Читать книгу Atlan 45: Vorstoß der Rebellen (Blauband) - Hans Kneifel - Страница 6
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ОглавлениеAus: Gesammelte Sprüche eines Bauchaufschneiders, Fartuloon
Der Weise schweigt, wenn ihm nur leere Worte zur Verfügung stehen. Zeitlos und ewig gültig.
Celkar: 5. Prago des Dryhan 10.500 da Ark
Der Saal war nicht sonderlich groß, aber jeder der zweihundertfünfzig Zuschauersitze war besetzt. Richter Daccsnor thronte jenseits der leicht erhöhten Barriere. Er trug eine hochgeschlossene helle Uniform, und sein Gesicht wirkte ebenso streng wie die rechtwinklig geschnittene Jacke. Alle wichtigen Personen warteten schweigend auf den Angeklagten und seinen Verteidiger, und Ches Prinkmon fühlte, wie seine Handflächen feucht wurden. Er befand sich in einer der schalldichten Kanzeln und konnte ebenso gut jedes Gesicht der Zuschauer erkennen, wie er die Reihe der Richter, Beisitzer und Assistenten mustern konnte.
Die Kamera schwang herum. Im Kopfhörer von Ches Prinkmons Ausrüstung flüsterte Monholes Stimme: »In drei Millitontas gehen wir direkt auf Sendung, Ches.«
Prinkmon flüsterte ins Mikrofon, das am federnden Bügel vor seinen Lippen zitterte: »In Ordnung. Ich fange mit Daccsnor an.«
»Los!«
Auf dem Kontrollmonitor konnte Ches die Bilder der noch handgesteuerten Kamera sehen. Die Zeitnahme lief am rechten Bildrand mit. Aderlohn Dharr war ein Könner in der Bildführung; er zog den Zoom so langsam, dass gerade, als Ches zu sprechen anfangen konnte, das würdevoll beherrschte Gesicht des Richters und Gerichtsvorsitzenden in perfektester Vergrößerung das Bild ausfüllte. Plötzlich befiel eine tröstliche Ruhe den jungen Reporter, und er sagte ebenso ruhig: »Dieser Mann, Richter Thorm da Daccsnor, wird in den nächsten Tagen die Szene beherrschen. Von ihm hängt jede Zentitonta die Führung einer der wichtigsten und aufregendsten Verhandlungen ab, die je in diesem Haus geführt worden sind. Wir befinden uns kurz vor Beginn des Prozesses. Das Imperium versus Ogor.«
Die Kamera schwenkte langsam über die Gesichter der Zuhörer, verweilte hier und dort auf einem Assistenten, einer kybernetischen Einrichtung oder einem Beisitzer. Nacheinander gab Ches kurze, charakterisierende Bemerkungen über die einzelnen Frauen und Männer, die im Prozessverlauf wichtig werden würden. Dann leuchtete neben einer Panzertür ein flackerndes Rotlicht auf.
»Sie sehen das Signal. In wenigen Augenblicken wird sich die Tür öffnen, und der unglückliche Angeklagte betritt neben seinem Anwalt, dem bekannten Rotnam Terna, einem Strafverteidiger, der schon die Prozesse Imperium versus Sonnenträger Waales und die Revision der Verhandlung Kolonialplaneten gegen Administration gewinnen konnte. Als ich vor kurzer Zeit mit Terna über die Aussichten sprach, meinte er, skeptische Vorsicht sei die beste Antwort … Hier sind sie.«
Ogor kam herein, nachdem sich die Panzerplatte in die Decke zurückgezogen hatte. Er trug die Flottenkombination ohne jede Verzierung oder Auszeichnung. Er wirkte auf etwas maskenhafte Weise starr und überhaupt nicht vom Korratz gezeichnet. Auch als er sich mithilfe seiner vielen unsichtbaren Prothesen auf seinen Platz zubewegte, konnte keiner der Anwesenden erkennen, dass er zu einem großen Teil nicht aus Gewebe, Knochen, Muskeln und Organen bestand. Ein großer, schlanker, fast hager wirkender Mann mit eingefallenen Wangen und tiefen Kerben zwischen Augen und Kinn. Kurzes, silbernes Haar, an zwei Stellen ersetzt oder gefärbt, denn da waren es dunkle Bahnen, die sich bis zum Nacken hinzogen. Er hatte sehr lange Finger, die sich unruhig bewegten, als er den Richter mit einer Verbeugung begrüßte und die Lehnen des Sessels umklammerte, in den er sich hineinfallen ließ. Schräg vor ihm nahm der Anwalt Platz.
»Sie sehen Kommandant Ogor. Bevor seine persönliche Tragödie, deren vorläufiger Endpunkt sich hier und jetzt zeigt, ihren Verlauf nahm, war er ein angesehener Kommandant. Seine wagemutigen Einsätze waren Vorbild für einige Jahrgänge der Kadettenakademie. Er hat neun Morde gestanden. Täuschen Sie sich nicht, meine Damen und Herren. Auch die beste Kamera von Arkon-Vision kann Ihnen nicht zeigen, dass dieser Mann dort unten aus mehr als einem Drittel Prothesen besteht. Finger und Zehen, Handgelenke, Schienbeine und Knie, Ellbogengelenke und Teile der Wirbelsäule sind Prothesen, täuschend nachgeahmt, ein Triumph unserer Biomechaniker. Und sein Gehirn, sein Verstand – sie sind zu einem bestimmten Teil nichts anderes als ein winziger Computer, ein Mikroprozessor, also ein Gerät, wie es Ihre Gleiter auf einer Schnellpiste steuert oder die Temperatur Ihrer Wohnung. Das ist die eigentliche Tragödie. Wir werden im Verlauf der nächsten Tage, womöglich Berlenpragos, jeden einzelnen Punkt dieser erstaunlichen Wahrheit erörtern. Ich werde versuchen, Sie durch das verwirrende Geschehen zu begleiten.«
Dharr schwenkte die Kamera herum und richtete wieder die Linsensätze auf den Richter. Thorm stand auf und sagte: »Hiermit eröffne ich die Verhandlung. Der Prozess das Imperium versus Kommandant Ogor beginnt.«
Auf eine ganz bestimmte Weise waren die ersten zwei Tontas die wichtigsten der gesamten Verhandlung. Thorm da Daccsnor schlug eine Akte auf und bat den Angeklagten, seine Identität zu bescheinigen und zu erzählen, wie es nach seiner Auffassung zu den Morden gekommen wäre. Atemlose Spannung herrschte, als Ogor mit einer Gelassenheit, die von allen mit Verwunderung aufgenommen wurde, seinen Lebensweg schilderte. Schließlich sagte er: »Immer wieder, wenn mich der Korratz befiel, habe ich gedacht, dass ich das Schlimmste bereits hinter mir hätte. Die rasenden Schmerzen, die mich in ein willenloses Bündel aus Schreien, unkontrollierten Bewegungen und dem Wunsch verwandelten, mich selbst umzubringen, steigerten sich aber. Niemals hatte ich das Gefühl, dass die vorhergehenden Schmerzen geringer gewesen wären. Ich litt unbeschreiblich.«
An dieser Stelle hob Richter Thorm da Daccsnor die Hand, gleichzeitig stand der Verteidiger Terna auf. Thorm lächelte dem Verteidiger knapp zu und sagte: »Ich nehme an, Herr Verteidiger, dass Sie das Gutachten des Obersten Flottenarztes zitieren wollen?«
»Genau das hatten wir vor, Euer Ehren«, bestätigte Terna.
Ches benutzte die entstehende kurze Pause und sagte: »Wir kennen den Inhalt dieses Gutachtens nicht. Aber jeder, der sich auch nur kurz mit dem langen und einzigartigen Leidensweg des Kommandanten Ogor befasst hat, wird zu Recht erwarten, dass dieses Gutachten bescheinigt: Nur wenige Arten von Schmerzen sind nachweislich so folternd und so wahnsinnserzeugend wie die Schmerzempfindungen, die in den ersten Tagen eines neuen Korratz-Anfalls den Betroffenen heimsuchen.«
Die Kamera schwenkte zwischen Ogor, Daccsnor und dem Verteidiger hin und her und richtete sich dann auf einen Assistenten, der das lange Gutachten vorlas. Zweifellos hätte auch eine Aufzeichnung abgespielt oder ein Multimediaprojektor eingeschaltet werden können, aber bei Gerichtsverfahren dieser Wichtigkeit galten die alten, fast archaischen Regeln des Imperiums. Für den Angeklagten bedeutete dieser altertümliche Verhandlungsstil, dass er keine maschinenhafte Urteilsbegründung erhielt; seine Chancen standen und fielen mit der Geschicklichkeit des Verteidigers beziehungsweise des Anklägers, der bemerkenswerterweise noch kein einziges lautes Wort von sich gegeben hatte.
Jeder der am Prozess Interessierten im Saal kannte den Namen des Anklagevertreters, aber niemand – außer Richter Daccsnor – hatte ihn jemals persönlich in Aktion erlebt. Ches hatte sich informiert; Tharndraft war ein Anhänger der alten Zeiten, konservativ, dem Naturrecht stärker verhaftet als der moderneren, computergestützten Mechanistik des modernen Justizapparats. Wenigstens Ches rechnete sich auch durch diesen Umstand mehr und bessere Chancen für Ogor aus. Er hatte niemals einen Hehl daraus gemacht, dass er einen Freispruch oder wenigstens ein formelles, aber mildes Urteil erwartete. Ganz sicher wünschte er dies. Aber er ließ sich durch seinen Wunsch nicht beeinflussen und schilderte so objektiv wie möglich, was vor und unter ihm geschah.
Nach knapp zwei Tontas hielt Fimm Monhole einen Zettel hoch: Einschaltquote 72. Es bedeutete, dass von theoretischen hundert Empfängern zweiundsiebzig eingeschaltet und auf diesem Programm waren. Für das Team von Arkon-Vision eine Warnung und eine Auszeichnung gleichermaßen: allerdings hatte sich auch Celkar-Trivid an diese Berichterstattung angehängt und auf einen eigenen Korrespondenten im Gerichtssaal verzichtet. Dafür übernahmen die mobilen Teams der planetaren Station alle Berichte von außerhalb der »Arena«. Kurz drehte sich Ches herum und hielt die Hand mit nach oben gestrecktem Daumen den grinsenden Kollegen entgegen.
Das Gutachten war in einer Zeit von fünfundzwanzig Zentitontas verlesen worden. Darin bestätigte immerhin ein Yoner-Madrul, der sicherlich kein Interesse daran hatte, dass Mörder in den Imperiumsflotten Schlachtschiffe kommandierten, die Schilderung des Angeklagten: es gab objektiv keinen Schmerz, der grausamer war als derjenige eines Korratz-Anfalls.
»Danke«, sagte der Richter. »Der Ankläger hat das Wort.«
Tharndraft stand auf. Es war ein alter, breitschultriger Mann, wuchtig und massig. Sein Kopf war fast kahl, einige Narben machten sein Gesicht zu einer Maske, und als er zu sprechen begann, drang seine Stimme ohne die Hilfe von Mikrofonen und Verstärkern in die hinterste Ecke des Raumes. Er hatte einen heiseren Bass. »Ich vertrete die Anklage, und die Anklage gegen diesen Mann lautet auf neunfachen Mord. Unbestritten ist, dass Ogor jeden Mord zugegeben hat. Die Einzelheiten seines Geständnisses, das weder widerrufen noch modifiziert wurde und in völlig freier Schilderung vorliegt, ohne nachdrückliche Befragung oder gar Folter abgegeben und bestätigt wurde, sind durch die Fakten der Ermittlungen in jedem Punkt bestätigt und gesichert. Mit Betroffenheit habe ich die Schilderung des Lebens von Kommandant Ogor gehört. Ich anerkenne jedes Wort des ersten Gutachtens. Trotzdem erhebt sich für die Anklage die Frage, wo der schwierige und schmerzvolle Prozess, den wir ›Korratz und Folgen‹ nennen wollen, aufhört. Und noch mehr interessiert mich, wie dieser leidgeprüfte Mann zum neunfachen Mörder werden konnte.«
Terna hob die Hand und fuhr nach einem Nicken des Richters fort: »Ich stelle fest, dass bis zu diesem Punkt kein Einspruch von Seiten der Anklage erfolgt ist.«
»Die Anklage steht nicht an, alles bisher Vorgebrachte als belegbare und durch Fakten zu bestätigende Wahrheit anzusehen.«
»Der Verteidigung liegt jetzt ein Schriftstück der Imperiumsklinik auf Iacupos Drei vor. Dieses Schriftstück, von den dortigen Behörden beeidigt, bestätigt und per Kurier hier hergebracht, schildert die unzähligen Operationen. Sie wurden fast immer von denselben Spezialisten ausgeführt, die jedes Mal einen anderen Körperteil des Angeklagten operierten und durch eine Prothese ersetzten.«
Tharndraft entgegnete: »Eine Kopie dieses Schriftstücks liegt der Anklage vor.«
»Anerkennt die Anklage«, fragte Ternas Assistent, »die Richtigkeit der in diesem Dossier geschilderten Informationen?«
»Die Anklage hat im Augenblick keinerlei Möglichkeit, über die Richtigkeit oder das Gegenteil zu entscheiden. Aber wir beziehen uns auf die Bestätigung der Behörden. Wir melden keinen Zweifel an. Zweifel bezüglich der Daten, an denen die erwähnten und im Einzelnen geschilderten Operationen durchgeführt wurden, sowie die Natur der einzelnen Operationen. Erhärtet wird diese Schilderung dadurch, dass die Rehabilitationsärzte angaben, welche Zeit und welche Art von Übungen benötigt wurden, um die Prothesen in den Körper des Angeklagten zu integrieren.«
Terna sagte schnell: »Die Anklage meldet keinerlei Bedenken an, dieses Schriftstück betreffend? Dazu gehört ein Filmstreifen. Dazu gehört ferner eine Folge von Aufnahmen, die sich ausnahmslos auf ersetzte Glieder, Hautstücke, Gewebeflächen und innere Organe beziehen?«
»Keinerlei Bedenken. Wir akzeptieren die Aussage der zitierten Behörden und der zitierten ausführenden Mikrochirurgen.«
»Die Verteidigung dankt der Anklage.«
Terna setzte sich wieder. »Durch dieses einigermaßen verwirrende Wortgefecht, das uns allen bestätigte, dass sowohl Verteidigung als auch Anklage den Tatbestand nicht in Zweifel ziehen, ergibt sich folgende Situation: Lebensweg, Infektion mit Korratz, dieser Körpersubstanz vernichtenden Krankheit, die rasenden, sich steigernden Schmerzen der einzelnen Anfälle, die Operationen und das Training mit den neuen Prothesen – das alles wird von der Verteidigung und erst recht von der Anklage als Wahrheit, als erwiesene Tatsachen angenommen. Dies bedeutet für Ogor, dass an seiner Schilderung der Umstände keinerlei Zweifel besteht. Niemand wird ihm beispielsweise im Fortgang des Prozesses vorwerfen, dass er sich vor der Ansteckung hätte schützen können oder dass er hätte vermeiden können, dass dieses oder jenes Körperteil schließlich verdorrte und abfiel. Die bisher vorgelesenen Tatsachen werden von beiden Parteien als wahr befunden. Darüber wird während des gesamten Prozesses nicht mehr gesprochen oder verhandelt. Aber es kann sein, dass sich sowohl Verteidigung als auch Anklage auf einzelne Punkte beziehen, um etwas abzustreiten oder zu bestätigen. Schon jetzt, liebe Zuschauer, lässt sich erkennen, dass sich die Auseinandersetzung auf einen einzigen Punkt konzentrieren wird. Dies kann nur im Sinn der Verteidigung sein.
Der Punkt ist, ob Ogor oder der Computerverstand stärker waren. Es geht, um es noch einmal zu unterstreichen, um die Verantwortlichkeit. Und um neun Morde. Ein Detail am Rand. Von den neun Opfern waren drei jüngere Frauen. Wir werden im Lauf der Verhandlung erfahren, wie die einzelnen Morde geschahen, wo sie geschahen, und wie die näheren Umstände dieser Verbrechen waren. Die ersten Züge dieses Spiels der Gerechtigkeit haben wir alle miterlebt. Ich persönlich rechne mit mindestens fünfzehn Sitzungen, ehe das Urteil verkündet wird. Es gibt keine Einspruchs- oder Revisionsmöglichkeit mehr, wenn die Verhandlung vor diesem Gremium stattfindet. Aber jetzt wird der Richter etwas sagen, und wir sollten uns alle auf ihn und seinen Einwand konzentrieren.«
Bisher, das wusste Ches Prinkmon, war die Reportage in allen Teilen perfekt geworden. Die einzelnen Beteiligten waren vorgestellt. Viele von ihnen hatten charakteristisch agiert, sodass die Persönlichkeiten den Zuschauern im Gedächtnis bleiben würden. Er selbst hatte mit bisher unbekannten Informationen die Personen schärfer gezeichnet und plastischer herausgebracht. Das Publikum hatte jetzt sowohl Identifikationsmöglichkeiten, und es konnte auch Sympathien oder Antipathien für den eigenen Standpunkt suchen und finden.
Tharndraft, der Ankläger des Imperiums, meldete sich zu Wort. Der Richter erteilte ihm Sprecherlaubnis. Der wuchtige Mann sagte dröhnend: »Langsam nähern wir uns dem Kernproblem. Die Anklage behauptet, dass es für den Angeklagten in jedem Augenblick der Versuchung möglich war, mit freiem Willen zu entscheiden.«
»Die Verteidigung hat Beweise, dass exakt das Gegenteil der Fall war«, rief augenblicklich der Verteidiger und sprang wieder auf. Murmelnd kommentierten die Zuschauer und Prozessbeobachter diese überraschende Wendung der Anklage.
»Beweise?«, fragte Tharndraft nicht ohne Sarkasmus.
»Dem Gericht liegt das Gutachten der Obersten Behörde für Kybernetik und Nachrichtenwesen vor.«
»Sie meinen sicher Beweisstück Null-drei?«, erkundigte sich ein Assistent.
Terna nickte und rief: »Genau dies meine ich. Diese Abhandlung schildert die Abhängigkeit biologischer Strukturen eines Cyborgsystems von dem Diktat der angeschlossenen oder integrierten Rechenmaschinen.«
»Dieses Beweisstück liegt auch der Anklage vor?«, fragte der Richter unbewegt.
Ogor saß scheinbar völlig ungerührt in seinem Sessel. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und blickte einmal dorthin, einmal dahin. Er tat, als gehe ihn dies alles absolut nichts an. Aber als ihn Ches näher ins Auge fasste und kurz darauf die Vergrößerung auf seinem Monitor in Ruhe studieren konnte, begann er zu ahnen, dass diese Beherrschtheit zur Hälfte auf die regungslose Gesichtsplastik zurückzuführen war und nur im geringen Maß auf die Seelenruhe des Angeklagten. Man näherte sich tatsächlich dem entscheidenden Punkt. Wer war verantwortlich? Der Minicomputer? Das durch Korratz geschädigte Hirn, der Sitz von Verstand, Erziehung und letztlich von Moral? Oder die Kombination von beidem?
»Die Abhandlung liegt auch der Anklage vor. Aber die Anklage betrachtet dieses Bündel von Papier nicht als Beweis.« Tharndraft war völlig kalt als er diesen Satz aussprach.
»Die Auseinandersetzung tritt offensichtlich in ein entscheidendes Stadium ein«, sagte der Richter.
»Gehen wir empirisch vor«, rief Rotnam Terna. »Ich rufe Ogor auf. Er soll uns berichten – siehe dazu das Beweisstück Null-acht – wie einer der Korratz-Anfälle seine Hirnsubstanz angriff und zum Teil zerstörte.«
Der Richter hob ein weiteres Bündel zusammengehefteter Schriftstücke hoch und sagte laut: »Fakten und Daten sind hier enthalten. Ich bitte die beiden Parteien, während der Erzählung die bestätigten Fakten herauszuarbeiten.«
»Wir werden diese Aufforderung beherzigen«, bekräftigte Tharndraft.
»Da dieser Punkt einer der vielen entscheidenden Faktoren der Verteidigungsstrategie ist, haben wir uns der Wichtigkeit und der Nachprüfbarkeit dieser Informationen versichert. Ogor, würden Sie uns schildern, was am …«, er schlug nach und nannte ein Datum, »… wirklich passierte?«
»Dient dieser Bericht der Wahrheitsfindung?«, fragte Ogor.
»Unbedingt. Ich würde Sie sonst nicht um diesen Bericht bitten.« Terna bestätigte unruhig, aber mit unverkennbarem Optimismus.
»Einverstanden. Hören Sie gut zu, meine Damen und Herren …« Ogor erhob sich langsam und gab mit ruhiger Stimme seinen Bericht ab. Die verzweifelte Ruhe stand in krassem Gegensatz zu den Informationen und Fakten, die jeder im Saal und jeder der Trividzuschauer hören konnte. Eine grässliche, niederschmetternde Erzählung. Eine krude Horrorgeschichte, die den verzweifelten Vorzug hatte, der Wahrheit zu entsprechen und keinerlei phantastische Elemente zu beinhalten.
Ogor schilderte, wie ihn der Schmerz überfallen hatte, als er gerade mit seinem Zerstörer einen Angriff gegen eine zahlenmäßig stärkere, aber schwerfällig operierende Methanatmerflotte geflogen hatte. Plötzlich überfiel ihn wieder der Schmerz, obwohl er vor wenigen Tagen erst aus der Flottenklinik entlassen worden war und ihm die Ärzte versichert hatten, er habe nun mindestens ein halbes Jahr absolute Ruhe vor dem Korratz. Der Anfall verwandelte ihn abermals in einen hilflosen Organismus, der nur noch schrie und sich wie ein Rasender gebärdete in dem Versuch, den Schmerz durch Selbstvernichtung zu stoppen. Trotzdem hatte er den Angriff geflogen, war durch den Pulk der Maahks hindurchgerast, während seine Feuerleitoffiziere ihre Projektoren abfeuerten und dem Feind schwere und schwerste Verluste zufügten. Man hatte ihn blutend, mit einigen gebrochenen Knochen und aufgerissener Haut aus dem Pilotensessel herausgezerrt, mit einer Schockwaffe betäubt und nach Ende des Kampfes den Medizinern übergeben.
Rasend vor Schmerz hatte er miterlebt, wie man ihm die Hirnschale aufschnitt, wie man ihn einschläferte und abwartete, bis die betreffende Zone des Gewebes abstarb und vertrocknete, und dann pflanzten sie ihm diesen Mikrocomputer ein, schlossen ihn an die Ganglien des Hirns an, stülpten den Knochen wieder darüber und vernähten die Kopfschwarte. Sie verpflanzten sogar das Haar und warteten hundert Tage, bis sich das Hirn an die Rechenmaschine und der Computer an die Abläufe der gedanklichen Prozesse gewöhnt hatte. Sie ignorierten die Wünsche, die Bitten und die Befehle des Kommandanten, ihn von diesem Terror zu befreien und zu töten. Sie wollten ihn nicht erlösen, obwohl er um den Tod bettelte. Er wurde irgendwann als »geheilt« entlassen, äußerlich völlig normal, aber von den Gezeiten eines mechanischen Geräts abhängig.
Dies ging, unterbrochen von drei vergleichsweise harmlosen Operationen – Fingerendglieder und einige Hautflecken –, ein Jahr lang gut. Dann ging in einer mondlosen Nacht auf einem Planeten, auf dem das Schiff aufgetankt und einer schnellen Überholung unterzogen wurde, Kommandant Ogor in die Richtung des Raumhafengebäudes. An diesem Punkt der Erzählung herrschte eine geradezu fühlbare Spannung im Auditorium. Die Kamera war fixiert auf das Gesicht des Erzählenden. Er sprach leise weiter: In einer Bar hatte er eine junge Frau getroffen. Trotz seiner abwehrenden Haltung war sie an ihm interessiert. Sie sprachen lange miteinander, und er vergaß lange Zeit seinen Zustand. Sie tranken ein wenig, eine wortlose, heitere Ruhe erfüllte sie. Die Frau lud ihn ein, die Nacht mit ihr zu verbringen. Er nahm ihre Hand und war froh, jemanden getroffen zu haben, der ihn trotz seiner Prothesen mochte. In dem kleinen Apartment liebten sie sich und freuten sich, dass sie sich getroffen hatten. Um die Schultern eine Decke, trat Ogor nach Mitternacht auf die kleine Terrasse der Wohnung hinaus, sah die Sterne an und bemerkte, dass Neumond herrschte – der Schatten des Planeten bedeckte die Oberfläche des Trabanten.
Dann: Panik. Raserei. Bewusstlosigkeit. Und die Erkenntnis, dass er etwas tat, das er nicht wollte, aber er sah sich selbst, wie er Dinge tat, die ihm wesensfremd waren. Wieder das schwindende Zeitgefühl, die Überzeugung, dass nur Augenblicke vergangen waren, und das unausgesprochene Wissen, dass es in Wirklichkeit Tontas waren. Und daraufhin der Anblick der Leiche: nackt, blutüberströmt, fremd und dennoch vertraut. Der Morgen, der ihn flüchtend sah, der nächste Tag, der den Start des Schiffes brachte und das Vergessen.
»Der Mikrorechner unter meinen Kunsthaaren zwang mich mehrere Votanii lang, alles zu vergessen. Und immer dann, wenn ich meine Not und mein Wissen einem Freund im Schiff erklären und schildern wollte, lähmte der Computer meinen Kehlkopf. Und er lähmte sogar meine Finger, als ich es niederschreiben wollte.«
Die Frage war hässlich und arrogant, aber sie war berechtigt. Nicht einmal Ogor nahm sie als Angriff; er hatte deshalb damit gerechnet, weil er sie sich selbst schon so oft gestellt hatte. Tharndraft erkundigte sich leise: »Haben Sie eine Erklärung dafür, Ogor, warum der Mikrocomputer sich jetzt nicht ebenso verhält, wie Sie es geschildert haben? Warum blockiert er jetzt nicht Ihre Geständnisfreudigkeit?«
Wahrheitsgemäß erwiderte Ogor: »Ich weiß es nicht, Herr Ankläger. Mir wäre wohler, wenn ich es wüsste. Erst vor wenigen Tagen habe ich herausgefunden, wie ich den Computer beherrschen kann. Ich habe dadurch einige verblüffende Möglichkeiten entdeckt.«
Nicht einmal Ches Prinkmon ahnte zu diesem Zeitpunkt, was diese Aussage oder Eröffnung wirklich bedeutete.
Die Verhandlung ging weiter. Der Richter versuchte, objektiv zu bleiben. Er machte trotz seiner Erfahrung auf uns den Eindruck, als sei er unsicher. Der Verteidiger und seine Helfer bemühten sich, das gesamte Auditorium auf einen bestimmten Punkt der Verteidigungsstrategie vorzubereiten. Sie waren entschlossen, die Verteidigung darauf aufzubauen, dass Ogor in den Phasen, in denen er mordete, ein Gefangener seines Mikrorechners gewesen war. Der Vertreter der Anklage arbeitete daran, zu beweisen, dass Ogor den Mikrocomputer abschalten oder seine Wirkung mindern konnte, und der Beweis für ihn war, dass sich die Maschine nicht im Geringsten gewehrt hatte, ein Geständnis zu ermöglichen, nachdem man den neunfachen Mörder durch Indizien endlich hatte überführen können.
Schließlich, gegen Abend, kam der Verteidiger zum wichtigen Punkt. Alle Anwesenden zeigten Zeichen der Ermüdung und starken Konzentrationsmangel. Der ausgezeichnet arbeitende Reporter hatte die Zuschauer vorbereitet. Sie ahnten, was kommen würde. Rotnam Terna stand auf und sagte mit erhobener Stimme: »Hohes Gericht, meine Damen und Herren. Unsere Recherchen haben einen verblüffenden Tatbestand ergeben. Die neun Morde geschahen auf neun verschiedenen Planeten. Jeder dieser Planeten hat einen einzelnen, großen Trabanten. In den neun fraglichen Nächten herrschte Neumond, was bedeutet, dass der Mond nicht zu sehen war. Ich werde in den nächsten Verhandlungstagen zu beweisen versuchen, dass diese kosmogonischen Verhältnisse an den Morden schuld waren, beziehungsweise dass die Monde den Minicomputer beeinflusst haben.«
Die Reaktion im Gerichtssaal war ebenfalls deutlich. Die Kamera zeigte es, der Reporter blieb beherrscht, obwohl auch er überrascht war. Das Publikum sprach erregt miteinander, der Ankläger zeigte ein ungläubiges und verblüfftes Gesicht. Nur der Richter blieb gemessen und erwiderte in den immer stärker werdenden Tumult hinein: »Es wird sicherlich schwer sein, diese Zusammenhänge dem Gericht zu beweisen. Es ist spät, meine Damen und Herren. Die Sitzung ist für heute beendet, wir beginnen morgen zur selben Zeit.«
Hinter ihm öffnete sich eine Tür. Ein Bote kam herein und reichte Thorm da Daccsnor einen Umschlag. Der Richter riss ihn auf, las den Text und schwieg dann einige Augenblicke lang wie betäubt. Schließlich raffte er sich auf und hob den Arm. »Soeben ist eine dringende Botschaft von Imperator Orbanaschol dem Dritten eingetroffen. Er befürchtet, dass sich der Prozess gegen Ogor noch längere Zeit hinzieht; eine Befürchtung, die vermutlich zutreffen wird. Daher stellt das Imperium offiziell den Antrag, den Prozess zu vertagen, bis die Verräter und Meuterer von Serrogat abgeurteilt sind. Da der Imperator das Imperium vertritt, muss diesem Antrag stattgegeben werden. Ich stelle also Folgendes fest: Der Prozess Imperium versus Ogor wird unterbrochen. Morgen früh beginnen die Ermittlungsverhandlungen gegen die sogenannten Serrogat-Verräter. Ich verspreche Ihnen, Angeklagter, dass wir Ihren Prozess so schnell wie möglich wieder aufnehmen werden. Entschuldigen Sie mich.«
Er kochte vor Wut, als er den Saal durch die kleine Tür verließ, aber auch er beherrschte sich mustergültig. Er wusste jetzt, dass Orbanaschol zumindest große Teile dieses ersten Verhandlungstages angesehen hatte.
Die Tür schloss sich. Ein überraschtes Auditorium blieb zurück. Zwei Wachen führten Ogor ab; man würde ihn durch den subplanetarischen Gang in den Gefängniskomplex zurückbringen.