und der Jugend, zur Zerstörung der Existenzen und der Ehen durch sogenannte Gesetze – da und tausendmal sind wir schuldig geworden am 10. November 1938. Und nun? Es scheint, daß die Kirche auch dieses Mal, wo ja nun wirklich die Steine schreien, es der Einsicht und dem Mut des einzelnen Pfarrers überlässt, ob er etwas sagen will, und was.“12 „Das Wort der Kirchen ist nicht gekommen. Dafür haben wir das Grauenhafte erlebt und müssen nun weiterleben mit dem Wissen, daß wir daran schuld sind.“ „Die Presse der ganzen Welt ist voll von dieser Katastrophe, und hier hat man den Eindruck, daß sie schon jetzt, wo die zahlreichen Verhaftungen noch andauern, bei den Menschen wieder vergessen wird – auch in kirchlichen Kreisen.“ Das Gerücht darüber, dass ein Zeichen an der Kleidung der Juden vorgesehen sei, hält sie für ein schlimmes Omen. „Ich bin überzeugt, daß – sollte es dahin kommen – mit dem letzten Juden auch das Christentum aus Deutschland verschwindet. Das kann ich nicht beweisen, aber ich glaube es.“13

Anders als die meisten Deutschen während dieser ersten sechs Jahre der Hitler-Herrschaft hat Elisabeth Schmitz hingesehen und das, was sie gesehen hat, was eigentlich alle sehen konnten, wenn sie nicht wegschauten, dokumentiert, gedeutet und anderen mitgeteilt. Besonders ihrer Kirche, von der sie einen Protest gegen das schreckliche tagtägliche Geschehen der zunehmenden Ausgrenzung und schließlich der Vernichtung der Juden erwartete. „Ich bin überzeugt, daß – sollte es dahin kommen – mit dem letzten Juden auch das Christentum aus Deutschland verschwindet. Das kann ich nicht beweisen, aber ich glaube es.“ Ich halte diesen Satz der Berliner Lehrerin für eine prophetische Aussage, eine Unheilsprophetie vom Zuschnitt Jeremias. Dieser Satz‚ die Deportation des letzten Juden bedeute das Ende des Christentums, ist vor allem ein heilsgeschichtlich-theologischer Einwand. Schmitz sagt: Die von den Kirchen hingenommene Vernichtung der Juden ist das Ende des Christentums, weil es untrennbar mit dem Judentum, aus dem es stammt, verbunden ist. Eine ähnliche Aussage findet sich auch bei Dietrich Bonhoeffer, wenn er in seiner nicht fertiggestellten Ethik um 1943 formuliert: „Die abendländische Geschichte ist nach Gottes Willen mit dem Volk Israel unauflöslich verbunden, nicht nur genetisch sondern auch in echter unaufhörlicher Begegnung (…) Eine Verstoßung der Juden aus dem Abendland muß die Verstoßung Christi nach sich ziehen; denn Jesus Christus war Jude.“14 Diese klaren Aussagen von Elisabeth Schmitz und Dietrich Bonhoeffer werfen die Frage auf, ob mit der von den deutschen Kirchen hingenommenen Judenvernichtung durch das Naziregime nicht das herkömmliche Christentum tatsächlich ein Ende gefunden hat, auch wenn es weiterlebt. Denn es ist ein Versagen, das an die Substanz gegangen ist und das die Botschaft von der Versöhnung in Christus beschädigt hat. Davon legte indirekt Propst Grüber, der ehemalige Leiter der Hilfsstelle, Zeugnis ab, als er kurz vor seinem Tod 1975 erklärte: „Wir leiden bis heute unter diesem Schweigen der Kirchen. Das lässt mich bis zu meinem Lebensende nicht mehr los.“15 Es ist ja leider so, dass die Kirchen nach dem Krieg das ungeheure Verbrechen der Shoah lange Zeit verdrängten, dass sie keine Scham empfanden bzw. sie nicht zeigten und seine epochale unheilsgeschichtliche Bedeutung nicht wahrgenommen haben. Oder anders gesagt – sie haben nicht bemerkt bzw. nicht zugeben wollen, dass durch die Shoah das Versöhnungshandeln Christi in Frage gestellt wurde. Denn kann eine Kirche, die solchen Verbrechen nicht öffentlich widersprochen hat, weiter glaubwürdig von der in Christus geschehenen Versöhnung der Welt reden!?16

Der Württembergische Pfarrer und spätere Theologieprofessor in Tübingen, Hermann Diem, schreibt in seinen Lebenserinnerungen Ja oder nein. 50 Jahre Theologie in Kirche und Staat (Stuttgart 1974) über die Judenfrage: „Unbegreiflich ist das Schweigen der Kirche in der Judenfrage. Man kann die ganze Hilflosigkeit der Kirche nur von daher erklären, daß sie das Dasein der Juden nicht mehr theologisch als Glaubensfrage verstand und sich deshalb vom Nationalsozialismus ihre Behandlung als Rassenfrage aufdrängen ließ. Damit war ihr Widerstand schnell gebrochen und sie mußte sich auf die Rolle des ‚barmherzigen Samariters‘ zurückziehen, die nicht sehr effektiv sein konnte.“ (129) Hermann Diem berichtet in seinen Erinnerungen, wie sehr „bei jedem Eintreten für die Juden die Frage der Legalität vielen unter uns zu schaffen machte, das heißt, ob es uns als Christen erlaubt sei, gegen die staatlichen Gesetze zu verstoßen (…) Um den untergetauchten Juden zu helfen, mußten Lebensmittelkarten gedruckt, Pässe gefälscht werden usw. Aber auch solche unter uns, die jedes persönliche Opfer und Risiko zu übernehmen bereit waren, scheuten vor diesem aktiven Schritt in die Illegalität zurück.“ (131) Eine Auswirkung von Röm 13 und der lutherischen Zweireichelehre. Diem berichtet, wie in einer von dem reformierten Pfarrer Kurt Müller organisierten Aktion aus Berlin geflüchtete Juden als „Bombenflüchtlinge“ im Sommer 1943 getarnt in sein Haus kamen, so die Frau eines jüdischen Kantors mit zwei Kindern. In Absprache mit dem Bürgermeister sollten sie polizeilich angemeldet und die Kinder zur Schule geschickt werden. Doch dann erhielt Diem aus Stuttgart die Nachricht, dass die Gestapo aufgrund eines Briefes aus Berlin seinen Gästen auf der Spur sei. Diem wusste nicht, wohin er die Familie so schnell bringen sollte. So wurde die Mutter verhaftet. Am nächsten Morgen mussten er und seine Frau die weinenden Kinder zum Bahnhof bringen, wo die Mutter in Begleitung eines Polizisten auf sie wartete, der sie nach Stuttgart transportierte. „Ich konnte nichts mehr tun, als sie mit dem aaronitischen Segen zu verabschieden – demselben Segen, den ich jeden Sonntag über meine Gemeinde sprach und doch niemandem von ihr zumuten konnte, die Flüchtlinge zu verstecken. Auf das Verstecken jüdischer Flüchtlinge stand die Todesstrafe. Die Spuren der Familie konnte ich hinterher nur noch auf dem Weg nach Auschwitz verfolgen. Es hat mich lange beschwert, daß ich die Polizei bei ihrem – angeblichen Glauben ließ, daß ich nicht gewußt hätte, daß die Frau eine Jüdin war. Doch was war, hinterher gesehen, ‚richtig‘?“ (132) Eine bewegende und ehrliche Geschichte, die zeigt, dass Hilfe für die verfolgten Juden möglich und doch sehr schwierig und gefährlich war.

Denn was geschah nach dem Krieg? Trotz ihres Versagens haben die Kirchen nach dem Krieg sich schnell reorganisiert. Doch was als kirchliche Organisation wiederauflebte, war, zugespitzt formuliert, nur noch Hülle ohne den Inhalt, dass nämlich der Gott Israels in dem Juden Jesus aus Nazareth Mensch geworden ist, um durch dessen Leiden die Welt mit sich zu versöhnen. Auf den Punkt gebracht: Wo die Kirche es hinnimmt, dass das Volk Gottes, aus dem der Erlöser stammt, umgebracht wird, hat sie ihre Existenzberechtigung verwirkt. Oder vorsichtiger gesagt: Ist ihre Versöhnungsbotschaft nicht mehr glaubwürdig. Sie kann als Organisation weiterbestehen, predigen, taufen, Gottesdienste halten, Abendmahl feiern, Nächstenliebe üben, kann sich staatskirchenrechtlich absichern mit staatlichem Kirchensteuereinzug, Staatsleistungen aufgrund der §§ 137 ff. der Weimarer Verfassung, Beamtenstatus der Pastoren, Sendezeiten im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, dem grundgesetzlichen Recht auf Religionsunterricht – das Versagen in der „Judenfrage“ hat ihr eigentlich die Grundlage entzogen.

„Mit dem letzten Juden (verschwindet) auch das Christentum aus Deutschland“, dieser Satz von Elisabeth Schmitz sollte in den Kirchen endlich in seiner prophetischen Bedeutung, als negatives heilsgeschichtliches Datum, ernst genommen werden. Dann kann auch der kirchliche Neuanfang, den es trotz des Versagens gegeben hat, dankbar gewürdigt werden. Theologisch wird der Neuanfang mit der Gnade Gottes und seinem Verzeihen erklärt. Weltlich gesprochen ist er auf das Verhalten der westlichen Alliierten zurückzuführen, die der BRD die Chance gaben, in den Kreis der zivilisierten Völker zurückzukehren und einen demokratischen Rechts-und Sozialstaat mit staatskirchenrechtlich privilegierten Kirchen zu errichten.

Was hätte in den Kirchen anders gemacht werden können? Bonhoeffer hat aus dem Versagen der Kirche angesichts der Judenverfolgung radikale ekklesiologische Konsequenzen gezogen, und zwar in dem „Entwurf einer Arbeit“ aus dem Jahr 194417: „Kirche ist nur Kirche, wenn sie für andere da ist. Um einen Anfang zu machen, muss sie alles Eigentum den Notleidenden schenken, die Pfarrer müssen von freiwilligen Gaben der Gemeinde leben, evtl. einen weltlichen Beruf ausüben.“ Und dann ganz wichtig: „Sie muß an den weltlichen Aufgaben des menschlichen Gemeinschaftslebens teilnehmen, nicht herrschend, sondern helfend und dienend. Sie muß den Menschen aller Berufe sagen, was ein Leben mit Christus ist, was es heißt, ‚für andere da zu sein‘“.18 Bonhoeffer hat aus dem Versagen der Kirche angesichts des Unrechtsregimes des Nationalsozialismus und der Judenverfolgung Konsequenzen gezogen und eine neue arme und solidarische Kirche gewollt, nicht die Wiederherstellung des kirchlichen Zustands vor 1933.

Wir wissen, dass die Entwicklung anders gelaufen ist. Bonhoeffer wurde am 9. April 1945 ermordet und konnte bei der Neuausrichtung der Kirche nach der Befreiung vom Faschismus nicht mehr mitwirken. Die Vertreter der Bekennenden Kirche, die dann in den wiederhergestellten Landeskirchen oft an wichtiger Stelle saßen wie Martin Niemöller als Kirchenpräsident der hessisch-nassauischen Kirche, mussten sich zum einen mit den konservativen Kräften der sog. intakten lutherischen Kirchen arrangieren, um so die kirchliche Einheit zu bewahren. Zum anderen dachten sie ekklesiologisch nicht so basisgemeindlich wie Bonhoeffer. Sie kannten ja dieses Konzept Bonhoeffers auch nicht. Es wurde erst 1951 veröffentlicht und entfaltete dann erst langsam seine Wirkung, da war die Rekonstruktion der alten Kirchenstrukturen schon abgeschlossen.

Gab es in der Kirche eine Einsicht in die Größe und Schwere des eigenen Versagens? Sicher – der Rat der EKD hat in dem Stuttgarter Schuldbekenntnis von Oktober 1945, in Anwesenheit von Vertretern der Ökumene, seine Schuld und sein Versagen im Nationalsozialismus einbekannt. Einleitend heißt es, und damit wird eine Reaktion formuliert, die dann für spätere Stellungnahmen der EKD prägend werden sollte: „Wir wissen uns mit unserem Volk nicht nur in einer Gemeinschaft der Leiden, sondern auch in einer Solidarität der Schuld. Mit großem Schmerz sagen wir: durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden. Was wir unseren Gemeinden oft bezeugt haben, das sprechen wir jetzt im Namen der ganzen Kirche aus. Wohl haben wir lange Jahre hindurch im Namen Jesu Christi gegen den Geist gekämpft, der im nationalsozialistischen Gewaltregiment seinen furchtbaren Ausdruck gefunden hat, aber wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.“

Doch dieses Schuldbekenntnis geht über die tiefer reichenden Konsequenzen des Versagens zügig hinweg und verschweigt das ungeheure Verbrechen der von der Kirche hingenommenen Judenvernichtung und anderer Untaten. Es geht relativ schnell zur Tagesordnung der Neuordnung der Kirchen über. Das Stuttgarter Schuldbekenntnis erreicht nicht die Qualität jenes radikalen, nichts beschönigenden Schuldbekenntnisses, das Bonhoeffer in seiner Ethik von der Kirche forderte: „Die Kirche bekennt, schuldig geworden zu sein an den Unzähligen, deren Leben durch Verleumdung, Denunziation und Ehrabschneidung vernichtet worden ist.“19

Beschämend ist auch, dass sich die Kirchen nach dem Stuttgarter Schuldbekenntnis schnell gegen die Siegermächte und ihre Entnazifizierungspolitik aussprachen. Es entstand das von ihnen mitgeprägte Narrativ von der Sieger- und Rachejustiz. Im Februar 1948 rief Kirchenpräsident Martin Niemöller sogar zum Boykott der Spruchkammerverfahren auf und wies die hessisch-nassauischen Pfarrer an, nur noch als Entlastungszeugen daran teilzunehmen. Die tatsächlichen Zahlen der in Entnazifizierungsverfahren Bestraften widerlegen jedoch eindeutig die Propaganda von der Rachejustiz. Von etwa einer Million Verfahren in der US-Besatzungszone wurden gerade mal 1 586 (0,2 %) Überprüfte als Hauptschuldige und 22 122 (2,3 %) als NS-Aktivisten eingestuft. Der Historiker Clemens Vollhans kommt in seiner Veröffentlichung der Dokumente 1989 zu dem Schluss: „Der Fürsprache für die Täter im engeren und weiteren Sinne stand in den ersten Nachkriegsjahren kein einziges Wort der Kirchen gegenüber, das sich für die Wiedereingliederung und materielle Entschädigung des Millionenheeres der NS-Opfer einsetzte.“ Es ist bekannt, dass katholische Stellen die Emigration, besser Flucht von NS-Verbrechern nach Südamerika unterstützten. Auch die evangelische Kirche setzte sich für mutmaßliche Massenmörder und Kriegsverbrecher ein. Über viele Jahre arbeiteten offizielle Vertreter der Kirchen und unverbesserliche Nazis in der sog. „Stillen Hilfe“ zusammen. Der in der Nazizeit für sein Eintreten gegen die Euthanasie von Behinderten hervorgetretene württembergische Landesbischof Wurm saß im Vorstand der Organisation, zusammen mit dem ehemaligen Obersturmbannführer Heinrich Malz, Adjutant von Ernst Kaltenbrunner, dem Leiter des Reichssicherheitshauptamtes und Vorgesetzter von Adolf Eichmann. Nach außen vertreten wurde die Stille Hilfe von Prinzessin Helene Elisabeth von Isenburg, die sich der Hilfe für Naziverbrecher widmete. Sie bezeichnete sich gern als „Mutter der Landsberger“, also der im Gefängnis Landsberg inhaftierten Kriegsverbrecher. Eine Denkschrift des Rates der EKD hatte 1950 die Verfahren gegen Kriegsverbrecher zum Thema, denen angeblich Unrecht angetan wurde. Sie erschien nur in englischer Sprache und wurde im Februar 1950 geheim dem Hohen Kommissar der USA, John McCloy, übergeben. Die Übersetzung hatte die IG Farben finanziert, ein Unternehmen, das bekanntlich an der Vernichtung der europäischen Juden im KZ Auschwitz unmittelbar beteiligt war. Erst Recherchen des Journalisten Ernst Klee haben 1991 diese skandalösen Fakten ans Licht der Öffentlichkeit gebracht. Klee wurde dafür heftig gerade von Kirchenvertreten attackiert. Die württembergische Kirche erklärte allen Ernstes: „Was Wurm damals getan hat, das tut heute Amnesty International, nämlich Mund der Stummen zu sein und gegen Unrecht anzugehen.“ Schon 1949 wollte der Hannoversche Landesbischof Hans Lilje einen Schlussstrich ziehen. Er sagte in einer Rundfunkansprache: „Der Augenblick ist gekommen, mit der Liquidation unserer Vergangenheit zu einem wirklichen Abschluß zu kommen (…) Wir haben von Gott eine Frist bekommen für die Klärung unserer Vergangenheit. Nach menschlichem Urteil ist diese Frist vorbei.“

Eine schlimme Fehleinschätzung. Es gibt einen von Günter Heidtmann herausgegebenen Band „Hat die Kirche geschwiegen? Das öffentliche Wort der EKD von 1945 – 1964 (Berlin 1964).“ 1969 habe ich in der Jungen Kirche einen Aufsatz veröffentlicht „Die Forderung der Wiedervereinigung in den öffentlichen Voten der EKD.“ Darin zeigte ich auf, dass neben dem immer wieder angeprangerten Unrecht der deutschen Teilung vor allem auch die Forderung nach Freilassung der in der Sowjetunion festgehaltenen deutschen Kriegsgefangenen im Zentrum der EKD-Voten stand. Stets wurde auf das Leiden dieser Gefangenen in den Lagern hingewiesen, ihre Beteiligung an einem Vernichtungskrieg, dem 22 Millionen Sowjetbürger, nach neueren Schätzungen sogar 27 Millionen, zum Opfer gefallen waren, aber verschwiegen. Zehn Jahre zuvor hatten die Kirchen diese Solidarität mit den völlig unschuldigen Juden Deutschlands und Europas in keinem Wort öffentlich geäußert. Erst in der sogenannten Ost-Denkschrift wurde 1965 die deutsche Teilung als eine Folge des von Nazideutschland begonnenen Zweiten Weltkriegs anerkannt und damit aus dem theologischen Versöhnungsgedanken heraus eine neue Ostpolitik mit der Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze gefordert. Die Vernichtung der europäischen Juden blieb auch in dieser Denkschrift unerwähnt.

Immerhin hat der erste evangelische Militärbischof Herrmann Kunst, als er 1959 von dem jungen Militärpfarrer Pohl die Information über den Aufenthalt Adolf Eichmanns in Argentinien erhielt (Pohl erfuhr sie von seinem Studienfreund, dem in Argentinien tätigen Geologen Gerhard Klammer), diese an Generalstaatsanwalt Bauer weitergeleitet. Dieser informierte den israelischen Geheimdienst Mossad, welcher daraufhin Eichmann im Mai 1960 entführte und nach Jerusalem brachte, wo ihm der Prozess gemacht wurde. Eichmann, der 1944 noch den Transport von 400.000 ungarischen Juden in die Vernichtungslager organisiert hatte, wurde verurteilt und 1963 hingerichtet, (s. B. Stagneth/W. Winkler, Der Mann, der Adolf Eichmann enttarnte, SZ 21./22. August 2021).

Letztlich gab es also in der EKD lange Zeit keine Einsicht in den theologischen Substanzverlust der christlichen Kirchen durch ihr Schweigen angesichts der Shoah. Auch in dem Darmstädter Wort des Bruderrates der Evangelischen Kirche in Deutschland „Zum politischen Weg unseres Volkes“ vom August 1947 kommt in den sieben Punkten der Irrwege der Kirche die ausgebliebene Solidarität mit der jüdischen Bevölkerung nicht vor. Erst auf der EKD-Synode in Berlin-Weißensee 1950 wird zum ersten Mal in einem kirchlichen Dokument knapp auf die Judenvernichtung hingewiesen, ohne dass damit eine Aufarbeitung des kirchlichen Versagens eingeleitet würde. In den 50er und 60er Jahren wird in den Kirchen wie in der Gesellschaft weiter über den Holocaust geschwiegen. Der Ulmer-Einsatzgruppenprozess 1958 gegen die an der Ermordung zehntausender Juden hinter der Front beteiligten Täter und auch der Auschwitzprozess 1963 haben dieses Schweigen in den Kirchen zunächst nicht ändern können. Dass das öffentliche Wort der Kirche zur Judenverfolgung im Dritten Reich ausgeblieben war, wurde nicht reflektiert. Nur wenige haben es wie Karl Barth als Versagen bekannt. Er „bereute es zeitlebens, in der Barmer Erklärung die Juden vergessen zu haben.“20

Um es noch einmal deutlich zu sagen: Leider haben die Kirchen von dieser Vernichtungserfahrung des jüdischen Volkes zunächst weder sich noch ihre Theologie infrage stellen lassen. Auch sie waren von der „Unfähigkeit zu trauern“ (Mitscherlich) bestimmt. Musste man nicht wenigstens fragen, wie kann ein gerechter und gütiger Gott das zulassen, dass das Volk der Erwählung ermordet wird? War der leidende Gott in Auschwitz anwesend? Etwa im Sinne der Geschichte, die Elie Wiesel aus Auschwitz erzählt, als jemand angesichts des Todeskampfes eines erhängten Knaben fragte: „‚Wo ist Gott?‘ Und ich hörte eine Stimme in mir antworten: ‚Wo er ist? Dort hängt er, am Galgen‘.“

Doch die ewige Liturgie wird weiter gesungen trotz der Millionen jüdischer Opfer, die infolge auch der fatalen Logik der christlichen Heilsgeschichte (die Juden sind halsstarrig und schuld am Tod unseres Erlösers, bei den Nazis: sie sind an allem schuld) sterben ‚mussten‘. Das Lob Gottes, der seinen Sohn dahingegeben hat um unsrer Sünde willen, erklingt weiter. Das wird wohl auch nicht anders sein können, wenn die Kirchen ihren Heilskern nicht aufgeben wollen. Immerhin gab es Bußbekenntnisse und eine Veränderung der Theologie in der Hinsicht, dass Israel weiterhin als das von Gott erwählte Volk gilt und sein Glaubensweg anerkannt wird – so in der Synodal-Erklärung der Rheinischen Synode von 1980 und auch in Johannes Paul II Erklärung zu den älteren Brüdern im Glauben 2000.

Aber die Frage, ob Christi Opfer religiös und sozial-kulturell gesehen nicht beschädigt ist, wagte man nicht zu stellen. Sie muss aber gestellt werden. Wie das geschehen kann, dazu verweise auf den jüdischen Philosoph Hans Jonas. Er hat 1983 in seiner Tübinger Rede über den Gottesbegriff nach Auschwitz nachgedacht, um den Gemordeten, darunter seine Mutter, die in Auschwitz starb, „so etwas wie eine Antwort auf ihren längst verhallten Schrei zu einem stummen Gott nicht zu versagen.“ Jonas fragt, was für ein Gott konnte Auschwitz geschehen lassen. Und er antwortet: ein allmächtiger Gott kann es nicht gewesen sein. Vielmehr muss man von einer Verstörung Gottes durch Auschwitz sprechen. Er droht sich aus der Welt zurückzuziehen: „Nachdem er sich ganz in die Welt hineinbegab, hat Gott nichts mehr zu geben: jetzt ist es am Menschen, ihm zu geben (…) darauf zu achten, daß es nicht zu oft geschehe, daß es Gott um das Werdenlassen der Welt gereuen muß. Dies könnte wohl das Geheimnis der unbekannten ‚sechsunddreißig‘ Gerechten sein, die nach jüdischer Lehre der Welt zu ihrem Fortbestand niemals mangeln sollen und zu deren Zahl in unserer Zeit manche der erwähnten ‚Gerechten aus den Völkern‘ gehört haben möchten“. Als Christen müssen wir fragen: Gilt das, was Jonas spekulativ für Gott aussagt, auch für Christus, das Wort, das nach Johannes 1 am Anfang bei Gott war, als Grund und als Sinnmitte der Welt? Müssten nicht auch wir bekennen: Christus, das Wort, ist verstört und es/er bedarf unserer tatkräftigen Unterstützung, damit es/er glaubwürdig in der Welt als erlösende Kraft bleiben kann, damit sein Opfer nicht vergeblich war?

Die EKD hat 1991 endlich in einer Stellungnahme von der Mitschuld der Kirchen an der Shoah gesprochen. Heute versuchen die vielen Gesellschaften für jüdisch-christliche Zusammenarbeit in Deutschland in ihren Veranstaltungen die Fragen der Vergangenheit aufzuarbeiten, Verständnis in den christlichen Gemeinden für den jüdischen Glauben mit seiner Ablehnung Jesu als Messias zu wecken, die Kenntnis über neu erblühtes jüdisches Leben in der Bundesrepublik zu vertiefen und aktuelle Fragen des jüdisch-christlichen Verhältnisses zu thematisieren. Die Warnung vor Fremdenfeindlichkeit und der Protest gegen neuen Antisemitismus, auch den muslimischen, gehören entscheidend dazu. Aber: Ist es nicht mit ein Versagen der kirchlichen Verkündigung, wenn heute jüdische Menschen öffentlich bedroht werden und die Synagogen von der Polizei bewacht werden müssen?!

Das Schweigen der Kirchen angesichts der Shoah hat die christliche Versöhnungsbotschaft schlimm beschädigt. Trotzdem ist die Verkündigung vom gnädigen Gott, der in Jesus unser Heiland und Bruder geworden ist, weiter wirksam. Sie tröstet nach wie vor Millionen Menschen und motiviert Christen zur Solidarität mit den Flüchtlingen und Verfolgten von heute. In der Willkommenskultur waren und sind besonders die Kirchengemeinden aktiv. Die Beteiligung der EKD an der Ausrüstung eines Rettungsschiffs für die Flüchtlinge im Mittelmeer zeigt, dass sie die Konsequenz aus ihrem Versagen vor 80 Jahren gezogen hat.

Zum Schluss eine Antwort auf die Frage: Was ist aus Elisabeth Schmitz geworden, die in den dreißiger Jahren so mutig wie vergeblich das öffentliche Eintreten der Kirchen für die verfolgten Juden gefordert hatte? Sie lässt sich 1939 in den vorzeitigen Ruhestand versetzen. In der Bekennenden Gemeinde Berlin-Friedenau bleibt sie vor allem in der Fürsorge für die jüdischen Mitglieder aktiv. Sie macht ab 1940 Hausbesuche in sog. ‚Judenhäusern‘, um Taufunterricht zu erteilen, was nicht ungefährlich war. Mehrere aktive Mitglieder der BK werden in dieser Zeit verhaftet. In ihrer Wohnung in der Luisenstraße beherbergt sie bis zur deren Zerstörung gelegentlich Menschen, die ein Versteck brauchen. Sie erlebt die Deportationen der jüdischen Gemeindemitglieder – als eine junge Mutter mit ihrem kleinen Kind nach Theresienstadt deportiert wird, „zerreißt es ihr das Herz“, wie sie in einem Vortrag 1950 sagte. 1943 geht sie zurück nach Hanau in das Elternhaus, erlebt dort das Kriegsende. 1946 tritt sie, zunächst nebenamtlich, dann dauernd wieder in den Schuldienst. Vor allem: Im nachtotalitären Biedermeier der Adenauerzeit bleibt sie aktiv in der antifaschistischen Informationsarbeit. Bei einschlägigen Gedenkanlässen ist sie es, die um den Vortrag gebeten wird. So 1950 in ihrer Schule bei einer Gedenkfeier für die Opfer des Faschismus. Sie nennt die ungeheuerlichen Opfer-Zahlen, die allgemein verschwiegen oder sogar bestritten wurden: „Wir wissen von den 6 Millionen, die von den Deutschen ermordet wurden, das ist der dritte Teil aller in der ganzen Welt lebenden Juden gewesen.“ Sie beklagt, dass „wir in den letzten Jahren immer nur damit beschäftigt gewesen sind, uns selbst zu rechtfertigen und alle möglichen Entschuldigungen zu finden.“ Angesichts der antijüdischen Friedhofsschändungen schildert sie noch einmal den Prozess der Ausgrenzung: „Er begann damit, dass die Juden in kein Kino, kein Theater, kein Restaurant gehen durften.“ Und er „endete damit, dass sie nach Polen und das heißt in den Tod deportiert wurden.“ 1958 wird sie pensioniert. Sie stirbt 1977 im Alter von 84 Jahren. Nur sieben oder acht Personen sollen bei ihrem Begräbnis dabei gewesen sein. Doch inzwischen ist Elisabeth Schmitz’ Widerstand von der Wissenschaft erforscht. Es gab eine Tagung zu ihrem Wirken 2007. Die Kirche hat ihre wichtige Rolle anerkannt, so der ehemalige Berliner Bischof und EKD-Ratsvorsitzende Wolfgang Huber am Bußtag 2002. In einer Gedenkrede zum 9. November 2008 ist sie sogar von Bundeskanzlerin Angela Merkel erwähnt und gewürdigt worden. 2010 erschien ihre Biografie, verfasst von Manfred Gailus. Ihr bezeichnender Titel „Mir aber zerriss es das Herz. Der stille Widerstand der Elisabeth Schmitz.“

Kein Trost, nirgends?

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